Dr. Hans Morschitzky

Klinischer Psychologe, Psychotherapeut

Verhaltenstherapie, Systemische Familientherapie

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Somatoforme Störungen (körperliche Funktionsstörungen) nach dem ICD-10

Empfehlung: ausgezeichnetes Video über somatoforme Störungen von Herrn Dr. Weiss

 

Einführung

Körperliche Symptome ohne Organbefund sind grundsätzlich nichts Krankhaftes, sondern normale und gesunde Erlebnisweisen des Menschseins.

Jeder Mensch erlebt im Laufe eines Tages bzw. einer Woche mehrmals körperliche Symptome ohne organische Ursachen, die jedoch bald wieder von alleine vergehen: Kopfschmerzen nach längerer geistiger Anstrengung oder nach längerem Schlafentzug, Schwindel bei plötzlicher Aufrichtung des Körpers aus gebückter Haltung, Herzklopfen und Atembeschwerden beim ungewohnten Besteigen eines hohen Turmes, Herzrasen und Blutdruckanstieg bei plötzlicher Wut, Muskelkater nach längerer körperlicher Betätigung ohne Kondition, Gliederschmerzen bei längerem Ausharren in einer bestimmten Position, vermehrtes Schwitzen bei Aufregung, Übelkeit bei falscher Ernährung usw.

Körperliche Symptome ohne organische Ursachen gelten dann als krankheitswertig, wenn sie über einen längeren Zeitraum eine erhebliche Beeinträchtigung der Lebensführung darstellen. In den neuen Diagnoseschemata wird der Krankheitsbegriff zwecks Vermeidung biologischer Implikationen durch den Begriff der „Störung“ ersetzt.

Der Begriff der somatoformen Störungen wurde 1980 in das amerikanische psychiatrische Diagnoseschema DSM-III eingeführt und 1992 in das internationale Diagnose-schema ICD-10 übernommen. Die somatoformen Störungen werden im ICD-10 gemeinsam mit den Angststörungen, der Zwangsstörung, den Reaktionen auf schwere Belastungen, den Anpassungsstörungen und den dissoziativen Störungen zum Hauptkapitel F4 „Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen“ zusammengefasst.

Somatoforme Störungen sind chronifizierte körperliche Beschwerden, die nicht bzw. nicht ausreichend durch einen organischen Befund erklärt werden können. Man spricht von organmedizinisch unerklärten bzw. nicht (ausreichend) erklärbaren Symptomen (englisch: medically unexplained symptoms), die mit einer erheblichen Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit einhergehen.

Vorübergehende nichtorganische Körperbeschwerden sind normal und gelten nicht als somatoforme Störungen. Die verschiedenen somatoformen Störungen sind zwar kategorial konzipiert als klar voneinander abgegrenzte Störungen, weisen jedoch große Überschneidungen auf. Das gemeinsame und verbindende Merkmal sind körperliche Symptome, die sich weder durch eine bekannte organische Störung noch durch eine definierbare psychische Störung erklären lassen. Es handelt sich dabei um keine homogene Krankheitsgruppe.

Die Bezeichnung „somatoform“ besagt, dass die Störungen wie körperlich verursachte ausschauen, es nach dem gegenwärtigen Wissenstand jedoch nicht sind. Die Wortneubildung „somatoform“ besteht aus einem griechischen und einem lateinischen Wortstamm. Somatoforme Störungen sind in den klinisch-diagnostischen Leitlinien des ICD-10 folgendermaßen charakterisiert:

Körperliche Symptome ohne organische Ursachen werden den Ärzten wiederholt präsentiert. Die Betroffenen fordern hartnäckig medizinische Untersuchungen trotz des wiederholten Vorliegens negativer Befunde und trotz der Versicherung der Ärzte, dass die Symptome keine körperlichen Ursachen haben.

Wenn körperliche Faktoren vorhanden sind, erklären sie nicht die Art und das Ausmaß der Symptome oder das Leiden und die innere Beteiligung der Patienten. Selbst wenn Beginn und Fortdauer der Symptome in engem Zusammenhang mit unangenehmen Lebensereignissen, Schwierigkeiten und Konflikten stehen, lehnen die Patienten gewöhnlich die ärztlichen Versuche ab, die Möglichkeiten einer psychischen Ursache zu diskutieren, weil sie von körperlichen Ursachen ihrer Beschwerden überzeugt sind, und zwar öfter sogar auch dann, wenn offensichtliche depressive oder Angstsymptome vorliegen.

Aufgrund des mangelnden Verständnisses der Patienten für die psychischen Ursachen ihrer Symptome ist die Arzt-Patient-Beziehung bald für beide Seiten belastend und enttäuschend. Häufig besteht ein gewisses Aufmerksamkeit suchendes (histrionisches) Verhalten, besonders bei Patienten, die ihre Ärzte nach allen unergiebigen Untersuchungen nicht von den organischen Ursachen überzeugen bzw. zu weiteren entsprechenden Untersuchungen und Behandlungen veranlassen konnten.

Somatoforme Störungen sind durch das Vorhandensein von körperlichen Symptomen charakterisiert, die einen medizinischen Krankheitsfaktor nahelegen, jedoch durch organische Faktoren, die Wirkung einer Substanz (z.B. Drogen, Medikamente) oder eine andere psychische Störung (z.B. Panikstörung) nicht vollständig erklärt werden können.

Die Symptome bewirken in klinisch bedeutsamer Weise Leidenszustände sowie Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

Im Gegensatz zur vorgetäuschten Störung und zur Simulation werden die Symptome bei einer somatoformen Störung nicht absichtlich erzeugt, d.h. sie stehen nicht unter willentlicher Kontrolle. In Begutachtungssituationen bezüglich der Arbeitsfähigkeit ist es jedoch verständlich, dass öfter eine Aggravation vorhandener Beschwerden erfolgt.

Bei somatoformen Störungen kann jedes Organ und jede körperliche Funktion betroffen sein. Jeder Mensch macht die Erfahrung von körperlichen Symptomen ohne ausreichende organische Ursache (z.B. Herzklopfen, Brustschmerzen, Übelkeit, diffuse Schmerzen, chronische Unterbauchbeschwerden bei Frauen).

Bei grundsätzlich gesunden Menschen sind die körperlichen Symptome nur zeitweise oder eher isoliert vorhanden, bei Menschen, die sich recht krank fühlen (im Sinne einer somatoformen Störung), zeigt sich eine weitgehende Stabilität und Hartnäckigkeit der Symptomatik.

Somatoforme Symptome treten nach repräsentativen Untersuchungen in der Bevölkerung relativ häufig auf (80 % der Bevölkerung haben mindestens einmal pro Woche körperliche Beschwerden), sodass die Symptome allein für eine Diagnose nicht ausreichen.

Nicht die bloße Symptomatik, sondern das damit verbundene erhebliche subjektive Leiden und die damit einhergehende Beeinträchtigung im beruflichen, sozialen oder familiären Bereich sowie die Art der Bewertung, Verarbeitung und Bewältigung der aktuellen Symptome bestimmen in entscheidender Weise, ob die Betroffenen eine ständige Krankenrolle einnehmen und andauernd medizinische Einrichtungen aufsuchen.

Das Kriterium einer erheblichen Lebensbeeinträchtigung steht in Übereinstimmung mit der Diagnose anderer psychischer Störungen, wie z.B. einer depressiven Episode oder einer Angststörung, wo ebenfalls eine klinisch relevante subjektive oder objektive Behinderung im Sinne einer bestimmten Schwere der Symptomatik gegeben sein muss.

Die Diagnose einer somatoformen Störung erfordert weder den Nachweis einer organischen Ursache (im Sinne einer „echten“ körperlichen Erkrankung mit psychogener Überlagerung) noch die Aufdeckung einer psychischen Verursachung (z.B. im Sinne eines krank machenden Konflikts).

Die Dichotomie „organisch versus nicht organisch“ wird bei der Diagnose somatoformer Störungen oft überschätzt. Eine somatoforme Störung ist nach den ICD-10-Forschungskriterien auch dann gegeben, wenn zwar eine organische Ursache der Symptome nachweisbar ist (z.B. ein früherer Bandscheibenvorfall bei Rückenschmerzen), die Schwere, das Ausmaß, die Vielfalt und die Dauer der körperlichen Beschwerden sowie die damit einhergehenden psychosozialen Beeinträchtigungen durch den organischen Befund jedoch nicht ausreichend erklärbar sind.

Bei somatoformen Störungen geht es nicht primär um den Nachweis oder die Widerlegung einer psychischen Ursache für die Störung, sondern um die Beschreibung eines typischen Verhaltensmusters, bei dem neben Symptomen, wie sie in der Medizin zur Diagnostik allgemein üblich sind, auch typische kognitive Überzeugungen der Patienten (z.B. subjektive Krankheitstheorien) und bestimmte Interaktionsmuster (Art der Arzt-Patient-Beziehung und des sozialen Verhaltens) von Bedeutung sind.

Menschen mit somatoformen Störungen haben nicht einfach nur die Eigenschaft, vielfältige körperliche Symptome zu entwickeln, sondern auch das Bedürfnis, diese ständig durch Kontakte mit Ärzten untersuchen und behandeln zu lassen.

Mangels überzeugender Alternativerklärungen zur vermuteten organischen Ursache der Störung sind die Betroffenen trotz der Unauffälligkeit der somatischen Befunde nicht dauerhaft beruhigt und suchen weiterhin nach organmedizinischen Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten ihrer körperlichen Beschwerden.

Somatoforme Patienten gehen meistens zu Allgemeinmedizinern und Internisten, weniger zu Psychiatern. Eine breit angelegte Aufklärung der Bevölkerung und ein adäquater, verständnisvoller und geduldiger Umgang der Ärzte mit den Betroffenen stellen einen entscheidenden Behandlungsfaktor dar, der über eine organische Ausschlussdiagnostik und die routinemäßige Verschreibung von unspezifischen Medikamenten weit hinausgeht.

Mit der Bezeichnung „somatoform“ werden bei derart definierten körperlichen Störungen, wo das Krankheitsverhalten und das Krankheitserleben eine zentrale Rolle spielen, andere, früher verwendete Begriffe wie z.B. „psychogen“, „funktionell“, „vegetativ“, „psychosomatisch“ ersetzt. Trotz des phänomenologischen Ansatzes bleibt das ICD-10 dem cartesianischen Körper-Seele-Dualismus verhaftet. Die implizite psychologische Ausrichtung vernachlässigt zudem neurobiologische Aspekte.

Die Diagnostik somatoformer Störungen erfordert neben der organmedizinischen Ausschlussdiagnostik, die wegen der Gefahr der Fixierung des Patienten auf ein organisches Krankheitsmodell nicht ständig wiederholt werden soll, eine umfassende psychologische Diagnostik weit über das genaue Zählen von Symptomen und Beschwerden hinaus, und zwar die Erfassung der gegenwärtigen Affektlage, der inneren und äußeren Konflikte, der psychischen Struktur und der ganzen Persönlichkeit, der biografischen Belastungen, der sozialen, kulturellen und bei Bedarf auch religiösen Faktoren, die zumindest als symptomaufrechterhaltende Bedingungen von Bedeutung sein können.

Bei Menschen mit somatoformen Störungen findet man eine längere Symptomdauer, längere Krankenstände, häufigere Arztbesuche und Klinikaufenthalte als bei vielen Patienten mit vorwiegend psychischen Störungen und Verhaltensstörungen.

Es ist bemerkenswert, dass in der neueren Diagnostik erstmals interaktionelle Aspekte erfasst werden. Somatoforme Störungen können nur verstanden werden, wenn die Bedeutung der Arzt-Patient-Beziehung für Entstehung, Diagnose und Therapie dieser Krankheitsbilder berücksichtigt wird. Aus der Definition nach dem ICD-10 kann man auf unüberwindliche Kommunikationsstörungen schließen. Jeder (Arzt und Patient) versucht den anderen vergeblich von seiner Sichtweise zu überzeugen.

Der Verlauf einer somatoformen Störung hängt sehr wesentlich vom Verhalten der Hausärzte, d.h. der Ärzte in der Primärversorgung, ab. Ärzte sollen weder ein einseitig organmedizinisches Erklärungsmodell einnehmen, um den Patienten nicht in seinem Krankheitsmodell zu fixieren, noch ein einseitig psychologisches Erklärungsmodell anwenden, um den Patienten nicht unnötig zu verschrecken und damit zu verlieren.

Das ICD-10 nennt sieben Gruppen somatoforme Störungen:

F45.0    Somatisierungsstörung

F45.1    undifferenzierte Somatisierungsstörung

F45.2   hypochondrische Störung

F45.3    somatoforme autonome Funktionsstörung

      .30  Herz und kardiovaskuläres System

      .31  oberer Gastrointestinaltrakt

      .32  unterer Gastrointestinaltrakt

      .33  respiratorisches System

      .34  urogenitales System

      .38  sonstige Organe oder Organsysteme    

F45.4    anhaltende somatoforme Schmerzstörung

F45.8    sonstige somatoforme Störungen

F45.9    nicht näher bezeichnete somatoforme Störung  

Man unterscheidet bei den somatoformen Störungen zwischen polysymptomatischen Störungen mit zahlreichen oft wechselnden Symptomen (Somatisierungsstörung, undifferenzierte Somatisierungsstörung, teilweise auch die somatoforme autonome Funktionsstörung des ICD-10) und monosymptomatischen Störungen mit dem Schwerpunkt auf eng umschriebenen körperlichen Beschwerden und Beeinträchtigungen (anhaltende somatoforme Schmerzstörung).

