Dr. Hans Morschitzky
Klinischer Pychologe, Psychotherapeut
Verhaltenstherapie, Systemische Familientherapie
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PSYCHOSOMATIK
Einleitung
Bei einem Viertel aller Patienten werden keine oder keine ausreichenden organischen Ursachen gefunden – trotz modernster Hightech-Medizin und ausführlichster Untersuchungen.
Viele Betroffene können die Diagnose „ohne Befund“ (o.B.) einfach nicht glauben und entwickeln einen regelrechten „Ärzte-Tourismus“, der in der Fachsprache „Doctor-Shopping“ genannt wird.
Diese Menschen sind oft tief verzweifelt, fühlen sich von den Ärzten nicht verstanden oder gar als Simulanten abgestempelt.
Bei zahlreichen anderen Patienten wurzeln die körperlichen Beschwerden sehr
wohl in organischen Ursachen; zudem wirken aber auch psychische und soziale
Faktoren und beeinflussen die Krankheitsentwicklung sehr ungünstig.
In beiden Fällen besteht ein enges Zusammenspiel von körperlichen und psychischen Faktoren.
Ein Denken in Körper-Seele-Zusammenhängen ist in der Medizin sowohl
angesichts des großen individuellen Leidensdrucks als auch hinsichtlich der
hohen volkswirtschaftlichen Kosten psychosomatischer Leidenszustände unbedingt
erforderlich.
Immer mehr Menschen suchen nach einer ganzheitlichen Erklärung und Behandlung ihrer Beschwerden und wünschen sich sehnlich eine Medizin, die auch die seelischen Aspekte stärker berücksichtigt.
Dies zeigt sich auch in der Nachfrage nach entsprechender Literatur. Der Markt wird von einer umfangreichen Populärliteratur dominiert, die als Mischung aus Esoterik, positivem Denken und Psychologismus bezeichnet werden kann und das Psychosomatik-Verständnis des deutschen Durchschnittslesers stark geprägt hat.
Angesichts der in der klinischen Alltagspraxis leider oft
noch immer dominierenden „Medizin ohne Seele“ entsprechen diese Bücher zwar dem
Bedürfnis vieler Menschen nach einer humanen Medizin, sie vermitteln jedoch
eine andere extreme Betrachtungsweise, nämlich eine „Seele ohne Körper“.
Diese
Darstellung positioniert sich ganz bewusst „in der Mitte“ und möchte eine
umfassendere, komplexere Sichtweise psychosomatischer Störungen vermitteln: auf
der Basis eines biopsychosozialen Krankheitsverständnisses, das körperliche
Störungen als komplexes Geschehen mit psychischen, psychosozialen und biologischen
Komponenten versteht.
Ziel ist eine im besten Sinne populäre, leicht verständliche und gleichzeitig seriöse Darstellung der Psychosomatik.
Im
Mittelpunkt stehen die körperlichen Störungen ohne organische Ursachen
(somatoforme und dissoziative Störungen) und die körperlichen Störungen mit
psychologischen Faktoren und Verhaltenseinflüssen (psychosomatische Störungen
im engeren Sinne).
TEIL1: GRUNDLAGEN DER PSYCHOSOMATIK
Psychosomatik im
Wandel der Zeit: von der Antike bis zur Gegenwart
Befindlichkeitsstörungen
Funktionelle Störungen
Psychosomatische Störungen im engeren Sinne
Somatopsychische Erkrankungen
Zentrale Aspekte der Psychosomatik
Biologische Aspekte
Psychologische Aspekte
Therapeutische Aspekte
TEIL 2: DIE VIELEN GESICHTER
DER PSYCHOSOMATISCHEN
STÖRUNGEN
Wenn sich alles um
das Herz dreht
Herzphobie – Todesangst trotz gesunden Herzens
„Etwas auf dem Herzen haben“: Herz und Psyche
Funktionelle Störungen
Organische Störungen
Psychosomatische Konzepte
Wenn der Blutdruck
entgleist
Psychogener Bluthochdruck – aus dem Lot durch Stress und Ärger
„Auf 180 sein“: Blutdruck und Psyche
Funktionelle Störungen
Organische Störungen
Psychosomatische Konzepte
Wenn der Atem stockt
Hyperventilation – Atemnot durch zu viel Atmen
„Vor Wut schnauben“: Atmung und Psyche
Funktionelle Störungen
Organische Störungen
Psychosomatische Konzepte
Wenn der Magen
rebelliert
Reizmagen – der Bauch in Aufruhr
„Eine Wut im Bauch haben“: Magen und Psyche
Funktionelle Störungen
Organische Störungen
Psychosomatische Konzepte
Wenn der Darm streikt
Reizdarm – die gestörte Verdauung
„Schiss haben“: Darm und Psyche
Funktionelle Störungen
Organische Störungen
Psychosomatische Konzepte
Wenn die Blase Druck
macht
Reizblase – der ständige Drang zum Toilettenbesuch
„Sich vor Angst in die Hose machen“: Blase und Psyche
Funktionelle Störungen
Organische Störungen
Psychosomatische Konzepte
Wenn die Haut juckt
Neurodermitis – Kratzen macht alles noch ärger
„Sich in seiner Haut nicht wohl fühlen“: Haut und Psyche
Funktionelle Störungen
Organische Störungen
Psychosomatische Konzepte
Wenn Frauen
spezifische Beschwerden haben
Chronische Unterleibsbeschwerden – kaum Linderung durch Operationen
„Sei nicht so hysterisch“: Frauenbeschwerden und Psyche
Funktionelle Störungen
Organische Störungen
Psychosomatische Konzepte
Wenn die Ohren
dröhnen
Tinnitus – Disco im Ohr
„Sich taub stellen“: Ohren und Psyche
Funktionelle Störungen
Organische Störungen
Psychosomatische Konzepte
Wenn Hals, Nase oder
Stimme leiden
Globusgefühl – ständiges Engegefühl im Hals
„Etwas schnürt die Kehle zu“: Hals, Nase, Stimme und Psyche
Funktionelle Störungen
Organische Störungen
Psychosomatische Konzepte
Wenn der Stress ins
Auge geht
Verminderte Sehleistung – trüber Blick durch Verspannung und Depression
„Die Augen vor etwas verschließen“: Augen und Psyche
Funktionelle Störungen
Organische Störungen
Psychosomatische Konzepte
Wenn die Zähne
knirschen
Bruxismus – der nächtliche Horror
„Sich die Zähne ausbeißen“: Zähne und Psyche
Funktionelle Störungen
Organische Störungen
Psychosomatische Konzepte
Wenn die Bewegung
gestört ist
Schwankschwindel – ständige Angst vor dem Umfallen
„Den Halt verlieren“: Bewegung und Psyche
Funktionelle Störungen
Organische Störungen
Psychosomatische Konzepte
Wenn Schmerzen den
Körper plagen
Chronische Rückenschmerzen – das Kreuz mit dem Kreuz
„Das schmerzt mich sehr“: Schmerzen und Psyche
Funktionelle Störungen
Organische Störungen
Psychosomatische Konzepte
Schlussbemerkung
Literaturverzeichnis
TEIL1: GRUNDLAGEN DER PSYCHOSOMATIK
Psychosomatik im Wandel der Zeit: von der Antike bis zur
Gegenwart
Das Wort „Psychosomatik“ ist zusammengesetzt aus den zwei griechischen Worten psyche = Seele und soma = Körper und bezeichnet das Wechselspiel zwischen körperlichen und seelischen Vorgängen.
Eine psychosomatische Reaktionsweise ist durchaus eine
gesunde Form des Erlebens, denn jedes Gefühl führt zu körperlichen Reaktionen
und jede körperliche Reaktion löst bestimmte Gefühle aus.
Mit den Bezeichnungen „psychosomatische Krankheiten“ und „Psychosomatosen“ ist dagegen eine pathologische Form von Körper-Seele-Beziehung gemeint, nämlich das Zusammenwirken körperlicher und psychischer Faktoren für Entstehung und Verlauf von Krankheiten.
Psychosomatik bedeutet nicht, den körperlichen Faktoren
weniger, sondern den seelischen Faktoren mehr Bedeutung zu geben!
Es ist eine
alte Volksweisheit, dass Emotionen den Körper stark beeinflussen können. Der
enge Körper-Seele-Zusammenhang spiegelt sich auch in der Sprache wider: „Das
Herz schlägt mir bis zum Hals“, „Da bleibt mir die Luft weg“, „Mein Hals ist
wie zugeschnürt“, „Ich habe eine Wut im Bauch“ sind nur einige Beispiele dafür.