Die hypochondrische Störung, definiert durch ausgeprägte Krankheitsängste und Krankheitsüberzeugungen, nimmt eine Mittelstellung zwischen somatoformen Störungen und Angststörungen ein, wird aber in den aktuellen Diagnoseschemata einheitlich zu den somatoformen Störungen gezählt.

Eine Hypochondrie kann auch als Zusatzdiagnose zu einer anderen somatoformen Störung festgestellt werden. Die Zuordnung der hypochondrischen Störung zu den Angststörungen wäre im Sinne einer „Gesundheitsangststörung“ nach neueren Erkenntnissen für die Zukunft eine angemessenere Lösung, weil der Schwerpunkt auf den Ängsten und nicht auf den Körpersymptomen liegt.

Somatoforme Symptome können in allen Körper- und Organbereichen auftreten, weshalb die Symptomlisten im ICD-10 eine willkürliche Einschränkung darstellen. Es wurde keine empirische Überprüfung der Symptome vorgenommen.

 Bei den somatoformen Symptomen im ICD-10 fehlen auf der Ebene der jeweiligen Symptome Angaben zum Ausmaß der Schwere der Symptomatik.

Harmlos erlebte Symptome erlangen dadurch Krankheitswertigkeit, während sehr belastend erlebte Symptome in ihrer Bedeutung unterschätzt werden. Ein Patient mit wenigen Symptomen kann im klinischen Alltag viel mehr leiden als ein Patient mit zahlreichen Symptomen. Wichtig wäre das Kriterium, dass ein belastendes Beeinträchtigungsausmaß vorhanden sein muss.

 

Tab. 1:  Somatoforme Störungen nach dem ICD-10

F45.0  

Somatisierungs-störung

Seit mindestens zwei Jahren anhaltende multiple und wechselnde körperliche Symptome ohne ausreichende organische Ursachen.

Die Sorgen über die körperlichen Symptome führen zu mehrfachen Arztkontakten oder Zusatzuntersuchungen in der Primärversorgung oder bei Spezialisten.

Die ärztlichen Feststellungen, dass keine ausreichende körperliche Ursache für die Symptomatik besteht, werden nicht oder nur kurz akzeptiert.

Insgesamt müssen mindestens 6 von 14 Symptomen aus 2 von 4 verschiedenen Organbereichen vorhanden sein (gastrointestinale Symptome, kardiovaskuläre Symptome, urogenitale Symptome, Haut- und Schmerzsymptome).

 

F 45.1 

Undifferenzierte Somatisierungs-störung

Unvollständige Somatisierungsstörung: die Kriterien der Somatisierungsstörung sind nur unvollständig erfüllt (Dauer mindestens ein halbes Jahr, weniger Arztbesuche, weniger Symptome, weniger organische Erklärungsmodelle). Es handelt sich um eine Restkategorie.

 

F 45.2 

Hypochondrische Störung

Seit mindestens sechs Monaten anhaltende Überzeugung, an schweren körperlichen Krankheiten zu leiden, die durch ärztliche Informationen nicht korrigiert werden kann. Die ständigen körperbezogenen Sorgen führen zu  Leidenszuständen, Einschränkungen der Lebensmöglichkeiten und Arztbesuchen. Zur Hypochondrie zählt auch die Krankheitsfurcht.

Die Dysmorphophobie (F45.21) als anhaltende Beschäftigung mit einer vom Betroffenen angenommenen Entstellung oder Missbildung stellt im ICD-10 demnach eine Variante der hypochondrischen Störung dar – was völlig falsch ist!!

 

F 45.3 

Somatoforme autonome Funktionsstörung

Nichtorganische vegetative Erregung in folgenden Bereichen:

 .30 Herz und kardiovaskuläres System (z.B. Herzphobie)

.31  oberer Gastrointestinaltrakt (z.B. Reizmagen)

.32  unterer Gastrointestinaltrakt (z.B. Reizdarm)

.33  respiratorisches System (z.B. Hyperventilation)

.34  urogenitales System (z.B. Reizblase)

.38  sonstige Organe oder Organsysteme

Speziell müssen mindestens 3 vegetative Symptome vorhanden sein:

  • mindestens 2 von 5 (eher gut objektivierbaren) vegetativen Symptomen (Herzklopfen, Schweißausbrüche, Mundtrockenheit,  Hitzewallungen/Erröten, Druckgefühl im Epigastrium/Kribbeln oder Unruhe im Bauch)

  • ein weiteres von 7 angeführten vegetativen Symptomen

 

F 45.4 

Anhaltende somatoforme Schmerzstörung

Seit mindestens sechs Monaten kontinuierlich an den meisten Tagen anhaltende, schwere und belastende Schmerzsymptomatik ohne bzw. ohne ausreichende organische Ursache, die im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Patienten steht.

 

F 45.8 

Sonstige somatoforme Störungen

Darunter fallen nicht durch das autonome Nervensystem vermittelte, jedoch auf bestimmte Systeme oder Körperteile (z.B. Haut) begrenzte Symptome mit Leidensdruck ohne ausreichende organische Ursachen.

 

 

Laut dem Handbuch „Somatoforme Störungen. Leitlinien und Quellentexte“ von Henningsen u.a. sind somatoforme Störungen nach fünf Dimensionen beschreibbar:

1. Dimension der Beschwerdezahl und Beschwerdedauer

2. Dimension der Ursachenüberzeugungen bzw. der Krankheitsbefürchtung. Die hypochondrische Störung besteht in einer primär kognitiven Symptomatik, nämlich in der Überzeugung, dass die körperlichen Symptome Ausdruck einer zugrunde liegenden organischen Ursache sind. Derartige Denkmuster lösen Ängste aus. Es besteht damit eine große Nähe zu den Angststörungen.

3. Dimension des emotionalen Distress. Patienten mit somatoformen Störungen weisen häufig emotionale Störungen auf, wie etwa depressive Störungen oder Angststörungen, stellen diese jedoch nicht in den Mittelpunkt ihres Erlebens, sondern klagen mehr über belastende körperliche Symptome. Häufig vorhandene psychosoziale Belastungsfaktoren und kritische Lebensereignisse werden durchaus wahrgenommen, werden jedoch nicht unter großer emotionaler Beteiligung registriert und gewöhnlich nicht in Zusammenhang mit den körperlichen Beschwerden gesehen.

4. Dimensionen des Krankheitsverhaltens. Die Betroffenen neigen zu hoher Inanspruchnahme medizinischer Leistungen und Einrichtungen. Es handelt sich dabei um Notfallbehandlungen, wiederholte stationäre und ambulante organische Abklärungen, regelmäßige Einnahme von Medikamenten oder Naturheilmitteln, ärztliche Konsultationen zur Verminderung der Besorgtheit bezüglich der Symptome.

5. Dimension der physiologischen Normabweichung. Die Betroffenen haben häufig eine leichte Erregbarkeit des vegetativen Nervensystems (z.B. Schwitzen, Herzrasen, Atemnot, Übelkeit), eine Überaktivierung des motorischen Nervensystems (z.B. Anspannung wie Zittern oder Muskelhartspann) und eine erhöhte Schmerzsensibilität (z.B. bei Darmbeschwerden). Oft bestehen endokrine Abweichungen, z.B. der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse.

 

In Anlehnung an eine Darstellung des Psychiaters Kapfhammer lassen sich Patienten mit somatoformen Störungen anhand folgender Dimensionen beschreiben:

1. Körperliche Symptome und Beschwerden

2. Zentrale körperliche und krankheitsbezogene Erfahrungen

3. Krankheitsverhalten

4. Psychosoziale Stressfaktoren

5. Persönlichkeitsfaktoren

6. Psychopathologische Begleitsymptome

7. Kontrolle über die Symptomproduktion

8. Komorbidität mit organischen Störungen und pathophysiologischen Mechanismen

 

Rief und Hiller charakterisieren somatoforme Störungen anhand folgender Aspekte:

1. Kognitive Aspekte. Der Aufmerksamkeitsschwerpunkt ist auf den Körper bzw. auf bestimmte körperliche Vorgänge gerichtet (Überfokussierung auf Körpervorgänge). Dies führt zu einer intensiveren Wahrnehmung von körperlichen Empfindungen und geht mit einer Angst machenden Fehlinterpretation der wahrgenommenen Körpervorgänge einher. Die körperbezogenen Befürchtungen werden durch die vermehrte ängstliche Selbstbeobachtung, die mit der Absicht der Beruhigung unternommen wurde, letztlich verstärkt. Die körperlichen Symptome werden als unbeeinflussbar und unkontrollierbar erlebt. Die Ursachenzuschreibung (Kausalattribuierung) der Symptome auf bestimmte vermutete körperliche Faktoren prägt das Krankheitserleben der Betroffenen. Es bestehen übertriebene Vorstellungen von Gesundheit, Katastropheninterpretationen bei harmlosen und geringfügigen Symptomen sowie ein Selbstkonzept als schwach und wenig belastbar bei Stress.

2. Affektive Aspekte. Häufig bestehen Gefühle von Hilflosigkeit, Niedergeschlagenheit, depressiver Verstimmung und Ängstlichkeit. Oft ist ein enger Zusammenhang zwischen somatoformen Störungen und Depressionen gegeben. Depressive Zustände führen zu einer erhöhten Schmerzwahrnehmung und verstärken damit das Gefühl körperlicher Missempfindungen. Anhaltendes körperliches Unbehagen verfestigt in weiterer Folge die depressive Symptomatik im Sinne eines Teufelskreises.

3. Verhaltensbezogene Aspekte. Es entwickelt sich ein „Checking Behaviour“ als typisches Krankheitsverhalten (Abtasten bestimmter Körperstellen nach möglichen Krankheitssymptomen, wie z.B. Herumdrücken auf der Brust aus Angst vor Brustkrebs). Das Kontrollverhalten, das kurzfristig die Angst vor Krankheiten reduzieren soll, verstärkt langfristig alle krankheitsbezogenen Ängste und Überzeugungen. Das exzessive Lesen oder konsequente Vermeiden medizinischer Literatur stellt ein versuchtes Bewältigungsverhalten der körperbezogenen Ängste und Leidenszustände dar. Die Beschwerden begünstigen eine Schonhaltung mit dem Ziel, eine Verschlechterung zu verhindern. Schonverhalten, abnehmende körperliche Fitness, Einengung auf die körperlichen Beschwerden, Vernachlässigung positiver Aspekte des Lebens und zunehmender sozialer Rückzug bewirken eine Chronifizierung der Symptomatik, die mit depressivem Selbsterleben einhergehen kann, wodurch der weitere Antrieb vermindert wird. Häufig wird aus Angst vor Schwindel, Harndrang oder Durchfall der Aktionsradius eingeengt, sodass eine belastende agoraphobische Folgesymptomatik entstehen kann. Symptome einer somatoformen autonomen Funktionsstörung können somit Auslöser einer Agoraphobie sein. Durch fehlende Ablenkung wird die Aufmerksamkeit auf die körperlichen Beschwerden intensiviert und die Erlebnisfähigkeit für genussvolle Ereignisse weiter vermindert. Dies kann die Entwicklung einer depressiven Symptomatik begünstigen oder verstärken.

4. Interaktionelle Aspekte (psychosoziale Sonderstellung). Die ängstliche Konzentration auf den eigenen Körper und das Gefühl der Beeinträchtigung führen häufig zu einem sozialen Rückzug (z.B. bei ständigem Schwindel, Harn- oder Stuhldrang). Die Betroffenen leben in ihrer Familie oft wie Behinderte, die Familienbeziehungen sind geprägt durch die jeweilige Symptomatik.

5. Spezielle Arzt-Patient-Beziehung. Die Betroffenen wenden sich mehr als nötig und immer wieder an Ärzte bzw. medizinische Einrichtungen, um ihre Beschwerden (z.B. Kreislaufprobleme, chronische Unterbauchbeschwerden, anhaltende Schmerzen) ständig neu untersuchen zu lassen, ohne den ärztlichen Versicherungen, an keiner schweren Erkrankung zu leiden, auf Dauer glauben zu können. Es kommt zu einem wirkungslosen Kreislauf von Überweisungen, der dem Gesundheitssystem enorme Kosten verursachen. Die Patienten sind oft von den aufgesuchten Ärzten enttäuscht, weil diese die vermuteten körperlichen Ursachen nicht finden können. Früher oftmals gelobte Ärzte werden plötzlich abgewertet und als unfähig hingestellt. Der häufige Arzt- bzw. Therapeutenwechsel („Doctor Shopping“) spiegelt die Frustration wider, dass nach anfangs oft großen Hoffnungen auf Dauer letztlich kein Fachmann wirklich zu helfen vermag. Viele Ärzte können den Forderungen der Patienten nach immer wieder neuen und aufwendigeren Untersuchungen nicht widerstehen oder sind guten Glaubens, ihre Patienten dadurch irgendwann einmal beruhigen zu können, sie verstärken dadurch jedoch die organische Ausrichtung der Betroffenen im Sinne einer „iatrogenen Krankheitsfixierung“. Aus Enttäuschung über die Schulmedizin wenden sich viele Patienten schließlich der Alternativmedizin oder obskuren „Heilern“ zu, wo sie oft mehr Zuwendung und Verständnis erleben als in einer abwertend bezeichneten „Fünf-Minuten-Medizin“.  

Der deutsche Psychologe Rief und der englische Psychiater Sharpe fassten die Forderungen von Experten anlässlich eines internationalen Kongresses über somatoforme Störungen in Marburg im Februar 2002 anhand von drei Bereichen zusammen:

1. Neue Klassifikationskriterien. Nach Studien sind die verschiedenen somatoformen Störungen keine klar voneinander abgegrenzten diagnostischen Einheiten, sondern weisen zahlreiche Überschneidungen auf. Mangels einer besseren Bezeichnung wird der Terminus „somatoforme Störungen“ als einziger mehrheitsfähiger Kompromiss aller Fachleute weiterhin bevorzugt gegenüber anderen Begriffen wie „medizinisch nicht erklärte Symptome“, „funktionelle körperliche Symptome“ oder „subjektive Gesundheitsbeschwerden“, anstatt aufwändige und energiegeladene Diskussionen bezüglich einer neuen Gesamtbezeichnung für diese Störungsgruppe zu führen. Es wird gleichzeitig anerkannt, dass die Diagnosekategorie einer somatoformen Störung in der Medizin noch wenig verwendet wird. Jede medizinische Disziplin hat ihre eigenen „medizinisch nicht erklärten Symptome“ (z.B. Colon irritabile, Fibromyalgie, chronisches Erschöpfungssyndrom, Unterbauchbeschwerden, nichtkardiale Brustschmerzen). Alle Fachleute stimmen darin überein, dass die derzeitige Klassifikation der somatoformen Störungen unpassend ist. Die gegenwärtige Diagnostik beruht im Wesentlichen auf der Anzahl der somatoformen Symptome, was völlig unzureichend ist. Ähnlich wie bei den Essstörungen und bei der Panikstörung sollten neben der nach wie vor großen Bedeutung der somatoformen Symptome an sich auch Einstellungen und Verhaltensaspekte der Betroffenen berücksichtigt werden. Es kommt nicht allein auf die Zahl der somatoformen Symptome an, sondern vor allem auch auf die subjektive Bedeutung und die psychosozialen Folgen für die Betroffenen sowie auf die Auswirkungen auf das Medizinsystem. Als krankheitswertig gelten somatoforme Symptome dann, wenn sie eine bestimmte Dauer und eine bestimmte Belastung bzw. Beeinträchtigung umfassen.

Neben der Zahl der Symptome sollten folgende Merkmale berücksichtigt werden:

2. Breitere theoretische Konzepte. Somatoforme Symptome erfordern umfassendere Erklärungskonzepte als bisher:

3. Integrative Behandlungskonzepte. Somatoforme Patienten passen weder in die traditionelle medizinische noch in die übliche psychiatrische Denkweise, sodass sie meist als schwierig und therapieresistent angesehen wurden, anstatt dass spezielle, auf diese Patienten abgestimmte Behandlungskonzepte entwickelt wurden. Verschiedene Strategien werden für die Betroffenen zukünftig hilfreich sein:

 

Der kanadische Psychiater Kirmayer fasste bereits 1998 bei einer Tagung die wichtigsten Forschungsaufgaben bezüglich somatoformer Störungen derart zusammen:  

1. Entwicklung psychophysiologischer Erklärungsmodelle. Viele der heute als organmedizinisch nicht erklärbar angesehenen Symptome werden durch den Fortschritt der Medizin wahrscheinlich eine physiologische Erklärung erfahren. Physiologische Erklärungen werden die Behandlungsmöglichkeiten verbessern und das Stigma reduzieren, das diesen Störungen nach wie vor anhaftet. Gleichzeitig wird sich immer deutlicher herausstellen, dass die Wahrnehmung und das Erleben der Symptome nicht einfache Widerspiegelungen der körperlichen Vorgänge darstellen, sondern das Resultat komplexer Wechselwirkungen zwischen psychologischen Bewertungsprozessen, interaktionellen Mustern und Verhaltensweisen sind.

2. Zusammenhänge zwischen somatoformen Symptomen einerseits und der Steuerung und der Kommunikation von emotionalem Stress andererseits. Die individuellen und sozialen Bedingungen, die dazu führen, dass körperliche Symptome als Alternative zum direkten Ausdruck von emotionalen Belastungen führen, müssen besser erforscht werden. Somatoforme Störungen weisen jedenfalls eine hohe Komorbidität mit Depressivität, Angststörungen und anderen emotionalen Störungen auf.

3. Bedeutsame Rolle kognitiver Prozesse bei der Interpretation und Bewältigung der körperlichen Symptome. Kognitive Prozesse spielen eine zentrale Rolle bei der Bewertung von Körpersensationen als beeinträchtigende körperliche Symptome. Dabei sind die Kausalattributionen von entscheidender Bedeutung. Wenn die kognitiven und sozialen Sichtweisen ernst genommen werden, hat dies erhebliche Auswirkungen auf die psychiatrische Diagnostik. Anstelle einer kleinen Gruppe somatoformer Störungen sollte den körperlichen Komponenten bei allen psychischen Störungen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Dabei sollte bei jeder Störung auch eine Kategorie vorgesehen werden, die das Krankheitsverhalten, d.h. den Umgang mit den jeweiligen Symptomen, stärker berücksichtigt. Auf diese Weise könnte die nach wie vor implizite Körper-Seele-Spaltung überwunden werden. 

4. Bedeutung sozialer und kultureller Faktoren im jeweiligen Gesundheitssystem. Das Konzept der Somatisierungsstörung sieht somatoforme Störungen zu einseitig in der Person begründet und vernachlässigt die Lebensumstände und die psychosozialen Faktoren. Es ist noch weitgehend unerforscht, wie somatoforme Störungen durch soziale und kulturelle Aspekte beeinflusst werden.

5. Effektive Behandlungsmöglichkeiten. Die Diagnose einer somatoformen Störung kam früher einem therapeutischen Nihilismus gleich. Neuere Arbeiten haben jedoch aufgezeigt, dass vielen Patienten mit somatoformen Störungen geholfen werden kann, ihre Symptome, ihr ständiges Hilfe suchendes Verhalten und ihre Behinderungen in erheblichem Ausmaß zu reduzieren und die Lebensqualität zu verbessern. Neben dem weiteren Ausbau der bisher als sehr effizient erwiesenen Behandlungsmethoden der kognitiven Verhaltenstherapie sollten auch andere Psychotherapiemethoden stärker einbezogen werden (z.B. Familientherapie). Es sollten auch speziell wirksame Psychopharmaka entwickelt und erprobt werden.

Im Folgenden werden die verschiedenen somatoformen Störungen einzeln dargestellt.

 

Somatisierungsstörung (F45.0)

Eine Somatisierungsstörung wird in den klinisch-diagnostischen Leitlinien des ICD-10 durch folgende Merkmale charakterisiert:

Charakteristisch sind multiple, wiederholt auftretende und häufig wechselnde körperliche Symptome, die seit mindestens zwei Jahren bestehen:

 

Eine Somatisierungsstörung ist nach den Forschungskriterien des ICD-10 durch folgende fünf Merkmalsbereiche definiert:

A. Es bestehen seit mindestens zwei Jahren anhaltende Klagen über multiple und wechselnde körperliche Symptome, die sich durch keine diagnostizierbare körperliche Krankheit erklären lassen. Eine eventuell vorhandene körperliche Erkrankung kann die Schwere, das Ausmaß, die Vielfalt und die Dauer der körperlichen Beschwerden oder die damit einhergehende soziale Behinderung (Beeinträchtigung familiärer und sozialer Funktionen) nicht erklären. Vegetative Symptome können auftreten, sind jedoch – anders als bei somatoformen autonomen Funktionsstörungen – nicht besonders belastend oder lange anhaltend, sodass sie nicht das Hauptmerkmal darstellen.

B. Die ständigen Sorgen um die Symptome führen zu anhaltenden Leidenszuständen sowie zu mehrfachen (mindestens drei) Konsultationen oder Zusatzuntersuchungen bei Hausärzten oder Spezialisten. Bei Unzugänglichkeit von medizinischen Einrichtungen aus finanziellen oder geographischen Gründen werden ständig unkontrolliert Medikamente eingenommen oder mehrfach örtliche Laienhelfer aufgesucht.

C. Die Betroffenen lehnen hartnäckig die medizinische Feststellung ab, dass es für die körperlichen Symptome keine ausreichenden organischen Ursachen gibt. Die ärztlichen Mitteilungen werden nur für einen kurzen Zeitraum (höchstens einige Wochen lang) oder unmittelbar nach einer organischen Untersuchung akzeptiert.

D. Es treten mindestens 6 von 14 Symptomen aus mindestens 2 von 4 Bereichen auf:

Gastrointestinale Symptome:

Bauchschmerzen

Übelkeit

Gefühl von Überblähung (Blähbauch)

schlechter Geschmack im Mund oder stark belegte Zunge

Erbrechen oder Hochkommen (Regurgitation) von Speisen

häufiger Durchfall oder Austreten von Flüssigkeit aus dem Anus

Kardiovaskuläre Symptome:

Atemlosigkeit ohne Anstrengung

Brustschmerzen

Urogenitale Symptome:

 Dysurie (schmerzhafter Harndrang) oder häufige Harnentleerung

unangenehme Empfindungen im oder um den Genitalbereich

ungewöhnlicher oder verstärkter vaginaler Ausfluss

Haut- und Schmerzsymptome:

Fleckigkeit oder Farbveränderungen der Haut

Schmerzen in den Gliedern, Extremitäten oder Gelenken

unangenehme Taubheit oder Kribbelgefühle

E. Ausschlusskriterien. Die Störung tritt nicht ausschließlich während einer schizophrenen oder verwandten Störung, einer affektiven Störung oder Panikstörung auf.

 

Die Dauer der Symptomatik ist durch mindestens zwei Jahre definiert, wodurch eine Abgrenzung gegenüber vorübergehenden somatoformen Symptomen möglich ist, die noch nicht so lange bestehen.

Die Diagnose einer Somatisierungsstörung wird nur dann gestellt, wenn die Symptomatik mit einem chronischen und fluktuierenden Verlauf, mit einem erheblichen subjektiven Leidensdruck sowie mit sozialen, beruflichen oder familiären Beeinträchtigungen verbunden ist. Depression oder Angstzustände sind häufige Begleitsymptome.

Die Störung tritt bei Frauen weitaus häufiger auf und beginnt meistens im frühen Erwachsenenalter. Durch die zahlreichen Verschreibungen besteht oft auch ein Missbrauch oder eine Abhängigkeit von Medikamenten (Tranquilizer oder Analgetika).

Bei verschiedenen Patienten können gleichzeitig auch andere, nicht-somatoforme Störungen vorliegen. Die Störung geht häufig mit einer Depression oder einer Angststörung einher. Bei ausgeprägter psychiatrischer Störung ist diese zusätzlich zu kodieren.

Der Aufmerksamkeitsschwerpunkt liegt bei der Somatisierungsstörung auf den Symptomen selbst sowie auf ihren individuellen Auswirkungen, bei der hypochondrischen Störung dagegen auf dem gefürchteten Vorhandensein eines zugrunde liegenden fortschreitenden und ernsthaften Krankheitsprozesses und seinen Behinderungsfolgen.

Menschen mit einer Somatisierungsstörung beschreiben ihre Beschwerden oft mit ausmalenden Worten und übertriebenen Begriffen, wobei spezifische Tatsacheninformationen häufig fehlen.

Die Angaben zur Vorgeschichte sind oft inkonsistent, sodass das diagnostische Vorgehen nach einer Checkliste oft weniger effektiv ist als die genaue Durchsicht von Unterlagen über medizinische Vorbehandlungen und stationäre Aufenthalte, die ein Muster von häufigen somatischen Beschwerden ohne ausreichenden organischen Befund aufzeigen.

Die Betroffenen befinden sich oft bei mehreren Ärzten gleichzeitig in Behandlung, wodurch komplizierte und nicht unbedenkliche Kombinationen von Behandlungsmaßnahmen entstehen können. Sie sind meistens bereit für zahlreiche medizinische Untersuchungen, diagnostische Verfahren, chirurgische Eingriffe, stationäre Behandlungen und alternative Behandlungsmethoden, die oft bedenklich und manchmal sogar gefährlich sind. Laborbefunde werden häufig erstellt, können jedoch die subjektiven Beschwerden nicht erklären.

Das Aufsuchen des Arztes dient bei der Somatisierungsstörung der Beseitigung der beklagten Symptome, bei der hypochondrischen Störung dagegen nur der Durchführung von Untersuchungen, die die Art der zugrunde liegenden befürchteten Krankheit bestimmen oder bestätigen, am besten jedoch ausschließen sollen.

Ausgeprägte Symptome von Angst und Depression sind häufige Begleitsymptome, die dazu führen können, dass sich die Betroffenen in psychiatrische Behandlung begeben. Nach Komorbiditätsstudien finden sich oft gleichzeitig Depressionen, Panikstörungen oder Störungen in Zusammenhang mit Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch.

Medikamentenmissbrauch kommt bei einer hypochondrischen Störung seltener vor, weil sich die Betroffenen oft vor Nebenwirkungen oder Abhängigkeit fürchten.