Im Wort Emotion steckt das lateinische Wort motio, das „Bewegung“ bedeutet. Gefühle bewegen uns nicht nur innerlich, sondern aktivieren auch unseren Körper und versetzen ihn in Anspannung.
Ein Beispiel:
Angst. Das Wort „Angst“ geht zurück auf das lateinische Wort
angustiae, das Enge oder Beklemmung bedeutet.
Schon unsere Vorfahren verstanden Angst als eine körperliche Reaktion, die die
Kehle zuschnürt, das Herz bedrängt und die Brust so einschnürt, dass die Luft
wegbleibt.
Bereits der altgriechische Arzt Hippokrates glaubte, dass Gefühle ein Organ beherrschen könnten: Bei Ärger kontrahiere sich das Herz und bei Freude erweitere es sich.
Spekulationen über
Körper-Seele-Zusammenhänge und dem damaligen Wissen entsprechende
Behandlungsüberlegungen wurden bereits in der Antike angestellt.
Der griechische Philosoph Platon lässt Sokrates im Dialog zu einem jungen Mann mit Kopfschmerzen sagen: „Wenn es den Augen wieder gut gehen solle, muss der ganze Kopf und wenn es dem Kopf wieder gut gehen solle, muss der ganze Leib und wenn es dem gesamten Menschen wieder gut gehen solle, so muss auch die Seele behandelt werden.“
Durch bestimmte
Heilsprüche im Sinne „guter Reden“ sollten seelische Ausgeglichenheit und
Harmonie erreicht werden.
In der Medizin der griechischen Antike wurden körperliche und psychische Faktoren gleichermaßen berücksichtigt, im Mittelalter dagegen vertrat die Kirche die strikte Trennung von Leib und Seele, und im 17. Jahrhundert begründete der französische Philosoph René Descartes jenen wissenschaftlichen Dualismus von Leib und Seele, dessen unheilvolle Auswirkungen bis in die jüngste Vergangenheit festzustellen sind.
Er löste zwar
die Wissenschaft aus ihrer unglücklichen theologischen Umarmung und ermöglichte
dadurch die wissenschaftliche Erforschung des Menschen, er förderte damit jedoch
in der Medizin ein rein reduktionistisches und mechanistisches Verständnis des
Menschen als Körper ohne Seele.
Im 19. Jahrhundert setzte sich diese einseitige Betonung körperlicher Faktoren fort – auch eine Folge der großen Fortschritte in der Medizin. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand eine Gegenbewegung, ausgelöst durch die aufkommende Psychoanalyse.
Die moderne Psychosomatik wurzelt in den Arbeiten von Sigmund Freud und seinen Schülern, durch die eindrucksvoll die Bedeutung der Psyche für die Entwicklung körperlicher Störungen aufgezeigt wurde.
Mit dem Modell der Konversion sollte dargelegt
werden, wie psychische Konflikte in körperliche Symptome „konvertiert“ werden
können. Davon abgesehen hat Freud jedoch keine speziellen Theorien und Behandlungskonzepte
zur Psychosomatik entwickelt.
Die historisch bedeutsamste psychoanalytische Konzeption psychosomatischer Störungen stammt von dem nach Chicago emigrierten deutschen Internisten und Psychoanalytiker Franz Alexander, der 1950 sein epochales Werk Psychosomatische Medizin veröffentlichte.
Er
beschreibt darin die so genannten
„heiligen sieben“
psychosomatischen Erkrankungen mit einer angeblich
krankheitsspezifischen Psychodynamik: peptisches Geschwür (Ulcus pepticum),
Asthma bronchiale, Bluthochdruck (Hypertonie), rheumatoide Arthritis, Migräne,
Colitis ulcerosa, Neurodermitis.
Schon Alexander hielt interessanterweise den Begriff der psychosomatischen Krankheit als spezifische diagnostische Einheit für wertlos und verstand die Psychosomatik als Methode des Vorgehens; er förderte jedoch durch seine Arbeit die Entwicklung der Psychosomatik als eigenständige Disziplin in der Medizin.
Seine Theorie in aller Kürze: Bestimmte körperliche Störungen entstehen durch einen spezifischen, weitgehend unbewussten psychischen Konflikt, der in einem Widerspruch zwischen zwei Bedürfnissen oder einem Bedürfnis und einem Verbot besteht.
So kann etwa der Wunsch nach Abhängigkeit, Anlehnung und Umsorgtsein im Widerspruch stehen zum gleichzeitigen Bedürfnis nach Unabhängigkeit und Selbstständigkeit.
Dem Bedürfnis wird niemals nachgegeben, sodass aus der blockierten Bedürfnishandlung und der nicht abgeführten emotionalen Spannung eine chronische vegetative Fehlsteuerung resultiert.
Wenn aggressive Impulse nicht ausgelebt werden, kommt es durch die Daueraktivierung des sympathischen Nervensystems zuerst etwa zu einer anhaltenden Blutdrucksteigerung und später zur Hypertonie.
Es kann daraus aber auch – je nach Veranlagung – eine Migräne
oder rheumatoide Arthritis entstehen. Wenn dagegen passiv-regressive Wünsche
nach Umsorgt- und Behütet-Werden blockiert werden, kann die damit verbundene
längere parasympathische Überaktivierung zu Störungen wie
Zwölffingerdarmgeschwür, Colitis ulcerosa oder Asthma führen.
Dieser als Spezifitätstheorie bezeichnete Ansatz von Alexander, wonach bestimmte Krankheiten durch krankheitsspezifische Konflikte entstehen (wenngleich nur in Zusammenhang mit einer bestimmten biologischen Veranlagung), ist heute als überholt anzusehen und konnte durch die Forschung nicht bestätigt werden.
Die Auffassung, Patienten mit denselben körperlichen Symptomen seien auch in seelischer Hinsicht gleich, ist ein Mythos.
Eine bestimmte
psychosomatische Störung wird eben
nicht durch störungsspezifische Konflikte, sondern durch völlig unterschiedliche
psychische und psychosoziale Faktoren (oft über ein geschwächtes Immunsystem)
ausgelöst, aufrechterhalten oder verschlimmert.
In ähnlicher Weise haben auch psychosomatische Konzepte auf der Basis bestimmter Persönlichkeitstypen Schiffbruch erlitten.
Es gibt keine bestimmte Persönlichkeit des Migränekranken, Magenkranken, Krebskranken o.ä., wenngleich diese Konzepte noch immer nicht ganz ausgerottet sind und sich gerade in der Populärliteratur und in der unreflektierten klinischen Praxis nach wie vor großer Beliebtheit erfreuen.
Ebenso wenig ist das beliebte psychoanalytische Erklärungsmodell
einer gestörten Mutter-Kind-Beziehung
bei Patienten mit einer psychosomatischen Störung haltbar, das eine
ungebührliche Schuldzuweisung an oftmals sehr bemühte Mütter darstellt.
Es ist geradezu eine Diskriminierung psychosomatisch Kranker, wenn diesen ohne detaillierten Nachweis eine bestimmte ungelöste psychische Konfliktkonstellation, eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur oder ein bestimmtes pathologisches Beziehungsmuster unterstellt wird.
Anders formuliert: Aus dem Vorliegen einer bestimmten organischen Krankheit (z.B. Magengeschwür) darf nicht automatisch auf eine bestimmte psychische oder psychosoziale Problematik (z.B. „Hinunterschlucken“ von Ärger, Konflikt mit der Mutter) geschlossen werden.
Dies widerspricht nicht
nur der Menschenwürde, sondern auch den wissenschaftlichen Erkenntnissen,
wonach psychosomatische Störungen sehr komplexe, multifaktorielle Erkrankungen
sind.
Es ist ein Grundproblem einseitiger psychosomatischer Konzepte, dass ihre Vertreter bei den Patienten immer nach jenen Ursachen suchen, die sie bereits vorher in die psychosomatische Krankheit hineingelegt haben.
Eine solche unkritische Haltung ist problematisch, weil sie die Komplexität der Psychosomatik reduziert.
In der
Psychotherapie ist es dagegen unbedingt erforderlich, bei jedem einzelnen
Patienten die störungsrelevanten individuellen Denk-, Erlebens- und
Verhaltensweisen sowie die krank machenden Lebensbedingungen herauszufinden.
Zur Veranschaulichung sollen einige „Highlights“ simplifizierender Psychosomatik-Konzepte der Vergangenheit erwähnt werden.