Die Häufigkeit der Somatisierungsstörung ist aufgrund der restriktiven Kriterien sehr gering. Das Vollbild kommt bei weniger als 1 % der Bevölkerung vor, je nach Studie bei 0,03–0,84 %, meist bei 0,3–0,4 %. Nach einer WHO-Studie haben weltweit 2,8% der Hausarztpatienten eine Somatisierungsstörung. Diese Störung ist nach den engen DSM-IV-Kriterien viel seltener als nach den weniger strengen ICD-10-Kriterien. Nach den SSI-4/6-Kriterien besteht eine Häufigkeit zwischen 4,4 % und 19 %.

Die Häufigkeit einer Somatisierungsstörung ist laut der erwähnten weltweiten WHO-Studie abhängig von der jeweiligen Kultur. Somatisierungstendenzen sind am häufigsten in den lateinamerikanischen Kulturen (z.B. Brasilien und Chile). Dies zeigt sich in den USA auch bei Einwandern aus diesen Ländern.

In China und Japan gelten psychische Probleme als soziale und moralische Stigmata, sodass sie durch Somatisierungstendenzen geleugnet oder durch Selbstkontrolle überspielt werden müssen.

In Ländern der Dritten Welt ergeben sich aufgrund unterschiedlicher Attributionen auch andere somatoforme und dissoziative Symptome als in der westlichen Welt. In Indien erklären sich viele Betroffene ihre Symptome durch „Verrutschen“ innerer Organe von ihrer normalen Position, durch Nichtbefolgen bestimmter Rituale nach der Geburt, durch falsches Konsumieren heißer und kalter Speisen, durch Zauberei oder Samenverlust durch Masturbation oder nächtlichen Abgang.

In Nigeria hat der Kopf eine besondere Bedeutung, sodass psychische Probleme bevorzugt über diesen Bereich ausgedrückt werden. In einigen arabischen Kulturen hat die „Herzaufregung“ eine besondere Bedeutung, vor allem für Frauen, die psychosoziale Belastungen kaum anders ausdrücken können bzw. dürfen.

Die Diagnosekriterien der Somatisierungsstörung werden von allen maßgeblichen Fachleuten heftig kritisiert und bedürfen einer Änderung: 

  1. Nach den gegenwärtigen Kriterien weisen laut mehreren Untersuchungen nur weniger als 1 % der Bevölkerung eine Somatisierungsstörung auf. Dies steht im Widerspruch zum tatsächlich häufigen Auftreten chronifizierter multipler somatoformer Symptome und zur hohen gesundheitspolitischen Relevanz derartiger Leidenszustände.

  2. Als Folge der restriktiven Kriterien für eine Somatisierungsstörung ergibt sich in der Forschung und in der klinischen Praxis zu oft die Diagnosen „undifferenzierte somatoforme Störung“. Es kann nicht Sinn einer Diagnostik sein, dass eine Restkategorie eine größere Häufigkeitsverteilung aufweist als die mit großem Aufwand definierte Somatisierungsstörung.

  3. Die diagnostischen Kriterien einer Somatisierungsstörung beziehen sich auf das Auftreten von Symptomen in den letzten zwei Jahren. Eine umfangreiche WHO-Studie über somatoforme Störungen in den Allgemeinarztpraxen von 14 Ländern der Welt in den 1990er-Jahren belegt die mangelnde Stabilität der Symptome der Somatisierungsstörung. Viele Befragte konnten sich an zahlreiche vor einem Jahr angegebene Symptome gar nicht mehr erinnern. Die Hälfte der Somatisierungssymptome wurde bei der Nachbefragung ein Jahr später nicht mehr angegeben. Auf der Basis weniger strenger Kriterien (SSI-4/6) oder einer größeren Zahl an somatoformen Symptomen zeigte sich dagegen eine deutlich höhere Stabilität der Diagnose. Patienten mit einer Somatisierungsstörung leiden zwar auch nach der WHO-Studie anhaltend unter somatoformen Symptomen, die jeweiligen Beschwerden können jedoch wechseln.

  4. Die Somatisierungsstörung ist im ICD-10 zu einseitig durch eine Mindestzahl von Symptomen definiert, während psychologische und psychophysiologische Aspekte vernachlässigt werden, z.B. biologische Reaktionsbereitschaft, Persönlichkeitsaspekte, krankheitsbezogene Einstellungen, Gesundheitsvorstellungen, Krankheitskonzepte, übermäßige Fixierung und Fokussierung auf den Körper bzw. auf körperliche Symptome, Fehlinterpretationen von Symptomen im Sinne einer Katastrophe, abnormes Krankheitsverhalten („illness behaviour“). „Symptome zählen“ sollte durch stärker psychologisch orientierte Kriterien ergänzt werden, da jemand mit drei oder vier somatoformen Symptomen einen viel größeren Leidensdruck haben kann als jemand, der mehr als vier Symptome bzw. die vollen Kriterien einer Somatisierungsstörung aufweist.

  5. Die Aufnahme der Somatisierungsstörung in das ICD-10 als multiples (polysymptomatisches) somatoformes Syndrom stellt gegenüber dem ICD-9, wo nur „körperliche Funktionsstörungen psychischen Ursprungs“ als monosymptomatische Störungen angeführt waren, zwar einen Fortschritt dar, führt jedoch aufgrund der relativ restriktiven Kriterien in der klinischen Praxis dazu, dass häufig als Restkategorie eine undifferenzierte Somatisierungsstörung zu kodieren ist, für die es keinerlei wissenschaftliche Evaluierung gibt, weil es sich dabei um sehr heterogene Beschwerdebilder handeln kann, wie in der folgenden Darstellung dieser Störungskategorie deutlich wird.

 

Undifferenzierte Somatisierungsstörung (45.1)

Eine undifferenzierte Somatisierungsstörung ist nach den klinisch-diagnostischen Leitlinien des ICD-10 durch zahlreiche unterschiedliche und hartnäckige körperliche Beschwerden charakterisiert, die das vollständige und typische klinische Bild der Somatisierungsstörung nicht erfüllen.

Nach den Forschungskriterien des ICD-10 bestehen folgende Merkmale:

A.  Die Kriterien A., C. und E. für die Somatisierungsstörung sind erfüllt, die Dauer der Störung beträgt hier jedoch nur mindestens sechs Monate.

B.  Eines oder beide Kriterien B. und D. für die Somatisierungsstörung sind nur unvollständig erfüllt.

Es bestehen folgende Unterschiede zur Somatisierungsstörung: Die Symptomatik besteht erst seit mindestens einem halben Jahr, jedoch kürzer als zwei Jahre. Es treten weniger als sechs Symptome auf. Die dramatische Schilderung der Beschwerden fehlt. Die Funktionsfähigkeit im familiären und sozialen Bereich ist nicht beeinträchtigt.

Die undifferenzierte Somatisierungsstörung ist nach dem ICD-10, d.h. eine Sammelkategorie für alle nichtspezifischen somatoformen Störungen, sofern sie nicht die Kriterien einer anderen somatoformen Störung erfüllen. Nach dem ICD-10 müssen eine affektive Störung und eine Panikstörung Dies ist in der Praxis oft kaum möglich, was die Problematik dieser Diagnose zeigt.

Eine undifferenzierte Somatisierungsstörung unterscheidet sich von einer somatoformen autonomen Funktionsstörung durch das Fehlen von im Vordergrund stehenden Symptomen der autonomen (vegetativen) Erregung. Im Einzelfall kann die Differenzialdiagnose wegen deutlicher Überschneidungen schwierig sein. Wenn Schmerzsymptome im Vordergrund stehen, sollte die Diagnose einer Schmerzstörung gestellt werden.

Diese Diagnose ist oft bei Jugendlichen mit multiplen somatoformen Symptomen angebracht, die die strengen Kriterien der Somatisierungsstörung kaum erfüllen können. Die chronischen, organisch nicht (ausreichend) erklärbaren körperlichen Symptome führen zu häufigen Arztbesuchen.

Die Betroffenen stellen mit einem Anteil von etwa 20–25 % eine bedeutsame Gruppe in den Ordinationen von Hausärzten dar.

Die Häufigkeit der undifferenzierten Somatisierungsstörung ist in der Bevölkerung mit 10–13 % und in klinischen Stichproben mit etwa 20 % die häufigste somatoforme Störung.

Der Krankheitsverlauf ist günstiger als beim Vollbild der Störung.

 

Hypochondrische Störung (F45.2)

Eine hypochondrische Störung ist nach den klinisch-diagnostischen Leitlinien des ICD-10 durch folgende Merkmale charakterisiert, wobei die zwei erstgenannten als zentrale diagnostische Merkmale anzusehen sind:

Furcht vor Krankheiten (Nosophobie) ist ebenfalls als Hypochondrie zu kodieren.

 

Eine hypochondrische Störung ist nach den Forschungskriterien des ICD-10 durch folgende Merkmale definiert:

A. Es liegt entweder (1) oder (2) vor.

(1)  Es besteht eine mindestens sechs Monate anhaltende Überzeugung, an höchstens zwei schweren körperlichen Krankheiten zu leiden (wovon mindestens eine speziell genannt werden muss).

(2)  Es besteht eine anhaltende Beschäftigung mit einer vermeintlichen Entstellung oder Missbildung (dysmorphophobe Störung).

B.  Die ständigen Sorgen um die Überzeugungen und Symptome führen zu andauerndem Leiden, Beeinträchtigung des Alltagslebens und wiederholter medizinischer Abklärung und Behandlung (oder entsprechender Hilfe von Laienhelfern).

C. Die Betroffenen bezweifeln hartnäckig die medizinische Feststellung, dass keine ausreichenden organischen Ursachen für die körperlichen Symptome bzw. vermeintlichen Entstellungen vorliegen. Die ärztlichen Feststellungen wirken höchstens für einige Wochen oder unmittelbar nach einer medizinischen Untersuchung beruhigend.

D. Die Störung tritt nicht ausschließlich während einer schizophrenen oder verwandten Störung oder einer affektiven Störung auf.

 

Im Mittelpunkt der hypochondrischen Störung nach den ICD-10-Forschungskriterien stehen mindestens sechs Monate andauernde übermäßige Krankheitsängste und Krankheitsüberzeugungen bezüglich höchstens zwei Krankheiten, von denen wenigstens eine benannt werden kann. Das Leiden an körperlichen Symptomen tritt in den Hintergrund.

Das zentrale Diagnosekriterium ist nicht das bloße Vorhandensein von körperlichen Beschwerden, sondern die schwer korrigierbare Überzeugung, eine ernsthafte Krankheit zu haben bzw. auch die länger dauernde und ausgeprägte Angst und Besorgnis, eine schwere körperliche Krankheit zu bekommen (Krankheitsphobie). Eine Hypochondrie kann komorbid neben einer anderen somatoformen Störung auftreten. 

Bezieht sich die Furcht vor Krankheit auf eine Infektions- oder Vergiftungsgefahr, auf ärztliche Handlungen (Injektionen, Operationen) oder auf medizinische Institutionen (Zahnarztpraxen, Krankenhäuser), ist laut ICD-10 eine spezifische Phobie zu kodieren.

Aufgrund des Umstands, dass nach dem ICD-10 jede unbegründete und trotz ärztlicher Aufklärung anhaltende körperbezogene Angst als hypochondrische Störung zu bezeichnen ist, wären viele Symptome, die als somatoforme autonome Funktionsstörung zu kodieren sind (z.B. eine Herzphobie), als hypochondrische Störung anzusehen.

Durch das Charakteristikum „Angst vor Krankheiten“ ist eine große Nähe zu den Angststörungen gegeben. Die hypochondrische Störung kann als Bindeglied zwischen den Angststörungen und den somatoformen Störungen angesehen werden.

Die hypochondrischen Ängste können bezogen sein auf Körperfunktionen (z.B. Herzschlag, Schwitzen, Darmbewegungen), körperliche Bagatellbeschwerden (z.B. eine kleine Wunde, ein gelegentlicher Husten, ein Bienenstich) oder vage und mehrdeutige körperliche Empfindungen (z.B. „schmerzende Venen“, „Nervenschmerzen“).

Im Mittelpunkt der Sorgen können verschiedene Organe zu verschiedenen Zeiten oder gleichzeitig stehen oder auch nur ein bestimmtes Organ oder eine bestimmte Krankheit.

Die häufigsten hypochondrischen Ängste beziehen sich auf Krebs (Brust-, Magen-Darm-, Bauchspeicheldrüsen-, Gebärmutter- und Lungenkrebs), Gehirntumor, Herzinfarkt, Schlaganfall, Thrombose, AIDS, negative Umwelteinflüsse und jeweils aktuelle, medial vermittelte Krankheitsbilder (z.B. Vogelgrippe, Ebola-Virus, Creutzfeldt-Jakob).

Experten fordern die Eliminierung des Kriteriums C im ICD-10 (Krankheitsängste bleiben trotz medizinischer Rückversicherung bestehen, was in der klinischen Praxis oft nicht zutrifft), eine Lockerung des Kriteriums A.1., auch die Aufhebung der Beschränkung der hypochondrischen Störung auf höchstens zwei gefürchtete Krankheiten, weil dies den klinischen Erfahrungen und neueren Studienergebnissen widerspricht, dass die Betroffenen oft zahlreiche wechselnde Ängste bezüglich einer Vielzahl von möglichen Krankheiten aufweisen und dadurch in ihrer Hypochondrie fixiert werden.

Viele Fachleute empfehlen anstelle einer kategorialen Diagnostik (Störung entweder vorhanden oder nicht vorhanden) eine dimensionale Diagnostik (Krankheitsangst als Kontinuum: zunehmende Sorgen von subklinischer bis zu klinischer Beeinträchtigung), mit der Hypochondrie als kategorialer (krankhafter) Symptomatik am extremen Ende.

Erstaunlicherweise leben viele Menschen mit einer Hypochondrie nach ersten Studien gar nicht so gesund, wie dies aufgrund ihrer Krankheitsängste zu erwarten wäre. Sie rauchen oft zu viel, essen ungesund und bewegen sich zu wenig. Anstelle einer aktiven Gesundheitsvorsorge wollen sie ständig nur vermeintliche oder zukünftige Krankheiten sicher ausgeschlossen wissen.

Die Diagnose einer hypochondrischen Störung gilt nach wie vor als abwertend und stigmatisierend. Die Bezeichnungen „Krankheitsängste“ oder „Gesundheitsängste“ sind aufgrund ihrer Verknüpfung mit den Angststörungen viel akzeptablere Begriffe. 

Eine hypochondrische Symptomatik im Sinne einer Krankheitsüberzeugung hat auch Ähnlichkeiten mit einer Zwangsstörung. Die körperdysmorphe Störung, die im ICD-10 als Subgruppe der hypochondrischen Störung  fehlplatziert ist, gilt zukünftig im ICD-11 als Zwangsstörung. 

Krankheitsängste werden oft zu einem zentralen Merkmal des Selbstbildes, zu einem ständigen Gesprächsthema mit anderen Menschen und zu einer Reaktionsform auf Lebensbelastungen. Hypochondrische Befürchtungen können ein häufiges Streitthema in familiärem und partnerschaftlichem Kontext sein und die sozialen Beziehungen beeinträchtigen, weil die Betroffenen ständig mit ihren Ängsten und Zuständen beschäftigt sind und oft eine besondere Rücksichtnahme auf ihren Zustand sowie eine allgemein überhöhte Zuwendung erwarten.

Die hypochondrischen Ängste können die Gedankenwelt derart einengen, dass die berufliche oder schulische Leistungsfähigkeit beeinträchtigt ist und Fehlzeiten im Beruf oder in der Schule auftreten. Hypochondrische Ängste werden häufig verstärkt durch das Lesen oder Hören von Krankheiten, durch Krankheiten in der Verwandtschaft oder Bekanntschaft oder durch Beobachtungen der Empfindungen und Vorgänge im eigenen Körper.

Überweisungen zu Psychiatern oder Psychotherapeuten stehen die Betroffenen oft sehr kritisch gegenüber, weil sie sich dadurch hinsichtlich ihrer körperbezogenen Ängste nicht ernst genommen fühlen. Die Arzt-Patient-Beziehung ist oft durch Frustration und Ärger auf beiden Seiten gekennzeichnet und großen Belastungen ausgesetzt.

Menschen mit einer Hypochondrie beschreiben dem Arzt ihre Symptome gewöhnlich sehr ausführlich und detailliert. Sie suchen zur Überprüfung ihrer Krankheitsängste verschiedene Ärzte auf („Doctor Shopping“) und wechseln häufig den Arzt, wenn sie das Gefühl haben, nicht die richtige Untersuchung und Behandlung zu erhalten. Anfängliches Lob für einen bestimmten Arzt oder Psychotherapeuten („Sie sind mir als Spezialist für mein Problem empfohlen worden“) kann rasch in Enttäuschung enden („Ich sehe, Sie können mir auch nicht wirklich helfen“).

Hypochondrische Patienten äußern bei einer ärztlichen Untersuchung oft nur die aus ihrer Sicht abklärungsbedürftigen Körperbeschwerden spontan, während die dazugehörigen Überzeugungen und Befürchtungen (z.B. AIDS, Tumor, Gehirnschlag), die ständige Beschäftigung damit, die anhaltende Selbstbeobachtung und die Todesangst erst durch nähere Befragung zum Ausdruck gebracht werden.

-   durch die Konkretheit der befürchteten Erkrankung (z.B. Krebs, AIDS)

-   durch das Überwiegen des Leidens an den Krankheitsängsten und Krankheitsüberzeugungen (andere Somatisierungspatienten leiden an ihren Beschwerden)

-   durch das Ersuchen um Untersuchung und Erklärung statt um Behandlung

Man kann zwei Arten von Hypochondrie unterscheiden:

  1. Primäre Hypochondrie. Die krankheitsbezogenen Ängste stehen in keinem Zusammenhang mit erlebten oder real zu fürchtenden Krankheiten und können nicht auf eine andere, ihr übergeordnete körperliche oder psychische Krankheit zurückgeführt werden. Die primäre Hypochondrie tritt bei etwa einem Viertel der hypochondrischen Patienten auf, verläuft meist chronisch, gilt im Vergleich zur sekundären Hypochondrie als die schwerere Störung und wird von manchen Fachleuten als Persönlichkeitsstörung betrachtet.

  2. Sekundäre Hypochondrie. Die Krankheitsängste haben sich nach einer anderen psychischen Störung (Panikstörung, Depression u.a.) oder einer körperlichen Erkrankung entwickelt, entweder der eigenen Person (oft bereits in der Kindheit, was nicht selten zu anhaltenden ängstlich-besorgten Reaktionen der Mutter geführt hat) oder – was noch häufiger der Fall ist – nach hautnahen Erfahrungen von Krankheit, Leid, Behinderung und Tod von Familienangehörigen, Verwandten oder guten Bekannten. Dies kann durch Modelllernen aufgrund guter emotionaler Beziehungen erklärt werden. Nach Ausschluss einer sekundären Hypochondrie ergibt sich eine viel geringere Zahl an hypochondrischen Menschen. Eine kurzfristige, vorübergehende Hypochondrie (einige Wochen lang) nach Erkrankung der eigenen oder einer verwandten Person haben etwa 20 % der Bevölkerung. 

Nach den Aspekten von Angst und Überzeugung kann man die hypochondrischen Störungen in zwei Arten unterscheiden, je nachdem welcher Aspekt im Vordergrund steht:

  1. Krankheitsangst (englisch: illness phobia, nosophobia; im DSM-IV ein Subtyp der spezifischen Phobie). Die Angst, krank zu werden, hat Ähnlichkeiten mit einer phobischen Symptomatik. Die phobischen Erwartungsängste führen zu einem phobischen Vermeidungsverhalten, d.h. an sich sinnvolle Arztkontakte und Auseinandersetzungen mit der Thematik von Gesundheit und Krankheit werden gemieden.

  2. Krankheitsüberzeugung (englisch: disease/illness conviction). Die Überzeugung, bereits krank zu sein, hat Ähnlichkeiten mit einer Zwangsstörung. Aufgrund der Befürchtung, bereits erkrankt zu sein, erfolgen häufige Arztkontakte mit Arztwechsel („Doctor Shopping“) in der Hoffnung auf endgültigen überzeugenden Ausschluss einer Krankheit. Diese Symptomatik gilt als die eigentliche Hypochondrie. Die Auseinandersetzung mit der Krankheitsthematik wird gesucht – ähnlich wie Zwangskranke vom zwangsauslösenden Reiz geradezu magisch angezogen sind. Körpersymptome und Körperfunktionen werden ständig zu kontrollieren versucht („Checking Behaviour“). Alle verfügbaren Informationen in Internet, Medien und Büchern werden im Sinne von Beruhigungsversuchen interessiert aufgenommen. Nicht selten geben die Betroffenen an, die Gedanken an eine körperliche Erkrankung würden sich in einer Weise aufdrängen, wie dies bei einer Zwangsstörung der Fall ist. Analog zu einem Waschzwang, der vermehrt auftritt, wenn das Risiko einer Ansteckung nicht durch vorherige Vermeidung von Sozialkontakten verringert werden konnte, ist das Bedürfnis nach ärztlichen Kontrolluntersuchungen stärker, wenn bestimmten Gefahrenreizen nicht völlig ausgewichen werden kann (z.B. mehrfache AIDS-Kontrollen nach sexuellen Kontakten mit einer anderen Person als dem fixen Partner).

Fazit: Beim phobischen Subtyp besteht ein Vermeidungsverhalten, beim hypochondrischen Subtyp dagegen ein „Doctor Shopping“ und eine ständige Körperkontrolle.

Das Bedürfnis nach ständigen ärztlichen Kontakten ist als Sicherheit suchendes Verhalten („Rückversicherungsverhalten“) zu verstehen, das durch die ärztliche Versicherung, gesund zu sein, zur inneren Beruhigung führen soll.

Die kurzfristige Erleichterung, keine bedrohliche Krankheit zu haben, führt später bei neuerlicher Verunsicherung ziemlich sicher zu weiteren Arztkontakten, sodass aus lerntheoretischer Sicht Arztbesuche auf diese Weise negativ verstärkt werden und daher häufiger erfolgen. Krankheitsängste werden dadurch letztlich aufrechterhalten statt dauerhaft beseitigt.

Die Hypochondrie im Sinne einer Krankheitsüberzeugung wird als „Checking Behaviour“ in Bezug auf den eigenen Körper nach dem kommenden ICD-11 zum Spektrum der Zwangsstörungen gezählt. Die ängstlichen Kontrollen der Funktionen und der Organe des eigenen Körpers können analog zu einer Zwangsstörung als Kontrollrituale angesehen werden. Der Betroffene verspürt jedoch gewöhnlich trotz umfangreicher Kontrollen weiterhin Unsicherheit, Unruhe und Angst, sodass er zur anhaltenden Beruhigung den Arzt aufsuchen oder zumindest ein Telefonat mit einem Vertreter des Medizinsystems führen muss.

Es ist ein Faktum: Ärzte und Krankenpflegepersonal übernehmen – gut gemeint – oft dieselben langfristig schädlichen Beruhigungsversuche der Patienten, wie dies auch deren Angehörige kurzfristig erfolgreich, langfristig jedoch vergeblich versucht haben.

Je nachdem, ob eine Krankheitsangst mit einem Vermeidungsverhalten oder eine Krankheitsüberzeugung mit Kontrollritualen im Vordergrund des Erlebens und Verhaltens der Betroffenen steht, sind unterschiedliche therapeutische Strategien angebracht.

Das Konzept der Hypochondrie als zwanghafte körperbezogene Kontrollversuche zur Bewältigung von Krankheitsängsten deckt sich mit dem Erleben der Betroffenen und macht die Diagnose in dieser Hinsicht akzeptabler.

Die Erklärung der hypochondrischen Störung nach dem Modell einer Zwangsstörung wirkt für viele Betroffene plausibel und vermittelt ihnen oft erstmalig ein einsichtiges Modell für die typischen Verhaltensweisen („Checking Behaviour“ oder ständige Rückversicherungsfragen wie z.B. „Sehen Sie wirklich nichts Krankhaftes?“, „Wie sicher kann ich mich darauf verlassen?“, „Wie lange nach dieser Untersuchung brauche ich mir keine Sorgen um eine Krebserkrankung zu machen?“, „Sollten wir nicht doch noch eine Kontrolluntersuchung in einem anderen Krankenhaus machen?“). Auf dem Hintergrund eines akzeptablen Krankheitsverständnisses lässt sich eine effiziente Psychotherapie aufbauen.

Zur Häufigkeit der hypochondrischen Störung in der Bevölkerung liegen mit Werten zwischen 0,2 % und 10 % sehr unterschiedliche Zahlen vor. Nach internationalen Studien beträgt die Prävalenz der Hypochondrie im Durchschnitt 4–5 %.

In Deutschland haben nach neueren Studien auf der Basis breiterer Diagnosekriterien 7–10 % der Bevölkerung Krankheitsängste, während nach dem Gesundheitssurvey 1998 auf der Basis der DSM-IV-Kriterien weniger als 1 % (0,05 % bzw. 0,58 % je nach Diagnosekriterium) eine Hypochondrie aufweisen. Im Gegensatz zu somatoformen Körperbeschwerden tritt eine Hypochondrie bei Frauen gleich häufig auf wie bei Männern.

Nach einer umfangreichen Befragung von Rief u.a. geben 11 % der Frauen und 8 % der Männer an, sie würden sich fürchten oder seien überzeugt, eine ernsthafte Erkrankung zu haben, doch die Ärzte würden keine ausreichende Erklärung dafür finden.

In Hausarztpraxen fand man laut einer weltweiten WHO-Studie nur bei 0,8 % (in Deutschland bei 5,4 %) der Patienten eine Hypochondrie nach den ICD-10-Forschungs-kriterien, nach milderen Kriterien (ohne Rückversicherungskriterium) bei 2,2 % der Patienten.

Unterschiedliche epidemiologische Zahlen hängen mit unterschiedlichen Diagnosekriterien, Stichproben, Kulturen und Interviewern (Laien oder Fachleute) zusammen.

Das Kriterium, dass Patienten den ärztlichen Ausschluss einer organischen Ursache nicht akzeptieren können, trifft in der Praxis oft nicht zu. Viele Betroffenen haben mehr als zwei Krankheitsängste bzw. haben ihre Ängste erst seit weniger als einem halben Jahr, sodass ihnen nicht die ICD-10-Diagnose einer Hypochondrie gegeben werden kann.

Studien belegen, dass krankheitsängstliche Menschen eine erhebliche Beeinträchtigung der beruflichen, sozialen und sonstigen Funktionsfähigkeit aufweisen und dem Medizinsystem durch die ständigen Ausschlussuntersuchungen hohe Kosten verursachen. In vielen Untersuchungen werden daher umfassendere Diagnosekriterien angewandt.