Es heißt,Der Begriff „psychosomatisch“ wurde früher von vielen Psychoanalytikern im Sinne eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs zwischen Körper und Seele verstanden anstatt im Sinne einer Wechselwirkung auf der Basis eines multifaktoriellen Bedingungsgefüges.
Die frühere Gleichsetzung „psychosomatisch = psychogen“ ist falsch und hat sich als sehr verhängnisvoll herausgestellt, weil dabei die Komplexität vieler körperlicher Erkrankungen nicht berücksichtigt wird.
Die daraus folgende
unrichtige Gleichsetzung „Psychosomatik = spezifische Psychogenese bestimmter
körperlicher Störungen“ wird zunehmend auch von Psychoanalytikern aufgegeben.
Das Fehlen organischer Ursachen berechtigt noch nicht zur Unterstellung bestimmter psychogener Wirkfaktoren.
Anders formuliert: Die Notwendigkeit einer psychologischen
und psychotherapeutischen Behandlung ergibt sich nicht aus dem Vorliegen einer
bestimmten psychosomatischen Krankheit, sondern aus dem Nachweis bestimmter
psychologischer Faktoren und Verhaltenseinflüsse, die bei verschiedenen
körperlichen Erkrankungen in einem bestimmten zeitlichen Zusammenhang stehen,
ohne dass deswegen ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis gegeben sein muss.
1977 wurde von George Engel, einem amerikanischen Arzt und Psychoanalytiker, das biopsychosoziale Krankheitsmodell vorgestellt. Demnach beeinflussen sich Körper, Psyche und soziale Umwelt wechselseitig.
Dieses ganzheitliche, integrative Krankheitsverständnis, das alle biologischen, psychologischen und sozialen Ebenen des Erkrankungsprozesses berücksichtigt, stellt derzeit die konzeptionelle Basis in der modernen Psychosomatik dar.
Im
Einzelnen sind damit noch nicht bestimmte psychosomatische Erkrankungen erklärt,
es werden aber folgende Phänomene verständlich: Unter psychischen und
psychosozialen Extrembelastungen kann jeder Mensch körperlich erkranken;
dieselben Belastungsfaktoren können zu unterschiedlichen Erkrankungen führen;
verschiedenartige Stresssituationen können zur gleichen Krankheit führen;
bestimmte Menschen erkranken eher als andere, weil sie über unzureichende
Bewältigungsstrategien verfügen und ungünstigere Lebenssituationen vorhanden
sind.
Psychosomatik und Verhaltensmedizin – zwei unterschiedliche
Sichtweisen derselben Thematik
Der
Fachausdruck „Psychosomatik“ kann in zweifacher Bedeutung verstanden werden:
Allgemeine Zustimmung findet folgende Definition: Die Psychosomatik beschäftigt sich mit psychischen Ursachen, Begleit- und Folgeerscheinungen körperlicher Störungen sowie deren Auswirkungen auf das psychosoziale Umfeld des Patienten und auf die Beziehung zwischen Patient und Arzt bzw. Therapeut.
In Anlehnung an die Definition der psychotherapeutischen Medizin
kann Psychosomatik aber auch folgendermaßen zutreffend umschrieben werden:
Psychosomatik umfasst die Erkennung, die medizinische und psychotherapeutische
Behandlung sowie die Rehabilitation von Krankheiten und Leidenszuständen, an
deren Verursachung, Auslösung, Aufrechterhaltung, Verschlimmerung und
subjektiven Verarbeitung psychische und psychosoziale Faktoren und/oder
körperlich-seelische Wechselwirkungen beteiligt sind.
Man kann das
Feld der Psychosomatik nach vier Gesichtspunkten und Aufgabenbereichen
charakterisieren:
Gegenwärtig stehen
sich im Bereich der Psychosomatik – soweit es die Psychotherapie betrifft –
zwei zentrale Sichtweisen und Behandlungsmethoden gegenüber:
Verhaltensmedizin ist die Anwendung der Verhaltenstherapie auf den Bereich der Medizin. Umfassender definiert ist Verhaltensmedizin ein interdisziplinärer (biopsychosozialer) Ansatz, die Gesundheits- und Krankheitsmechanismen unter Berücksichtigung psychosozialer, verhaltensbezogener und biomedizinischer Wissenschaften zu erforschen und die empirisch geprüften Erkenntnisse und Methoden in der Vorbeugung (Prävention), Behandlung und Rehabilitation einzusetzen.
Die
Wortverbindung von „Verhalten“ und „Medizin“ verdeutlicht den Zusammenhang von
Verhalten, das besonders in der Psychologie erforscht wird, und von
körperlichen Prozessen, die vorwiegend in der Medizin untersucht werden, und
unterstreicht die biopsychosoziale Grundkonzeption der Verhaltensmedizin.
Im Gegensatz zu einer psychoanalytisch verstandenen Psychosomatik werden in der Verhaltensmedizin die naturwissenschaftliche und interdisziplinäre Ausrichtung (Einbeziehung aller relevanten Wissenschaften wie Psychologie, Medizin, Biochemie, Soziologie u.a.), die empirisch-wissenschaftliche Überprüfbarkeit der Zusammenhänge zwischen Verhalten/Erleben und körperlichen Erkrankungen sowie die Bedeutung der Prävention psychosomatischer Störungen stärker betont.
Die Anfänge der Verhaltensmedizin liegen in den 70er Jahren des letzten
Jahrhunderts.
In neuerer Zeit werden sowohl von führenden Fachleuten als auch in der klinischen Praxis psychoanalytische und verhaltenstherapeutische Konzepte immer stärker integriert.
Dies zeigt sich vor allem auch in Büchern und Tagungen, die
zunehmend Methoden übergreifend angelegt sind.
Das weite Feld der Psychosomatik
Seit
Franz Alexander
werden vier unterschiedlich schwerwiegende psychosomatische
Krankheitsobergruppen im weitesten Sinne unterschieden:
1. Befindlichkeitsstörungen
Körperliches und seelisches Befinden hängen eng zusammen – das weiß jeder, der einmal wegen Problemen in Beziehung oder Beruf unzufrieden und unglücklich war.
Befindlichkeitsstörungen sind überwiegend psychisch oder psychosozial bedingte
körperliche Beschwerden, bei denen weder chronische Störungen des vegetativen
Nervensystems noch krankhafte Gewebeveränderungen oder Schädigungen von Organen
bestehen.
Es handelt sich dabei um körperliche Symptome bei an sich gesunden Menschen. 80 % der Bevölkerung erleben im Laufe einer Woche irgendein körperliches Symptom, ohne sich deswegen schon krank zu fühlen.
Die häufigsten Beschwerden sind Kopfschmerzen, gefolgt von Magenbeschwerden.
Durch die Form der persönlichen Wahrnehmung und der subjektiven Krankheitstheorie können diese Beschwerden jedoch bald sehr belastend sein.
Befindlichkeitsstörungen können somit nach und nach in funktionelle oder somatoforme Störungen übergehen, die dann als Krankheiten gelten – obwohl die Betroffenen körperlich gesund sind.
Derartige
körperliche Symptome können auch bei fast jeder erlebnisreaktiven, depressiven
und früher so genannten „neurotischen“ Störung auftreten.
Funktionelle Störungen
Funktionelle Störungen sind Beeinträchtigungen der körperlichen Funktionen ohne organische Ursachen, die häufig psychisch mitbedingt sind.
Sie beruhen meistens auf einer Störung des autonomen (vegetativen) Nervensystems und äußern sich dann in Form von Symptomen wie Herzrasen, Atemnot, Schwitzen oder Magen-Darm-Beschwerden.
Manchmal ist auch das willkürliche Nervensystem beeinträchtigt; Störungen der
Bewegung, des Sprechens, Hörens oder Sehens sind die Folge.
Funktionelle Störungen sind oft Ausdruck dafür, dass dem Körper zwar Energie bereitgestellt, diese dann aber nicht abgerufen oder verwendet wird, sodass es zu Fehlsteuerungen und Missempfindungen kommt.
Man sollte die Bezeichnung
„funktionell“ nicht generell mit „psychisch“ oder „psychogen“ gleichsetzen,
denn funktionelle Störungen können auch andere als rein seelische Ursachen
haben, wenn sie nicht durch organische Befunde erklärbar sind (z.B. Alkohol-
oder Medikamentenmissbrauch, körperliche oder seelische Überforderung ohne
psychiatrische Krankheitswertswertigkeit).
Jeder Vierte geht zum Arzt mit körperlichen Beschwerden, die keine oder keine hinreichende organische Ursache haben.