Die hypochondrische Störung neigt zur Chronifizierung. Eine prospektive Studie (Verlaufsstudie über den Zeitraum von 4–5 Jahren) ergab bei einem Drittel der Betroffenen eine beträchtliche Abnahme der Hypochondrie und eine Verbesserung der Funktionsfähigkeit, während zwei Drittel noch immer die Hypochondrie-Kriterien erfüllten. Krankheitsängste beginnen manchmal schon in der Pubertät, oft im frühen Erwachsenenalter und nehmen mit dem Alter zu – als Reaktion auf den Anstieg psychischer Störungen (z.B. Depressionen) und körperlicher Erkrankungen.

Krankheitsängstliche Menschen mit oder ohne erhebliche somatoforme Symptome waren in der Kindheit, in der Jugend oder im späteren Leben oft mit Erfahrungen konfrontiert, die ihre hypochondrischen Ängste ausgelöst oder zumindest verstärkt haben. Viele hypochondrische Patienten haben im Vergleich zu anderen Personen mehr Kindheitstraumata erlebt, vor allem körperliche und sexuelle Gewalt, aber auch ganz allgemein unsichere Bindungen (Tod eines Elternteils, Scheidung der Eltern, Trennung von den Eltern, Ungeborgenheit durch einen substanzabhängiger Elternteil, emotionale Vernachlässigung durch die Eltern).

Oft haben eigene frühkindliche Erkrankungen oder Erfahrungen mit kranken Familienmitgliedern bzw. Bekannten die spätere Fixierung auf die Krankheitsthematik verstärkt. Nicht selten führten verschiedene Erkrankungen im Kindesalter auch zu erheblichen Fehlzeiten in der Schule. Hypochondrische Patienten hatten im Vergleich zu anderen Patienten in der Kindheit öfter ernsthafte Erkrankungen.

Fazit: Verunsicherungen im Leben durch die Erfahrung von Krankheit, Behinderung oder Tod, aber auch negative Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem bewirken eine Unsicherheit bezüglich des aktuellen Gesundheitszustands sowie ein Sicherheitsverhalten mit ständigem Bestreben um Rückversicherung bei Ärzten oder Verwandten.

Stress ganz allgemein (z.B. in Partnerschaft, Familie und Beruf) kann eine Neigung zu Krankheitsängsten aktivieren. Die Betroffenen beschäftigen sich dann nicht mit den gegebenen psychosozialen Problemen, sondern mit den aktuellen körperlichen Symptomen, die durch die anhaltende psychische Belastung entstanden sind.

Durch die Beschäftigung mit den somatoformen Symptomen lenken sie sich nach Auffassung vieler erfahrener Psychotherapeuten von den wahren Problemen des Lebens ab und sehen die Lösung schwer beeinflussbarer Lebenssituationen in der besseren Kontrolle ihres Körpers, gleichsam als Ausdruck des Bedürfnisses nach mehr Kontrolle im Leben.

Elterliche Überbehütung mit der Sorge um eine mögliche Erkrankung des Kindes begünstigt ebenfalls eine ständige Überaufmerksamkeit auf die Thematik von Gesundheit und Krankheit. Viele Betroffene erfuhren über die Krankheitsthematik eine derartige Zuwendung vonseiten der sozialen Umwelt, dass dies eine Verstärkung der Krankenrolle bewirkte.

Bei einem Teil der hypochondrischen Patienten entwickelte sich schließlich ein Verhalten, das mit dem Begriff „sekundärer Krankheitsgewinn“ bezeichnet wird. Dabei handelt es sich um die Tendenz, durch die Behandlung als Kranker eine besondere Aufmerksamkeit zu erfahren.

Eine Hypochondrie geht oft mit anderen psychischen Störungen einher. Von den hypochondrischen Patienten hatten bis zu 85 % eine Angststörung und rund 50 % eine Depression. Bei einer primären Depression stehen die depressiven Symptome im Vordergrund und gehen der Entwicklung der Hypochondrie voraus. Ein Teil der hypochondrischen Patienten weist auch eine Zwangsstörung (z.B. Waschzwänge) auf.

Amerikanische und deutsche Studien haben die Eigenständigkeit der hypochondrischen Störung gegenüber der Panikstörung und den somatoformen Störungen bestätigt.

Die meisten hypochondrischen Patienten haben zwar gleichzeitig auch eine somatoforme Störung, jedoch besteht nur bei einem Drittel der Patienten mit einer multiplen somatoformen Störung gleichzeitig auch eine hypochondrische Störung. Krankheitsängstlich sind vor allem Menschen mit einer somatoformen autonomen Funktionsstörung (Herzphobie, Reizdarm, Hyperventilation u.a.), weil die Betroffenen ein zentrales Symptom in den Mittelpunkt ihrer ständigen Überbeobachtung stellen.

Eine deutsche Studie, die hypochondrische Patienten mit somatoformen Symptomen und somatoforme Patienten ohne erhebliche Krankheitsängste miteinander verglich, ergab ähnliche somatoforme Symptome (Rücken- und Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Übelkeit u.a.), die krankheitsängstlichen Patienten hatten jedoch mehr Bauchschmerzen, mit der Gefahr der Fehlinterpretation als Anzeichen von Krebs.

Der Hauptunterschied zwischen beiden Krankheitsgruppen besteht im Umstand, dass hypochondrische Patienten somatoforme Symptome nicht tolerieren können. Dies weist darauf hin, dass das zentrale Merkmal der hypochondrischen Störung in der mangelnden Toleranz somatoformer Symptome besteht, und zwar deshalb, weil sie mit ernsthafter körperlicher oder gar tödlicher Bedrohung in Verbindung gebracht werden.

In einer anderen deutschen Studie wurden hypochondrische Patienten, Panikpatienten und komorbide Patienten mit Hypochondrie und Panikstörung miteinander verglichen. Panikpatienten wiesen eine größere Komorbidität mit Agoraphobie auf und waren in psychischer Hinsicht weniger krank als hypochondrische Patienten. Hypochondrische Personen zeigten mehr Somatisierungstendenzen als Panikpatienten.

Komorbide Patienten waren am schwersten beeinträchtigt: Panikpatienten mit Hypochondrie zeigten ein größeres Angstausmaß, mehr Somatisierungstendenzen, allgemein mehr psychopathologische Auffälligkeiten und eine stärkere Inanspruchnahme des Gesundheitssystems. Aufgrund der Forderung nach unnötigen medizinischen Untersuchungen und Behandlungen konnten hypochondrische Patienten von Fachleuten gut identifiziert werden.

Der zentrale Unterschied zwischen hypochondrischen Patienten und Panikpatienten besteht trotz tendenzieller Unterschiede nicht in der Somatisierungstendenz an sich, sondern in Hypochondrie-typischen Denk- und Verhaltensmustern (organische Ursachenzuschreibung, unrealistische Gesundheitsvorstellungen, ständige Inanspruchnahme des Gesundheitssystems zwecks Rückversicherung).

Hypochondrie ist nicht bloß eine sekundäre Störung nach der Entwicklung somatoformer Symptome. Krankheitsängste im Rahmen einer Panikstörung beziehen sich nur auf sofort nach der Attacke auftretende Symptome und nicht auf zukünftig eintretende Folgen wahrgenommener Symptome.

Die Abgrenzung gegenüber einer Generalisierten Angststörung ergibt sich durch den Umstand, dass Krankheitsängste hier nur ein Aspekt umfassenderer Sorgen sind.

Bestimmte Zwangskranke fürchten, krank zu werden (im Sinne einer Krankheitsphobie), und versuchen dies durch Wasch- und Reinigungszwänge zu verhindern, Hypochonder glauben, bereits krank zu sein. Bei einem hypochondrischen Wahn gelingt aufgrund der unkorrigierbaren Überzeugung nicht einmal eine kurzfristige Beruhigung.

Hypochonder leiden im Gegensatz zu anderen somatoformen Patienten unter ihren quälenden Krankheitsängsten und weniger unter konkreten somatoformen Symptomen. Sie suchen bei Ärzten eine Erklärung und keine Behandlung für ihre Symptome.

Nach einer amerikanischen Studie sind hypochondrische Patienten im Vergleich zu anderen Hausarztpatienten viel eher überzeugt, dass sie leicht krank werden können; sie sind vor allem auch unfähig, den Gedanken an eine Krankheit zu ertragen. Das Bedrohungsgefühl bezieht sich nicht auf andere körperliche Gefahren, wie etwa Unfälle oder Überfälle, sondern beschränkt sich auf die Angst vor Krankheiten. 

Fazit: Hypochondrische Patienten haben eine selektive Aufmerksamkeitseinschränkung auf die Thematik von Krankheit, Behinderung und Tod, können normale, vorübergehende oder harmlose körperliche Sensationen und Symptome nicht ertragen, haben einen völlig unrealistischen Gesundheitsbegriff, neigen zu übersteigerter Wahrnehmung aller körperlichen Vorgänge und Funktionen, missinterpretieren unbedenkliche Beschwerden als Zeichen höchster Gefahr, kontrollieren ihre Körperfunktionen (z.B. ständige Puls- und Blutdruckmessungen), saugen medizinische Informationen auf (oder meiden diese aus Angst vor Beunruhigung), stellen ständig Rückversicherungsfragen an Ärzte und Angehörige oder surfen im Internet („Cyberchondria“ genannt). Die durch die Ängste ausgelösten bzw. verstärkten vegetativen Reaktionen gelten als Beweis für eine reale Gefährdung, was den Teufelskreis der Angst-aufschaukelung verstärkt.

Nach dem kognitiv-behavioralen Erklärungsmodell entwickeln sich Krankheitsängste in einem mehrstufigen Prozess. Frühere Erfahrungen (Tod oder schwere Erkrankung von Angehörigen u.a.) begünstigen die Entwicklung dysfunktionaler Annahmen (z.B. „Symptome sind immer Ausdruck einer schweren Erkrankung“, „Wenn man körperliche Symptome hat, kann man nicht wirklich gesund sein“). Kritische Ereignisse im späteren Leben (z.B. eigene unerklärliche Symptome, mediale Veröffentlichungen über gefährliche Erkrankungen wie etwa HIV) führen zur Aktivierung der seit langem latent vorhandenen dysfunktionalen Annahmen.

Automatische, d.h. unbewusste negative Gedanken und Vorstellungen („Meine Symptome können auf eine Krebserkrankung hinweisen“) lösen schließlich Krankheitsängste aus, die sich auf vier Ebenen zeigen: im Verhalten (Vermeidung, erhöhte Selbstbeobachtung, Rückversicherungstendenzen bei Ärzten und Angehörigen), im Gefühlsbereich (Ängste, depressive Reaktion), im Denken (Fokussierung und Einengung auf die Beobachtung der Körpers und der aktuellen Symptome im Sinne katastrophisierender Interpretationen) und in der physiologischen Befindlichkeit (erhöhte vegetative Erregung, körperliche Symptomverschlechterung).

Genetische Faktoren, die derzeit noch nicht gesichert sind, können das Risiko für eine Hypochondrie erhöhen. Zusammenhänge mit Persönlichkeitsfaktoren (vor allem mit Neurotizismus und negativer Affektivität) sind erwiesen. Weitere Forschungen sind nötig, um mögliche Subtypen der hypochondrischen Störung zu identifizieren.

Die Behandlungsaussichten bei Hypochondrie wurden früher sehr pessimistisch beurteilt. Seit einiger Zeit gibt es Erfolg versprechende Interventionsmöglichkeiten und Hoffnung auf Besserung, wenngleich meist nicht auf vollständige Heilung. Eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Hausarzt und Psychotherapeut ist sehr wichtig. 

Als Behandlungsmethoden haben sich kognitiv-behaviorale Strategien (Psychoedukation, Analyse und Änderung der Denkmuster, Konfrontationstherapie, Verzicht auf Rückversicherungsfragen, bessere Körperwahrnehmung, Entspannung, Aufbau befriedigender Lebensbedingungen, Verarbeitung negativer Lebenserfahrungen u.a.) und bestimmte Antidepressiva (vor allem SSRI) bzw. Kombinationstherapien bewährt.

 

Somatoforme autonome Funktionsstörung (F45.3)

Eine somatoforme autonome Funktionsstörung (F45.3) umfasst nach den Forschungskriterien des ICD-10 – ähnlich wie nach den klinisch-diagnostischen Leitlinien –    folgende Merkmale:

A.  Es bestehen Symptome der autonomen (vegetativen) Erregung, die von den Betroffenen einer körperlichen Krankheit in einem oder mehreren (meistens zwei) von sechs Organen oder Organsystemen zugeordnet werden, obwohl keine entsprechende körperliche Beeinträchtigung besteht:

1.  Kardiovaskuläres System (F45.30): funktionelle Störungen des Herz-Kreislauf-Systems: „Herzphobie“, nichtorganische Rhythmus- und Blutdruckschwankungen

2.  Oberer Gastrointestinaltrakt F45.31): funktionelle Störungen des Magens: „Reizmagen“ (Dyspepsie)

3.  Unterer Gastrointestinaltrakt (F45.32): funktionelle Störungen des Darmbereichs: „Reizdarm“ (Colon irritabile)

4.  Respiratorisches System (F45.33): funktionelle Störungen der Atmung: Hyperventilationssyndrom, psychogener Husten

5.  Urogenitalsystem (F45.34): funktionelle Störungen von Blase und Genitalbereich: „Reizblase“

6.  Sonstige Organsysteme (F45.38): psychogenes Schwitzen, nichtorganische Schluckstörung

B.  Es treten mindestens zwei der folgenden vegetativen Symptome auf, die die Diagnose hauptsächlich begründen (diese Beschwerden sind objektivierbare Symptome der vegetativen Stimulation):

1.  Herzklopfen (Palpitationen)

2.  Schweißausbrüche (heiß oder kalt)

3.  Mundtrockenheit

4.  Hitzewallungen oder Erröten

5.  Druckgefühl im Oberbauch (Epigastrium), Kribbeln oder Unruhe im Bauch

C.  Zusätzlich tritt noch mindestens eines der folgenden, eher unspezifischen Symptome auf (diese Beschwerden sind mehr idiosynkratisch, d.h. persönlichkeitsspezifisch, subjektiv, relativ unspezifisch und daher schwer objektivierbar):

1.  Brustschmerzen oder Druckgefühl in der Herzgegend

2.  Atemnot (Dyspnoe) oder Hyperventilation

3.  außergewöhnliche Ermüdbarkeit bei leichter Anstrengung

4.  Aerophagie, Singultus oder brennendes Gefühl im Brustkorb oder Oberbauch

5.  häufiger Stuhldrang

6.  erhöhte Miktionsfrequenz (vermehrtes Harnlassen) oder Dysurie

7.  Gefühl der Überblähung oder Völlegefühl

D.  Es gibt keinen Nachweis einer Störung von Struktur oder Funktion der Organe oder Systeme, über die die Betroffenen klagen.

E.  Die Symptome treten nicht ausschließlich in Zusammenhang mit einer Phobie, einer Panikstörung, einer affektiven Störung oder Schizophrenie auf.

 

Das charakteristische Bild einer somatoformen autonomen Funktionsstörung besteht in der Kombination einer starken vegetativen Aktivierung (Kriterium B: Symptome wie Herzklopfen, Schweißausbrüche, Hitzewallungen u.a.) mit zusätzlichen nichtspezifischen subjektiven Beschwerden (Kriterium C: Symptome wie Brustschmerzen, außergewöhnliche Ermüdbarkeit u.a.) und einem hartnäckigen Beharren auf einem ganz bestimmten Organ oder Organsystem, das der Patient als Ursache der Störung ansieht (Kriterium A: kardiovaskuläres System u.a.). Der Patient ist auf ein Organ oder Organsystem fixiert, das nicht die Ursache der funktionellen Störung sein muss. Das ICD-10 verwendet ohne Zeitkriterium ein Zweiachsensystem: einerseits das betroffene Organ bzw. Organsystem, andererseits mindestens drei somatoforme Symptome.

Die Spezifizierung der somatoformen autonomen Funktionsstörung richtet sich nach dem Organ oder Organsystem, das nach Auffassung der Betroffenen den Ursprung ihrer Symptome darstellt, d.h. es wird auf die Sichtweise der Patienten Bezug genommen. Im Gegensatz zu einer Somatisierungsstörung, die durch multiple, nicht auf ein Organsystem gebundene, wiederholt auftretende und häufig wechselnde körperliche Symptome charakterisiert ist, schildert der Patient bei einer somatoformen autonomen Störung die Symptome so, als ob sie auf der körperlichen Erkrankung eines bestimmten Organs oder Organsystems beruhen würden, das weitgehend oder vollständig vegetativ innerviert und kontrolliert wird, d.h. es besteht ein eindeutiger Symptomfokus.

Bei den Betroffenen besteht eine intensive und quälende Beschäftigung mit der Möglichkeit einer ernsthaften, aber oft (im Gegensatz zur Hypochondrie) nicht näher bezeichneten Erkrankung des genannten Organs oder Organsystems, die trotz wiederholter Erklärungen und Versicherungen der Ärzte nicht aufgegeben wird. Damit bestehen Überschneidungen mit der Hypochondrie.

Bei vielen Patienten bestehen psychosoziale Belastungsfaktoren, die einen Bezug zur Störung zu haben scheinen, dieser Zusammenhang ist jedoch nicht bei allen Patienten gegeben und wird auch nicht als diagnostisches Kriterium gefordert.

Die jeweiligen Störungen von Organen und Organsystemen werden von Psychosomatikern seit langem mit unterschiedlichen Bezeichnungen versehen, die die nichtorganische Verursachung im Sinne einer Abgrenzung zu organisch-anatomischen Strukturläsionen zum Ausdruck bringen sollen: „funktionell“, „vegetativ“, „psychovegetativ“, „psychogen“, „organneurotisch“, „sympathikoton“, „vagoton“, „nervös“.

Die in der inneren Medizin übliche Diagnose von funktionellen Störungen (z.B. funktionelle Magen-, Darm-, Herzrhythmus-, Kreislauf-, Atem-, Blasenstörung) entspricht wegen des häufigen Fehlens bestimmter anderer erforderlicher Symptome nicht exakt den Kriterien einer somatoformen autonomen Funktionsstörung. Bei somatoformen Störungen ist nicht nur das Auftreten von Symptomen, sondern vor allem auch deren Bewertung und Art der Bewältigung durch die Betroffenen relevant. Die Kategorie der somatoformen autonomen Funktionsstörung ist somit enger als der Begriff der funktionellen Störung in den verschiedenen medizinischen Fachbereichen.

Die Aufnahme einzelner wegetativer Syndrome als eigenständige Subgruppe der somatoformen Störungen in das ICD-10 ist Ausdruck des Respekts vor der langen Tradition innerhalb der inneren Medizin und der Psychosomatik, in der funktionelle Syndrome bzw. funktionelle Störungen als eigenständige Beschwerden betrachtet werden. Die Unterteilung in verschiedene Organsysteme folgt internistischen und psychosomatischen Konzepten.

Die Liste der möglichen körperlichen Symptome bei einer somatoformen autonomen Funktionsstörung unterscheidet sich teilweise von der Symptomliste bei einer Somatisierungsstörung, weshalb im ICD-10 eine eigene Störungsgruppe etabliert wurde. Die Diagnose einer funktionellen Störung nach organischer Abklärung ist zwar sehr wichtig, die Aufnahme einer Störungsgruppe „somatoforme autonome Funktionsstörung“ in das ICD-10 ist jedoch wegen der fehlenden empirischen Überprüfung unter Fachleuten umstritten.

Es gibt keine Untersuchung, die die Eigenständigkeit einer derartigen Krankheitsgruppe rechtfertigen würde. Eine eindeutige Abgrenzung gegenüber der Somatisierungsstörung und der undifferenzierten Somatisierungsstörung ist zudem oft nur schwer möglich.

Der Großteil der relevanten Literatur ist unter den Begriffen der jeweiligen funktionellen Störungen in den verschiedenen Organbereichen veröffentlicht (z.B. funktionelle Dyspepsie, Colon irritabile). Dabei bleiben jedoch Verhaltensaspekte, Ursachenüberzeugungen, Einstellungen und andere vegetative Begleitsymptome unberücksichtigt. Neben dem akademisch-wissenschaftlichen Streit über die Diagnose einer somatoformen autonomen Funktionsstörung ergeben sich im klinischen Alltag viel heftigere Diskussionen darüber, welche Fachärzte – neben den Hausärzten – und welche Krankenhäuser und Spezialkliniken für die Betroffenen überhaupt zuständig sind.

Neben dem Gefühl der fachlichen Zuständigkeit geht es oft um viel handfestere Dinge, nämlich um das liebe Geld. Wer verdient an diesen Patienten zu Recht und wer zu unrecht? Sollten primär Internisten mit psychosomatischer und/oder psychotherapeutischer Zusatzausbildung oder Psychiater mit psychosomatischer und/oder psychotherapeutischer Zusatzqualifikation die eigentlichen Ansprechpartner und Behandler nach den Hausärzten sein?

Die Diagnose einer somatoformen autonomen Funktionsstörung kann durch bestimmte Zeichen erhärtet werden:

Differenzialdiagnostisch sind folgende Hinweise bedeutsam:

Bei abdominellen Beschwerden ist der Ausschluss einer Nahrungsmittelallergie erforderlich.

Eine somatoforme autonome Funktionsstörung kann auch nach dem Abheilen von ursprünglich organisch bedingten Beschwerden auftreten (z.B. nach chronisch entzündlichen Darmerkrankungen).

Funktionelle Störungen machen 20–30 % aller Aufnahmen in internen Abteilungen aus. Die vier häufigsten Beschwerden sind: Reizmagen (Non-ulcer-Dyspepsie), Reizdarm (Colon irritabile), Herzphobie und Hyperventilationssyndrom. Verlässliche epidemiologische Daten sind nicht vorhanden, bedingt durch das Fehlen der Störungsgruppe im amerikanischen psychiatrischen Diagnoseschema DSM-IV. Die Häufigkeit in der Bevölkerung bzw. bei Hausarztpatienten beträgt etwa 4–11 %.

Die diagnostische Kategorie der somatoformen autonomen Funktionsstörung lässt sich in mehrfacher Hinsicht kritisieren:

  1. Das Konzept der somatoformen autonomen Funktionsstörung im ICD-10 hat keine empirische Fundierung. Die Symptomatik ist als „undifferenzierte Somatisierungsstörung“ oder als „multiples somatoformes Syndrom“ zu betrachten und nicht als eigenständige diagnostische Kategorie. Bestimmte spezifische somatoforme Störungen, wie z.B. die bereits relativ gut untersuchte Symptomatik des Colon irritabile, werden zukünftig mehr Bedeutung erhalten als das bisherige Einheitskonzept eines Syndroms von mindestens drei Symptomen des autonomen Nervensystems.

  2. Im ICD-10 werden Syndrome als somatoforme autonome Funktionsstörung klassifiziert, die eigentlich als hypochondrische Störung zu betrachten wären. Nach dem Kriterium, dass eine Angst vor einem äußeren Reiz als Phobie zu bezeichnen ist, eine Angst vor internalen Reizen wie Körpersymptomen dagegen als hypochondrische Symptomatik zu kodieren ist, müssten z.B. Patienten mit einer Herzphobie (ohne Panikattacken) die Diagnose einer hypochondrischen Störung erhalten.

  3. Bei der somatoformen autonomen Funktionsstörung führt das ICD-10 typische Angstsymptome an, die eine gute differenzialdiagnostische Abklärung erfordern. Es bestehen sehr enge Zusammenhänge mit Angst- und Panikstörungen.

  4. Oft müsste eigentlich wegen der im Vordergrund stehenden Schmerzen eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung diagnostiziert werden.

  5. Bei der Somatisierungsstörung und der somatoformen autonomen Funktionsstörung nach dem ICD-10 werden teilweise dieselben Symptome angeführt: Brustschmerzen, Miktionsschmerzen, Völlegefühl, häufiges Wasserlassen, Atemnot. Dies führt zu einer unscharfen Abgrenzung beider Störungen, sodass sich große differenzialdiagnostische Probleme ergeben. Erhebliche Abgrenzungsprobleme ergeben sich in der klinischen Praxis oft auch gegenüber der generalisierten Angststörung, der Panikstörung, der depressiven Störung und der Neurasthenie.

  6. Das Kriterium, wonach bei somatoformen Störungen organische Ursachen ausgeschlossen sind, wird im ICD-10 unterlaufen durch den Hinweis, dass auch ein organisch bedingtes Symptom als „somatoform“ zu bezeichnen ist, wenn es nicht Schwere, Ausmaß, Vielfalt und Dauer der körperlichen Beschwerden und damit verbundene soziale Behinderungen erklären kann. Die Konzepte der somatoformen Störungen im Allgemeinen und der somatoformen autonomen Funktionsstörung im Besonderen, wie diese im ICD-10 definiert sind, gelten als problematisch, sodass eine Neudefinition notwendig erscheint. Die Gegenüberstellung von einerseits rein funktionellen und andererseits rein organischen Störungen spiegelt die frühere dualistische Dichotomisierung wider, die mittlerweile als überholt gilt.

 

Anhaltende somatoforme Schmerzstörung (F45.4)

Eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung (F45.4) ist nach den klinisch-diagnostischen Leitlinien des ICD-10 durch folgende Merkmale charakterisiert [26]:

 

Nach den Forschungskriterien des ICD-10 ist eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung durch die beiden folgenden Merkmale definiert:

A.  Es besteht seit mindestens sechs Monaten ein kontinuierlicher, an den meisten Tagen anhaltender, schwerer und belastender Schmerz in einem Körperteil, der nicht adäquat durch physiologische Vorgänge oder eine körperliche Störung erklärt werden kann, und auf den der Aufmerksamkeitsschwerpunkt der Betroffenen anhaltend gerichtet ist.

B.  Die Störung tritt nicht bzw. nicht ausschließlich im Zeitraum bestimmter anderer Erkrankungen auf (schizophrene oder verwandte Störung, affektive Störung, Somatisierungsstörung, undifferenzierte Somatisierungsstörung, hypochondrische Störung).