Die Betroffenen verhalten sich wie Patienten, obwohl
sie gesund sind, während sich viele andere Menschen, die eigentlich Patienten
sein sollten, sich so verhalten, als wären sie gar nicht krank. Im Umgang mit
dem eigenen Körper neigen die einen zur Überbewertung körperlicher Symptome und
die anderen zum Gegenteil, nämlich zur Krankheitsverleugnung.
Man kann drei
Arten von funktionellen Störungen unterscheiden:
Körperliche Symptome ohne ausreichende organische Ursachen werden im internationalen Diagnoseschema ICD-10, das in Deutschland seit 2000 und in Österreich seit 2001 verbindlich ist, „somatoforme Störungen“ genannt – womit die frühere offizielle Bezeichnung „körperliche Funktionsstörungen psychischen Ursprungs“ ersetzt ist.
Viele Betroffene erhielten früher auch folgende Diagnosen: vegetative Dystonie,
vegetative Neurose, psychovegetative Labilität oder psychophysischer Erschöpfungszustand.
Somatoforme Störungen sind häufig psychisch oder psychosozial mitbedingte körperliche Beeinträchtigungen der vegetativen Funktionen ohne Gewebeveränderungen.
Die Bezeichnung „somatoform“ besagt, dass diese Störungen wie körperlich verursachte ausschauen, es nach genauer Untersuchung jedoch nicht sind.
Die Betroffenen selbst sind allerdings überzeugt, eine körperliche Erkrankung zu haben. Es besteht also eine Diskrepanz zwischen objektivem Befund und subjektivem Befinden.
Substanzielle organische Ursachen fehlen zwar, dennoch sollte der Begriff
„somatoform“ nicht mit „psychogen“
gleichgesetzt werden, weil die jeweilige Symptomatik oft durch eine
Wechselwirkung von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren
ausgelöst, aufrechterhalten und bestärkt wird.
In die klinische Praxis haben die neuen Diagnosen noch nicht ausreichend Eingang gefunden.
Viele Ärzte behelfen sich noch immer mit harmlosen Scheindiagnosen und unspezifischen Medikamenten („Pseudoplacebos“ wie etwa allgemeinen Stärkungspräparaten), wodurch sie ihre Patienten oft ungewollt weiterhin in der Annahme einer organischen Ursache bestärken.
Auch die früher sehr beliebte
Diagnose einer „larvierten Depression“ ist eine reine Verlegenheitslösung.
Demnach soll sich hinter der Maske körperlicher Symptome eine depressive
Symptomatik verbergen. Ohne genaue diagnostische Abklärung werden dann
routinemäßig Antidepressiva verschrieben.
Die Diagnose einer somatoformen Störung erfordert weder den Nachweis einer organischen Ursache (im Sinne einer „echten“ körperlichen Erkrankung mit psychogener Überlagerung), noch die Aufdeckung einer psychischen Verursachung (etwa im Sinne eines krank machenden Konflikts).
Die Abgrenzung zwischen organischen und psychischen Faktoren wird oft überschätzt.
Eine somatoforme Störung ist auch
dann gegeben, wenn eindeutig eine organische Ursache der körperlichen Symptomatik
nachweisbar ist (z.B. bei Rückenschmerzen oder chronischen
Unterbauchschmerzen), die Schwere, das Ausmaß, die Vielfalt und die Dauer der
Beschwerden sowie die psychosozialen Beeinträchtigungen durch den organischen
Befund jedoch nicht ausreichend erklärt werden können.
Anders gesagt:
Bei den somatoformen Störungen geht es nicht primär um den Nachweis einer
psychischen Ursache oder den Ausschluss einer organischen Ursache, sondern um
die Beschreibung eines typischen Verhaltensmusters, bei dem neben Symptomen,
wie sie in der Medizin zur Diagnostik allgemein üblich sind, auch typische kognitive Überzeugungen der Patienten
(z.B. subjektive Krankheitstheorien) und bestimmte Interaktionsmuster (Art der Arzt-Patient-Beziehung, soziales
Verhalten) bedeutend sind.
Menschen mit somatoformen Störungen haben nicht einfach nur die Eigenschaft, vielfältige körperliche Symptome zu entwickeln, sondern auch das ständige Bedürfnis, diese durch Kontakte mit Ärzten untersuchen und behandeln zu lassen.
Die Betroffenen werden erst dann für nichtmedizinische Behandlungsansätze offen sein, wenn sie ihre organisch orientierten Ursachenerklärungen ändern.
Der entscheidende Behandlungsfaktor ist (parallel zu einer breit
angelegten Aufklärung der Bevölkerung) ein verständnisvoller und geduldiger
Umgang der Ärzte mit den Betroffenen – statt der üblichen organischen
Ausschlussdiagnostik und der routinemäßigen Verschreibung von Antidepressiva,
Beruhigungsmitteln und Scheinmedikamenten.
Somatoforme Störungen können unterschiedliche Ursachen haben. Meist liegen körperliche und seelische Belastungen bzw. Überforderungen zugrunde – Stress im weitesten Sinn.
Warum bei Stress eine ganz bestimmte
körperliche Symptomatik entsteht, kann nur personspezifisch verstanden und im
Einzelfall geklärt werden.
Grundsätzlich
sind bei somatoformen Störungen
drei Arten von
Ursachen zu unterscheiden:
1. verstärkte Wahrnehmung der Beschwerden, Aufmerksamkeitsfixierung und
erhöhtes Erregungsniveau,
2. Bewertung der Vorgänge als krankhaft,
3. Entwicklung somatoformer Beschwerden,
4. Entwicklung eines Schon- und Vermeidungsverhaltens mit einer folglich immer
ausgeprägteren Symptomatik, die wiederum wahrgenommen wird und den Teufelskreis
verstärkt.
Bei Menschen mit somatoformen Störungen findet man eine längere Symptomdauer, längere Krankenstände, häufigere Arztbesuche und Klinikaufenthalte als bei vielen anderen Patienten mit vorwiegend psychischen Störungen und Verhaltensstörungen.
Somatoforme Störungen sind ein Musterbeispiel dafür, wie wichtig in Zukunft die
Zusammenarbeit von Ärzten, Psychologen und Psychotherapeuten ist.
Patienten mit somatoformen Störungen finden sich meistens in der Praxis von Hausärzten und Internisten, weniger bei Psychiatern.
Noch immer haben viele Betroffene Angst, wegen nichtorganischer, „eingebildeter“ Störungen für psychisch krank oder gar verrückt erklärt zu werden.
Sie haben einfach große Probleme damit, dass die
„Hightech-Medizin“ bei der Diagnose und Behandlung ihrer Störung versagt hat.
Personen mit somatoformen Störungen sind auch gegenwärtig noch immer als „Stiefkinder“ der Medizin und der Psychotherapie anzusehen.
Der unzureichende Behandlungsstand in der klinischen Praxis weist auf Schwachstellen in unserem Gesundheitssystem hin.
Die Betroffenen erfahren im Rahmen der jahrelangen Chronifizierung oft
auch vonseiten ihrer sozialen Umwelt Unverständnis, Ablehnung, Hilflosigkeit
und Aggression und werden nicht selten als Hypochonder abqualifiziert.
Bei zahlreichen Patienten mit somatoformen Störungen findet man in der Vergangenheit oder in der Gegenwart auch eine Depression, Angststörung oder Persönlichkeitsstörung.
Die psychischen Symptome stehen dabei jedoch nicht im Vordergrund des Krankheitserlebens, was die Diagnosestellung erschweren kann.
Bei vielen somatoformen Patienten sind dagegen keine psychischen Symptome gegeben.
Eine somatoforme Störung ist oft nur erkennbar, wenn über die
aktuellen organbezogenen Beschwerden hinaus auch frühere körperbezogene
Symptome ohne ausreichenden Organbefund erfragt werden.
Es ist auffallend, dass viele Patienten mit somatoformen Beschwerden sehr belastende Lebensereignisse oft ohne starke Emotionen berichten.
Während aus Beobachtersicht die emotionale Belastung in Form von Körperbeschwerden zum Ausdruck kommt, sehen die Betroffenen selbst meist keine derartigen Zusammenhänge.
Sie wissen
zwar um ihre psychosozialen Belastungssituationen, können sich jedoch nicht
vorstellen, wie sie davon krank werden könnten.
Es ist sehr bemerkenswert, dass in der neueren Diagnostik und Therapie erstmals interaktionelle Aspekte wie die Arzt-Patient-Beziehung berücksichtigt werden.