Als „dazugehörige Begriffe“ (Synonyma) gelten im ICD-10 folgende Bezeichnungen: Psychalgie, psychogene Rücken- oder Kopfschmerzen, somatoforme Schmerzstörung. Schmerzen aufgrund bekannter oder vermuteter psychophysiologischer Mechanismen, wie z.B. Muskelspannungsschmerzen oder Migräne, die nach dem ICD-10 „wahrscheinlich auch psychogen sind“, zählen nicht zur somatoformen Schmerzstörung, sondern sind durch den Kode F54 („psychische Faktoren oder Verhaltensfaktoren bei andernorts klassifizierten Krankheiten“) sowie durch die Verwendung eines zusätzlichen Kodes aus einem anderen Bereich des ICD-10 (z.B. G43 Migräne) zu klassifizieren.

Spannungskopfschmerzen (G44.2), nicht näher bezeichnete Rückenschmerzen (M54.9) und nicht näher bezeichnete akute oder chronische Schmerzen (R52) sind laut ICD-10-Leitlinien keine anhaltende somatoforme Schmerzstörung. Vermutlich psychogene Schmerzen im Rahmen einer Depression oder Schizophrenie sind bei der Diagnosestellung ebenfalls nicht zu berücksichtigen. Die häufigsten Schmerzen, bei denen psychische Faktoren eine Rolle spielen, nämlich viele Kopf- und Rückenschmerzen, gelten nicht als somatoformen Schmerzstörung, sondern als Schmerzen, bei denen psychologische Faktoren und Verhaltenseinflüsse eine Rolle spielen (F54).

Ein psychophysiologischer Mechanismus wie bei funktionellen muskulären Verspannungen (z.B. bei Kopfschmerzen als Folge von Muskelkontraktionen) darf demnach bei einer somatoformen Schmerzstörung nicht vorliegen, weil es sich dabei um ein nozizeptives Schmerzgeschehen handelt, auch wenn die Verspannungen ursprünglich durch psychosoziale Belastungsfaktoren ausgelöst wurden.

In den Forschungskriterien des ICD-10 werden – anders als in den klinisch-diagnostischen Leitlinien – ein Zeitkriterium (mindestens sechs Monate Dauer) und ein anhaltender Aufmerksamkeitsschwerpunkt des Patienten auf die Schmerzsymptomatik gefordert. Verzichtet wird dagegen auf das Kriterium schwerwiegender emotionaler Konflikte oder psychosozialer Probleme als „entscheidende ursächliche Einflüsse“ auf die Schmerzen, es wird auch auf das Ausschlusskriterien bezüglich bestimmter psychischer Störungen verzichtet. Demnach können auch andere Schmerzen zur anhaltenden somatoformen Schmerzstörung gezählt werden, wenn diese „nicht adäquat“ (laut Leitlinien: „nicht vollständig“) durch organische Faktoren erklärt werden können.

Die Diagnose „anhaltende somatoforme Schmerzstörung“ nach den klinisch-diagnostischen Leitlinien des ICD-10 muss in mehrfacher Hinsicht kritisiert werden:

  1. Die Vernachlässigung eines organischen Substrats entspricht nicht der Realität von Schmerzen, auch wenn diese vorwiegend psychisch oder psychosozial bedingt sind. Bei dieser Diagnose spiegelt sich der cartesianische Körper-Seele-Dualismus wider, wonach es „wirkliche“, nämlich körperlich bedingte Schmerzen und eingebildete, nämlich seelisch bedingte Schmerzen gebe. Nach dem biopsychosozialen Krankheitsmodell wäre eine andere Definition angemessener. Die Bezeichnung „Schmerzstörung“ ohne den Zusatz „somatoform“ entspricht viel eher dem Umstand, dass „psychogen“ bedingte Schmerzen auch ein organisches Substrat haben (können), wenngleich dieses aufgrund des gegenwärtigen Standes der Wissenschaft oft noch nicht ausreichend bekannt ist. Das Konzept der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung nach den klinisch-diagnostischen Leitlinien des ICD-10 ist der Gefahr ausgesetzt, dass durch den Fortschritt der medizinischen Wissenschaft immer mehr ursprünglich als „somatoform“ definierte Schmerzstörungen umdiagnostiziert werden müssen, weil ein organisches Substrat entdeckt wird, obwohl bei derselben Schmerzsymptomatik nach wie vor psychische und psychosoziale Faktoren beteiligt sind.

  2. Die Erkenntnis eines psychophysiologischen Mechanismus, wie dies z.B. beim Muskelverspannungsschmerz (Spannungskopfschmerzen) der Fall ist, würde zu einer anderen Diagnose als F45.4 führen, nämlich zu einem Hauptkode aus dem nicht-psychiatrischen Bereich, obwohl psychosoziale Stressfaktoren als Auslöser bekannt sind. Diese Kritik wird nicht durch den Umstand entschärft, dass im ICD-10 auch nicht rein organisch erklärbare Schmerzen als „somatoform“ bezeichnet werden können.

  3. Im ICD-10 fehlt die durchaus bedeutsame Unterscheidung zwischen akuten und chronischen somatoformen Schmerzen. Der Zusatz „anhaltend“ vernachlässigt die Differenzierung zwischen akuten und chronischen Schmerzen, wie sie im DSM-IV vorgenommen wurde. Durch die Forderung nach anhaltenden Schmerzen werden im ICD-10 somit Schmerzstörungen vernachlässigt, die weniger als sechs Monate andauern. Bei kürzer dauernden Schmerzzuständen spielen psychologische und soziale Faktoren ebenfalls eine wichtige Rolle.

  4. Die ICD-10-Diagnose „anhaltende somatoforme Schmerzstörung“ beruht auf der gleichermaßen problematischen Diagnose „somatoforme Schmerzstörung“ des früheren amerikanischen psychiatrischen Diagnoseschemas DSM-III-R. Diese Diagnose war unpassend für viele chronische Schmerzpatienten und war auch nicht anwendbar auf Patienten mit akuten Schmerzen, bei denen gleichzeitig auch psychologische und soziale Faktoren Schmerz auslösend oder verstärkend wirkten.

In Deutschland gibt es wegen der Problematik der Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung seit 2009 folgende Erweiterung, die auch in Österreich möglich ist:

F45.4   anhaltende Schmerzstörung

F45.40 anhaltende somatoforme Schmerzstörung: keine ausreichenden körperlichen Ursachen zur Erklärung der Schmerzen

F45.41 chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren: körperliche Ursachen, psychosozial verstärkt

 

Sonstige somatoforme Störungen (F45.8)

Jedes medizinische Fach kennt funktionelle Störungen. Viele werden unter F45 nicht dezidiert erfasst. Zu den sonstigen somatoformen Störungen (F45.8) werden jene durch organische Ursachen nicht ausreichend begründbare körperliche Beschwerden gezählt, die nicht durch das autonome Nervensystem vermittelt werden. Im DSM-IV können diese Beschwerden als undifferenzierte Somatisierungsstörung klassifiziert werden. Die Symptome sind auf bestimmte Organe oder Teile des Körpers beschränkt (z.B. auf die Haut), was im Gegensatz zu den vielfältigen und oft wechselnden Symptomen bei einer Somatisierungsstörung und einer undifferenzierten Somatisierungsstörung steht.

Als „sonstige somatoforme Störungen“ werden jene somatoformen Störungen kodiert, die nicht den Kriterien einer definierten somatoformen Störung entsprechen. Alle Empfindungsstörungen, bei denen keine körperliche Ursache, wohl aber ein zeitlicher Zusammenhang mit belastenden Ereignissen und Problemen besteht oder eine erhöhte Aufmerksamkeit des Betroffenen auf die Symptomatik gegeben ist, werden hier klassifiziert. Im ICD-10 werden folgende Störungen als Beispiele angeführt:

Globus hystericus“ (Kloßgefühl im Hals) u. andere nichtorganische Schluckstörungen (Dysphagie)

Psychogener Schiefhals (Torticollis spasticus) u. andere nichtorganische krampfartige Bewegungen

Psychogener Pruritus (exklusive Alopezie, Dermatitis, Ekzem oder psychogene Urticaria)

Psychogene Dysmenorrhö (exklusive Dyspareunie und Frigidität)

Zähneknirschen (Bruxismus)

 

Neueste Entwicklungen zur Diagnostik

Die Gruppe der somatoformen Störungen wurde 1980 im amerikanischen psychiatrischen Diagnoseschema DSM-III eingeführt und 2013 mit dem neuen DSM-5 wieder vollständig abgeschafft zugunsten einer völlig anderen Diagnose, der „Monsterdiagnose“ Somatische Belastungsstörung, die gar nicht mehr zwischen somatoformen und organischen Störungen unterscheidet, sondern alles Mögliche umfasst.

Die somatoformen Störungen wurden 1992 in das ICD-10 übernommen, das bei uns seit 2011 gilt. Im Jahr 2019 wird von der WHO das ICD-11 beschlossen. Wie im DSM-5 wird auch im ICD-11 die Gruppe der Somatoformen Störungen abgeschafft, jedoch nichtg ersatzlos gestrichen, sondern in anderer und weitaus besserer Form beibehalten, indem auch körperliche Aspekte berücksichtigt werden. Der neue Name wird lauten: bodily distess disorder - körperliche Belastungsstörung.

  

DSM-5: Somatische Belastungsstörung und verwandte Störungen

1.   Somatische Belastungsstörung (somatic symptom disorder) umfasst folgende ICD-10-Störungen:  F45.0, F45.1, F45.2, F45.3, F45.4)

a.  eines oder mehrere somatische Symptome, die belastend sind oder zu erheblichen Einschränkungen in der alltäglichen Lebensführung führen (organisch oder nicht)

b.  diesbezüglich exzessive Gedanken, Gefühle, Verhaltensweisen und damit einhergehende Gesundheitssorgen mit mindestens einem der drei folgenden Merkmale:

c.    obwohl keines der einzelnen somatischen Symptome durchgängig vorhanden sein muss, ist der Zustand der Symptombelastung persistierend (länger als 6 Monate)

2.  Krankheitsangststörung (Krankheitsfurcht ohne starke Körpersymptome)

3.  Konversionsstörung (funktionelle neurologische Störung)

4.  Psychologische Faktoren, die eine körperliche Krankheit beeinflussen

5.  Vorgetäuschte Störung: Selbstmanipulation/Münchhausen-Syndrom

6.  Andere (nicht) näher bezeichnete somatische Belastungsstörung  

Die Diagnosekategorie „Somatische Belastungsstörung“ ist so breit formuliert, dass sie bereits zur Kritik daran geführt hat. Es ist dabei völlig egal, ob körperliche Faktoren vorhanden sind oder nicht. Manche Kritiker meinen, mit dieser Diagnose könnten alle möglichen körperlich Kranken zu einem Psycho-Patienten gemacht werden.

 

Kurzanleitung für die Exploration (nach Rief & Hiller)

1.  Anlass und Umstände der Kontaktaufnahme zum Psychotherapeuten.

2.  Vollständige Erhebung der körperlichen Befunde, Vorbehandlungen und weiterer anamnestischer Angaben, testpsychologische Untersuchungen, Abklärung organischer Ursachen und Komplikationen.

3.  Diagnostik der Untergruppe der somatoformen Störung.

4.  Diagnostik komorbider Störungen, auch in der gesamten Lebensspanne.

5.  Bisherige Erklärungsversuche für die Beschwerden.

6.  Subjektive Beeinträchtigungen durch die Beschwerden; Zusammenhänge mit Lebensplänen.

7.  Physiologische Befindlichkeit.

8.  Verhaltensaspekte: Krankheitsverhalten, Kontrollverhalten, Rückversicherung, „Doctor Shopping“, Schonverhalten, Vermeidungsstrategien.

9.  Kognitive Aspekte: Aufmerksamkeitsfokussierung, Gesundheitsbegriff, katastrophisierende Bewertung körperlicher Missempfindungen,  Selbstkonzept.

10. Verstärkungsbedingungen und Gratifikationen. Krankheitsmodelle und Vorerfahrungen. Modelle für Kranksein in der Familie, relevante Lebensereignisse (z.B. Krebs der Mutter), allgemeine Lebensbedingungen, Belastungen und Konflikte.

11. Definition von Therapiezielen und Klärung der Rahmenbedingungen.

 

Übersicht über einige mögliche therapeutische Ansätze zur Behandlung somatoformer Störungen

 

Ratschläge für Ärzte (nach Rief & Hiller)

1.  Bestätigen Sie die Glaubwürdigkeit der Beschwerden.

2.  Sprechen Sie frühzeitig an, dass die wahrscheinlichste Ursache für die Beschwerden keine schwere Krankheit ist, sondern eine Störung der Wahrnehmung von Körperprozessen, wie sie oftmals unter Stress vorkommt. Bieten sie gegebenenfalls weitere Erklärungsmöglichkeiten an.

3.  Vermeiden Sie unnötige Eingriffe (z.B. häufige Wiederholung von Untersuchungen).

4.  Vermeiden Sie Bagatelldiagnosen und sonstige Verhaltensweisen, die den Patienten in seiner organischen Sichtweise der Erkrankung verstärken.

5.  Vereinbaren Sie feste Termine für Nachuntersuchungen. Versuchen Sie, den Patienten zu unterstützen, „spontane“ Arztbesuche zu vermeiden.

6.  Motivieren Sie zu einer gesunden Lebensführung (z.B. Stressabbau) und beugen Sei inadäquatem körperlichem Schonverhalten vor.

7.  Stellen Sie Rückfragen und lassen Sie den Patienten das Gespräch zusammenfassen, um mögliche Informationsverzerrungen beim Patienten zu erkennen.