Oft treten tatsächlich
fast unüberwindliche Kommunikationsstörungen auf: Jeder (Arzt und Patient)
versucht den anderen vergeblich von seiner Sichtweise zu überzeugen, sodass
sich häufig ein Zustand gegenseitiger Frustration ergibt.
Somatoforme
Störungen können zusammenfassend folgendermaßen beschrieben werden:
Häufig besteht ein gewisses Aufmerksamkeit suchendes Verhalten,
besonders bei Patienten, die ihre Ärzte nach allen unergiebigen Untersuchungen
nicht von den organischen Ursachen überzeugen bzw. zu weiteren entsprechenden
Untersuchungen und Behandlungen veranlassen konnten.
Man
unterscheidet sechs Gruppen von somatoformen Störungen:
2. Somatoforme Störungen
F 45.0 Somatisierungsstörung
Es bestehen seit mindestens zwei Jahren multiple und wechselnde körperliche Symptome ohne ausreichende organische Ursachen.
Die Sorgen über die körperlichen Symptome führen zu mehrfachen Arztkontakten oder Zusatzuntersuchungen in der Primärversorgung oder bei Spezialisten.
Die ärztliche Feststellung, dass keine ausreichende körperliche
Ursache für die Symptomatik besteht, wird von den Betroffenen nicht oder nur
kurz akzeptiert.
Insgesamt müssen mindestens 6 von 14
Symptomen aus 2 von 4 verschiedenen Organbereichen vorhanden sein:
Gastrointestinale Symptome:
Kardiovaskuläre
Symptome:
Urogenitale Symptome:
Haut- und Schmerzsymptome:
Fleckigkeit oder Farbveränderungen der HautF45.1 Undifferenzierte
Es handelt sich um eine unvollständige Somatisierungsstörung im Sinne einer Restkategorie:
Die Kriterien der
Somatisierungsstörung sind nur unvollständig erfüllt (kürzere Dauer, weniger
Arztbesuche, weniger Symptome).
F45.2 Hypochondrische
Es besteht seit mindestens sechs Monaten die Angst oder sogar die feste Überzeugung, körperlich schwer krank zu sein, was durch ärztliche Informationen nicht korrigiert werden kann.
Die Betroffenen bewerten harmlose Symptome als gefährlich und verhalten sich dementsprechend.
Die ständigen körperbezogenen Sorgen führen zu Leidenszuständen, Einschränkungen der Lebensmöglichkeiten und häufigen Arztbesuchen.
Die Dysmorphophobie als Angst bzw. Überzeugung körperlich entstellt zu sein, gilt als Unterkategorie der Hypochondrie.
F45.3 Somatoforme
Es besteht eine belastende,
nichtorganische vegetative Erregung in einem der folgenden Bereiche:
Es müssen mindestens drei vegetative
Symptome vorhanden sein:
F45.4 Anhaltende somatoforme Schmerzstörung
Es besteht seit mindestens sechs Monaten eine kontinuierlich an den meisten Tagen anhaltende, schwere und belastende Schmerzsymptomatik ohne ausreichende organische Ursache, die im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Patienten steht.
Emotionale und psychosoziale Faktoren müssen dabei eine ursächliche Bedeutung haben.
Aufgrund dieser zu "psychogenen" Definition, die nach dem bio-psycho-sozialen Krankheitsmodell überholt ist, unterscheidet man heutzutage folgende Arten von Schmerzstörungen:
F45.4 Anhaltende Schmerzstörung
F45.41 Anhaltende somatoforme Schmerzstörung
F45.42 Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren
F45.8 Sonstige somatoforme Störungen
Dazu zählen alle nicht durch das autonome
Nervensystem vermittelte, jedoch auf bestimmte Systeme oder Körperteile (z.B.
Haut) begrenzte Symptome mit Leidensdruck ohne organische Ursachen.
Symptome wie Kopf-, Brust-, Nacken-, Rücken- oder Gliederschmerzen sind weltweit die häufigsten Körperbeschwerden, gefolgt von funktionellen Beschwerden wie Schwindel, Übelkeit, Blähungen, Reizdarm und Herzrasen.
Bis zu 13 % der Bevölkerung leiden im Laufe ihres Lebens an einem behandlungsbedürftigen somatoformen Syndrom.
Der Anteil somatoformer Störungen beträgt in
Allgemeinarztpraxen sogar bis zu 35 %, in Allgemeinkrankenhäusern bis zu 30 %.
Somatoforme Störungen werden auch durch geschichtliche und soziokulturelle Faktoren geprägt.
Vor hundert Jahren etwa litten Betroffene meist unter motorischen Symptomen wie Lähmungen oder nichtorganischen Krampfanfällen, heute stehen oft anhaltende Schmerzen im Mittelpunkt des Erlebens.
Interessant ist auch dieser
Aspekt: Dieselben psychischen Probleme und Belastungen äußern sich im deutschen
Sprachraum körperlich völlig anders als am Balkan oder in Entwicklungsländern.
Somatoforme
Störungen können in psychosomatische Störungen mit Gewebeveränderungen bzw.
organische Funktionsstörungen übergehen.
Dissoziative Störungen
Das aktuelle Diagnoseschema ICD-10 unterscheidet im Bereich der nichtorganischen körperlichen Störungen zwischen „somatoformen Störungen“ und „dissoziativen Störungen“.
Bei dissoziativen Störungen werden unmittelbare Empfindungen, die Kontrolle von Körperbewegungen, Erinnerungen an die Vergangenheit und überhaupt das Bewusstsein der eigenen Identität nur teilweise oder gar nicht integriert.
Die Kontrolle darüber, welche Erinnerungen und Empfindungen für die unmittelbare Aufmerksamkeit ausgewählt und welche Bewegungen ausgeführt werden, ist massiv gestört und führt zu einem extremen Funktionsverlust.
Psychische und körperliche Funktionen sind also dissoziiert, abgespalten, voneinander entkoppelt.
Je nach Ausprägung kann es sich dabei um körperlich-dissoziative
Störungen (z.B. psychogene Gangstörung) oder kognitiv-dissoziative Störungen
(z.B. psychogene Gedächtnisstörung) handeln.
In psychosomatischer Hinsicht relevant sind die körperlich-dissoziativen Störungen, die durch traumatisierende Ereignisse, unlösbare oder unerträgliche Konflikte oder gestörte Beziehungen, also psychogen verursacht sind.
Sie werden aufgrund der psychoanalytischen Tradition auch als Konversionsstörungen bezeichnet.
Der Begriff „Konversion“, der bereits von Sigmund Freud eingeführt wurde, betont dabei den Umstand, dass die durch unlösbare Schwierigkeiten und Konflikte hervorgerufenen unangenehmen Emotionen in irgendeiner Weise in Symptome umgesetzt werden.
Dabei besteht keine Störung des Bewusstseins.
Konversionssymptome und kognitiv-dissoziative Symptome mit Störungen des
Bewusstseins wie etwa einem psychogenen Gedächtnisverlust können jedoch
gemeinsam auftreten, z.B. bei dissoziativen Krampfanfällen.
Man
unterscheidet drei Gruppen von körperlich-dissoziativen Störungen
(Konversionsstörungen):
Nichtorganische motorische Funktionsstörungen:
psychogene Gang- und StandstörungF44.5 Dissoziative Krampfanfälle
Nichtepileptische (psychogene) Anfälle
Konversionsstörungen sind nichtorganische Beeinträchtigungen im Bereich der Willkürmotorik und der Sinneswahrnehmung, während somatoforme Störungen primär bei vegetativen Organen auftreten.
In den USA wurden früher (im DSM-IV) beide Gruppen als somatoforme Störungen bezeichnet.
Als dissoziative Störungen gelten in den USA auch heute noch (im DSM-5) nur die kognitiv-dissoziativen Störungen als dissoziative Störungen.
Die eigenständige Position der körperlich-dissoziativen Störungen im internationalen Diagnoseschema ist ein Tribut an die Geschichte der Hysterie, die seit Sigmund Freud als Ausdruck bestimmter Konflikte gesehen wurde.
Diese Störungen wurden früher unter dem Einfluss der Psychoanalyse als „Hysterie“, „hysterische Neurose“ oder „Konversionsneurose“ bezeichnet.
Sie werden auch
„pseudoneurologische Störungen“ genannt, weil sie wie neurologische Störungen
ausschauen, es aber nach genauer organischer Abklärung nicht sind.
Die verschiedenen Konversionssymptome entsprechen oft den laienhaften Vorstellungen des Patienten von einer körperlichen Erkrankung und stimmen typischerweise nicht mit den bekannten anatomischen Bahnen und physiologischen Mechanismen überein, sodass sie vom Fachmann relativ leicht als nicht neurologisch bedingte Symptome zu erkennen sind.
Bei einer Konversionssymptomatik passen die Symptome
also nicht zu den unauffälligen organmedizinischen körperlichen Befunden (z.B.
trotz scheinbarer Lähmung intakte motorische Funktionen, Blindheit bei normalen
Pupillenreaktionen) und auch nicht zur Anatomie des Nervensystems (z.B. Gefühllosigkeitsempfindungen
im Widerspruch zum Versorgungsbereich des sensorischen Nervensystems).
Die Betroffenen verleugnen in auffälliger Weise ihre Probleme und Schwierigkeiten und führen diese allein auf die Symptome als solche zurück und zwar auch dann noch, wenn andere Menschen ihre Probleme und Konflikte längst erkannt haben.
Sie sehen keine entsprechenden Zusammenhänge, was sich oft, jedoch nicht immer in einer Gleichgültigkeit gegenüber der Störung bzw. in einem geduldigen Ertragen der Störung äußert.
Die Symptomatik hilft den Betroffenen, einem unangenehmen
seelischen Konflikt zu entgehen oder indirekt Abhängigkeit oder Verstimmung
auszudrücken.
Während bei
einer dissoziativen Störung ein überzeugender Zusammenhang zwischen einem
auslösenden Ereignis bzw. Konflikt und der aktuellen Symptomatik gefunden
werden muss (der Ausschluss organischer Ursachen reicht nicht aus für eine
erforderliche positive Diagnose), ist dies bei einer somatoformen Störung nicht
notwendig.
Die Symptomatik setzt oft akut ein und kann sich spontan zurückbilden, kann aber auch in einen chronischen Verlauf übergehen.
Der Grad der Behinderung durch die Konversionssymptome kann wechseln und hängt auch von der Zahl und der Art der anwesenden Personen sowie vom emotionalen Zustand des Betroffenen ab.
Neben den zentralen und konstanten Symptomen von Bewegungsverlust oder Empfindungsstörungen kann zusätzlich auch ein Aufmerksamkeit suchendes Verhalten unterschiedlichen Ausmaßes vorhanden sein.
Im Gegensatz zur weiten Verbreitung der somatoformen Störungen treten Konversionsstörungen nur bei maximal 0,3 % der Bevölkerung auf und zwar bei Frauen mindestens doppelt so häufig wie bei Männern.
Die verschiedenen somatoformen und
körperlich-dissoziativen Störungen werden bei den einzelnen Organbereichen
detailliert dargestellt.
Syndrome im Umkreis somatoformer Störungen
Zu den somatoformen Störungen werden oft auch verschiedene andere Syndrome und Modediagnosen gezählt, bei denen bislang keine organischen Ursachen gesichert werden konnten.
Es handelt sich dabei vor allem um das chronische Erschöpfungssyndrom und um die Umweltkrankheiten (umweltbezogene Körperbeschwerden).
Verschiedene Fachleute zählen auch andere Störungen wie chronischen Tinnitus
(quälende Ohrgeräusche ohne äußere Reizquelle) oder die Schmerzstörung
Fibromyalgie zu den somatoformen Störungen.
Chronisches
Erschöpfungssyndrom
Dieses Syndrom wurde zuerst in den USA untersucht und als undifferenzierte somatoforme Störung bezeichnet.
Im internationalen Diagnoseschema
ICD-10 wird es außerhalb der Gruppe der
somatoformen Störungen unter der antiquierten Bezeichnung „Neurasthenie“
erfasst, nach neueren Forschungsbefunden ist es als Variante einer somatoformen Störung anzusehen.
Das chronische Erschöpfungssyndrom ist eine schwere und lang dauernde Erschöpfung, für die keine organische Ursache gefunden werden kann und die durch Ruhe oder Schonung nicht deutlich zu beheben ist.
Als Hauptkriterium gilt eine anhaltende Müdigkeit oder leichte Ermüdbarkeit, die mindestens sechs Monate andauert, neu aufgetreten ist, nicht durch eine andere Erkrankung erklärt werden kann, nicht Folge einer chronischen Belastungssituation ist, durch Bettruhe nicht deutlich zu beheben ist sowie eine erhebliche Reduktion der Leistungsfähigkeit bewirkt.
Als
Nebenkriterien müssen mindestens vier der folgenden Symptome mindestens sechs
Monate lang vorhanden sein: Halsschmerzen, schmerzhafte Lymphknoten,
Muskelschmerzen, wandernde, nichtentzündliche Gelenkschmerzen, neu aufgetretene
Kopfschmerzen, Konzentrations- und Kurzzeitgedächtnisstörungen, keine Erholung
durch Schlaf, verlängerte, mehr als 24 Stunden generalisierte Erschöpfung nach
früher tolerierten Beanspruchungen.
Wegen der
starken körperlichen Beschwerden sind die Betroffenen davon überzeugt, an einer
organischen Erkrankung zu leiden und lehnen jede psychische Komponente
entschieden ab, sodass Überweisungen zu Psychiatern und Psychotherapeuten oft
nur schwer möglich sind.
Die Ursachen des chronischen Erschöpfungssyndroms sind derzeit noch unklar.
Man vermutet jedoch eine Störung der komplexen Regulation zwischen Nervensystem, hormonellem System und Immunsystem.
Rund 1 % der Bevölkerung ist betroffen, wobei erhebliche Überschneidungen mit anderen psychischen Störungen bestehen.
75 bis 90 % der Betroffenen haben gleichzeitig auch Depressionen, generalisierte Angststörungen oder somatoforme Störungen (Beschwerden wie z.B. Schwindelgefühle, Muskelschmerzen, Anspannung, Unwohlsein).
Die Symptomatik verschlechtert sich durch eine lange Dauer und die damit verbundene Inaktivität, sodass durch ein stufenweises Aktivierungsprogramm eine Chronifizierung verhindert werden muss.
Die Betroffenen sollen so viel belastet
und aktiviert werden wie möglich und so viel geschont werden wie nötig.
Umweltkrankheit
Besonders in den USA sind viele Menschen davon überzeugt, dass die moderne Technik und die heutige Umwelt, die etwa durch Chemikalien belastet ist, den Körper krank machen.
Unter dem Begriff der Umweltkrankheit werden
im Weséntlichen vier Arten
zu einem Syndrom zusammengefasst:
Die frühere Bezeichnung „multiple chemische Sensitivität“ wird heute durch den Begriff „idiopathische umweltbezogene Unverträglichkeiten“ ersetzt.
„Idiopathisch“ heißt so viel wie „selbstständig, ohne erkennbare Ursache entstanden“.
Diese Diagnose darf also nur gestellt werden, wenn bekannte organmedizinische oder psychiatrische Störungen als Ursache ausgeschlossen werden können.
Die
Bezeichnung „umweltbezogen“ soll nur zum Ausdruck bringen, dass die Betroffenen
ihre Beschwerden auf Umwelteinflüsse zurückführen, während die meisten anderen
Menschen dieselben Umweltprobleme ohne Beschwerden ertragen.
Im Gegensatz zu klar definierten Krankheitsbildern mit konkret nachgewiesenen Substanzen wie Erkrankungen durch Asbest belastete Räume sind die Ursachen der Umweltkrankheit unbekannt – nicht für deren Verfechter, die alle möglichen Stressfaktoren anführen, denen wir in der modernen Welt ausgesetzt sind, z.B. die belastete Luft in den Städten, Dieselabgase, Tabakrauch, organische Lösungsmittel, Pflanzenschutzmittel, verschiedene Kunststoffe, parfümierte Shampoos, Medikamente, Baustoffe, Reinigungsmittel, elektromagnetische Kräfte.
Die
Vertreter dieses Störungskonzepts behaupten, dass etwa 2 bis 10 % der
Bevölkerung unter derartigen Beschwerden leiden würden.
Die Betroffenen
leiden nach Auffassung der meisten Fachleute unter einer somatoformen Störung,
haben jedoch ein Bedürfnis nach einer organischen Erklärung ihrer Symptome und
suchen die Schuld dafür in der Außenwelt, und zwar in der Lebensweise der
westlich-industriellen Welt sowie in der modernen Technik.
3. Psychosomatische Störungen im engeren Sinne
Unter psychosomatischen Störungen im engeren Sinne versteht man alle Organschädigungen oder Störungen körperlicher Funktionsabläufe, die so stark durch psychische bzw. psychosoziale Faktoren beeinflusst sind, dass organmedizinische Ursachen allein das Geschehen nicht ausreichend erklären können.
Anders formuliert handelt es sich dabei um körperliche Krankheiten mit einer nachweisbaren Gewebeschädigung von Organen oder mit einer organisch bedingten Störung körperlicher Funktionen.
Psychische oder soziale Faktoren
spielen dabei eine mehr oder weniger bedeutsame Rolle in der Auslösung,
Aufrechterhaltung oder Verschlimmerung der Störung.
Psychosomatische Störungen im engeren Sinne werden sehr allgemein definiert als psychologische Faktoren und Verhaltenseinflüsse bei andernorts klassifizierten Krankheiten, die die Entstehung oder den Verlauf dieser Erkrankungen beeinflusst haben.
Man sollte daher zukünftig auch im medizinischen Alltag die offizielle Bezeichnung „psychologische Faktoren oder Verhaltenseinflüsse bei …“ verwenden (z.B. mit dem Zusatz „bei Asthma bronchiale“).
Psychosomatische Störungen im engeren Sinne erfordern also eine Doppeldiagnose: einerseits den Code für psychologische Faktoren, andererseits den Code für die jeweilige organische Störung.
Als typische Beispiele für derartige Doppeldiagnosen gelten folgende Erkrankungen: Asthma bronchiale, Magengeschwür, Darmgeschwür, Dermatitis, Ekzem, Nesselsucht (Urtikaria).
Bei
stärkerer Ausprägung psychiatrischer Symptome ist zusätzlich auch noch die
entsprechende psychiatrische Diagnose wie etwa „Anpassungsstörung, längere
depressive Reaktion“ zu stellen. Dies kommt gerade bei Schmerzpatienten im
klinischen Alltag häufig vor.
Psychosomatische Patienten verstehen oft lange Zeit das Zusammenspiel von Körper und Seele nicht.
Sie trennen den körperlichen und den seelischen Bereich strikt voneinander, sodass sie zu einseitigen, rein körperlichen Behandlungsversuchen neigen – und dies wird häufig noch durch die Vertreter der entsprechenden Behandlergruppen verstärkt!
Sie stehen ihren Beschwerden oft verständnislos gegenüber, verharren in einer organisch fixierten Krankenrolle und wandern von Arzt zu Arzt in der Hoffnung auf eine rein organische Problemlösung.
Die Betroffenen erleben ihre „Seele“, das heißt ihre Bedürfnisse und Gefühle, nicht mehr direkt, sondern nur mehr verfremdet über ihren Körper und müssen lernen, ihr Leiden vom Körperlichen und vom Seelischen her zu verstehen und zu verändern.
Eine Minderheit neigt dagegen zu rein seelischen Erklärungsversuchen
und vernachlässigt die organmedizinische Seite der Erkrankung.
Neben den dissoziativen, somatoformen und psychosomatischen Störungen im engeren Sinne gibt es im aktuellen Diagnoseschema noch eine weitere Kategorie seelisch-körperlicher Störungen: „Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren“.
Dazu gehören vor allem die Essstörungen, die
nichtorganischen Schlafstörungen und die nichtorganischen sexuellen
Funktionsstörungen. Auf diese Störungen kann hier
nicht näher eingegangen werden.
4. Somatopsychische Erkrankungen
Unter somatopsychischen Erkrankungen versteht man körperliche Grunderkrankungen, als deren Folge sich seelische Symptome und psychosoziale Beeinträchtigungen ergeben oder die eine intensive psychische Verarbeitung (Krankheitsbewältigung) erfordern.
Kurz gesagt handelt es sich dabei um die psychischen und sozialen Folgeerscheinungen organischer Erkrankungen sowie um deren Bewältigung.
Im Rahmen des heute gängigen biopsychosozialen Krankheitsverständnisses geht man davon aus, dass jede Krankheit eine körperliche, psychische und soziale Komponente hat:
Primär psychische Störungen wie eine Angststörung oder eine Depression zeigen sich auch in Form körperlicher Symptome, primär körperliche Krankheiten haben auch psychische und soziale Auswirkungen, die ebenso bedacht und bewältigt werden müssen wie die organische Grundstörung.
Demnach kann man jede körperliche Erkrankung unter
psychosomatischen Gesichtspunkten betrachten.
Je chronischer der Verlauf einer körperlichen Erkrankung, umso häufiger treten die organischen Aspekte zugunsten der psychischen und psychosozialen in den Hintergrund.
Da rein medizinische Maßnahmen allein oft keine ausreichende Besserung bringen, werden psychosomatische bzw. verhaltensmedizinische Behandlungskonzepte zukünftig immer wichtiger, um die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern.
Diese Sichtweise erfordert eine interdisziplinäre
Zusammenarbeit aller heilenden und helfenden Berufsgruppen.
Typische Beispiele für Krankheiten und Operationen mit somatopsychischen Folgezuständen sind etwa:
Krebs, AIDS, koronare Herzkrankheiten, Asthma bronchiale, Magen-Darm-Geschwüre, bestimmte Hautkrankheiten, Diabetes mellitus, Schilddrüsenerkrankungen, rheumatische Erkrankungen, zahlreiche Schmerzstörungen, Autoimmunstörungen, chronische Niereninsuffizienz (bei Dialyse-Patienten), Epilepsie, Kopfverletzungen, Kopfoperationen und Erkrankungen des Gehirns.
Bei diesen und anderen chronischen Beschwerden gilt das in der Organmedizin vorherrschende eindimensionale biomedizinische Krankheitsverständnis nicht mehr.
Im Rahmen einer umfassenden Therapie müssen
auch die Lebensgewohnheiten, sozialen Belastungen, individuellen
Verhaltensgewohnheiten und psychosozialen Rahmenbedingungen bedacht werden.
Ziel aller psychologisch-psychotherapeutischen Interventionen bei chronischen Erkrankungen ist es, die Lebensqualität zu verbessern und die Gefahr einer zunehmenden Behinderung abzuwenden.
Psychosoziale Faktoren sind während der gesamten Rehabilitation von immenser Bedeutung.
Es wird geschätzt, dass 35 bis 40 % aller Krankenhaus-Patienten neben der körperlichen Erkrankung auch psychische Beeinträchtigungen aufweisen.
Es handelt sich dabei vor allem
um meist schon chronifizierte psychische Störungen wie Angststörungen,
Depressionen, somatoforme Störungen sowie Alkohol- und Medikamentenmissbrauch
bzw. -abhängigkeit, die den Prozess der körperlichen Genesung negativ
beeinflussen.
Menschen mit schweren körperlichen Erkrankungen müssen als Folge der
körperlichen Symptome, operationsbedingten Entstellungen und körperlichen
Funktionseinbußen oft zahlreiche psychische und soziale Probleme bewältigen
lernen:
Zentrale Aspekte der Psychosomatik
Im Folgenden soll in aller Kürze auf einige
wichtige biologische, psychologische und therapeutische Aspekte der
Psychosomatik hingewiesen werden.
Biologische
Aspekte
Nervensystem
Man unterscheidet zwischen dem Zentralnervensystem (Gehirn und Rückenmark) und dem peripheren Nervensystem (dem Rest des Körpers), das in das animalische (somatische, willkürmotorische) und in das vegetative (autonome, unwillkürliche) Nervensystem unterteilt wird.
Das vegetative Nervensystem
besteht aus drei Ästen und zwar dem sympathischen (aktivierenden) und dem
parasympathischen (entspannenden) Nervensystem sowie dem Darmnervensystem
(enterischen Nervensystem).
Für die Psychosomatik sind vor allem die Großhirnrinde, das limbische System, das vegetative und das enterische Nervensystem von zentraler Bedeutung.
Die Großhirnrinde
ermöglicht die intellektuellen Leistungen, die spezifische Interpretation von
motorischen und sensorischen Reizen, die Reaktion des Körpers auf diese Reize
sowie die Neuorganisation bei Veränderungen, Verletzungen oder Verlust von
Körperteilen.
Das
limbische System
Das vegetative Nervensystem regelt den inneren Betrieb des Körpers, hält alle lebenswichtigen Organtätigkeiten aufrecht und passt den Körper an wechselnde Umweltbedingungen an.
Es steuert Kreislauf, Atmung, Stoffwechsel, Ernährung, Eingeweide,
Verdauung, Drüsentätigkeit, Temperatur, Ausscheidung, Aktivität, Schlaf,
Wachstum, Reifung und Fortpflanzung.
Das sympathische Nervensystem dient der körperlichen Aktivierung, indem es etwa den Herzschlag und den Blutdruck steigert, die Herzkranzgefäße sowie die Blutgefäße der arbeitenden Muskulatur erweitert, die Blutgefäße der Haut und der inneren Organe verengt, die Skelettmuskulatur anspannt, die Lunge erweitert und die Atmung beschleunigt, Zucker und Fettsäuren vermehrt ausschüttet und den Stoffwechsel beschleunigt.
Dieselben körperlichen Reaktionsweisen werden auch durch bestimmte
Gefühle wie Wut und Ärger ausgelöst, um den Körper rasch auf Angriff oder
Verteidigung vorzubereiten.
Das
parasympathische Nervensystem dient der Ruhe und Erholung sowie dem
Energieaufbau, indem es etwa den Herzschlag verlangsamt, den Blutdruck senkt,
die Herzkranzgefäße sowie die Blutgefäße der arbeitenden Muskulatur verengt,
die Blutgefäße der Haut und der inneren Organe erweitert und damit die
Durchblutung verbessert, die Skelettmuskulatur erschlafft und entspannt, den
Stoffwechsel reduziert, die Lunge verengt, die Verdauungstätigkeit und die
Ausscheidung fördert.
Körperliche und seelische Gesundheit erfordert die Balance von Aktivität und Ruhe, das heißt einen Wechsel von Anspannung und Entspannung.
Bei starken Erregungszuständen werden beide Äste des vegetativen Nervensystems gleichzeitig tätig: Große Angst vor einer schwierigen Prüfung führt einerseits zu Herzrasen, andererseits zu Übelkeit, Harn- oder Stuhldrang.
Wenn das an sich gute
Zusammenspiel von sympathischem und parasympathischem Nervensystem gestört ist,
etwa durch anhaltenden Stress ohne Abbau der aufgestauten körperlichen
Anspannung, kommt es zu zahlreichen psychovegetativen Beschwerden im Sinne
somatoformer Störungen.
Endokrines
System
Das endokrine System ist neben dem Nervensystem das zweite Kommunikationssystem im Körper: Es setzt spezielle Botenstoffe (Hormone) aus den Drüsen des Körpers frei und beeinflusst auf diesem Weg die jeweiligen Organe des Körpers.
Dem Hypothalamus-Hypophysen-System im Kopf obliegt die ständige Kontrolle über die Freisetzung und Hemmung von Hormonen im Körper und damit auch die Steuerung des vegetativen Nervensystems.
Der Hypothalamus als übergeordnete Region und die Hypophyse als Ort der Ausschüttung zahlreicher Hormone zur Steuerung der einzelnen Organbereiche gelten als die Schnittstelle zwischen dem Gehirn und dem Körper:
Bereits geringe hormonelle Änderungen wie ein Anstieg des Kurzzeitstresshormons Adrenalin und des Dauerstresshormons Kortisol können starke Veränderungen des Verhaltens und Erlebens bewirken.
Andererseits können auch äußere Umstände wie belastende Lebensbedingungen zu hormonellen Veränderungen führen.
Bei erhöhtem Stress findet man oft einen erhöhten Kortisolspiegel, bei chronischem Stress dagegen einen gesenkten Kortisolspiegel als Ausdruck der Erschöpfung.
Ein veränderter Kortisolspiegel führt auch zu einer Veränderung in der Wahrnehmung von Schmerzreizen.
Stressoren wie hoher Arbeitsdruck, familiäre Belastungen oder großer Lärm führen zu Veränderungen der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (verstärkte oder verminderte Ausschüttung von Kortisol) und in der Folge zu psychosomatischen Störungen wie etwa chronischen Unterleibsschmerzen bei Frauen.
Immunsystem
Das Immunsystem bewahrt uns vor Krankheiten, indem es körperfremde und veränderte körpereigene Stoffe erkennt und diese durch bestimmte Substanzen, spezialisierte Zellen und andere Mechanismen abwehrt und bekämpft.
Dabei passt
sich das Immunsystem an unsere aktuellen Bedürfnisse und an unsere Lebensumwelt
an. Die weißen Blutkörperchen sind die zentralen Träger der Immunabwehr.
Wenn die Immunreaktion auf innere oder äußere pathologische Einflüsse zu stark oder zu schwach ist, werden wir krank. Bei einem äußeren pathologischen Einfluss kommt es zu Infektionskrankheiten, wenn das Immunsystem zu schwach ist, und zu Allergien, wenn das Immunsystem überschießend reagiert.
Bei einem
inneren pathologischen Einfluss kommt es zu Krebs, wenn das Immunsystem zu
schwach ist, und zu Autoimmunerkrankungen (z.B. chronische Polyarthritis,
multiple Sklerose), wenn das Immunsystem zu stark reagiert.
Immunsystem und Psyche stehen in enger wechselseitiger Interaktion: Einerseits beeinflussen Stress und Emotionen unser Immunsystem (z.B. verminderte Abwehrkräfte gegenüber pathologischen Einflüssen), andererseits beeinflussen Immunreaktionen unsere Befindlichkeit (z.B. erhöhtes Schmerzempfinden) und unser Verhalten (z.B. Müdigkeit).
Die Wechselwirkungen zwischen Immunsystem und Psyche sind von
großer Relevanz für das Verständnis vieler Krankheiten, insbesondere auch für
psychosomatische Störungen.
Wenn Stress zu psychosomatischen Erkrankungen führt, ist dies so zu erklären, dass das Immunsystem über komplizierte Prozesse geschwächt und der Körper krankheitsanfälliger wird.
Akuter kurz dauernder Stress bewirkt schon nach fünf Minuten Veränderungen verschiedener Immunwerte, die sich allerdings nach Beendigung der Stresssituation innerhalb einer Stunde wieder normalisieren. Anhaltende Belastungsfaktoren wie Ehekonflikte, Pflege schwer kranker Angehöriger, Verlust von Angehörigen, ständige berufliche Überforderung oder andere belastende Lebensereignisse führen dagegen als Folge der immunologischen Veränderungen zu krankheitswertigen Störungen.
Bei chronischem Stress ist das Immunsystem oft so erschöpft, dass sogar ein Schnupfen oder eine Wundheilung länger als nötig dauern.
Die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen
dem Erleben und Verhalten einerseits und dem Immunsystem andererseits werden in
der Psychoneuroimmunologie untersucht.
Psychologische
Aspekte
Im Folgenden
werden einige Begriffe und psychologische Konzepte vorgestellt, die für den
Bereich der Psychosomatik große Bedeutung erlangt haben.
Konversion
Der Begriff der Konversion bezeichnet die Umsetzung eines seelischen Konflikts in körperliche Symptome.
Ein nicht lösbarer Konflikt zwischen verschiedenen Bestrebungen führt aufgrund des massiven inneren Spannungszustands zu einem körperlichen Symptom, das vom Betroffenen nicht verstanden wird, dessen Funktion aber von einem Therapeuten aufgedeckt werden kann.
Es handelt sich sozusagen um eine körpersprachlich vermittelte Symbolisierung eines inneren Konflikts.
Der Vorgang der Konversion erfolgt unbewusst und dient der Vermeidung des unangenehmen oder unerträglichen unbewussten Konflikts.
Eine derartige Befreiung des Menschen von schweren inneren Spannungen wird „primärer Krankheitsgewinn“ genannt.
Als „sekundären Krankheitsgewinn“ bezeichnet man die in psychosozialer Hinsicht positiven Folgen der Erkrankung für den Betroffenen.
Ein Beispiel soll hier genügen: Eine nichtorganische Gangstörung kann etwa die Schwierigkeit ausdrücken, bestimmte Dinge allein zu unternehmen.
Letztlich beruhen viele Redewendungen, wie sie bei der Beschreibung der verschiedenen Organstörungen angeführt werden, auf einem konversionsneurotischen Erklärungsmodell (z.B. „Nicht auf eigenen Füßen stehen können“).
Das Konversionsmodell erklärt nur
ganz bestimmte Symptombildungen und keineswegs die Mehrzahl psychosomatischer
Störungen, wie dies früher von der Psychoanalyse behauptet wurde und auch
gegenwärtig in der Populärliteratur noch häufig vermittelt wird.
Somatisierung
Unter Somatisierung versteht man die Tendenz, körperliches Unbehagen und Symptome ohne ausreichende organische Ursache intensiv zu erleben, anderen zu kommunizieren, sie einer körperlichen Erkrankung zuzuschreiben und deshalb eine organmedizinische Behandlung anzustreben.
Somatisierung wird wie Angst oder Depressivität als fundamentaler menschlicher Mechanismus gesehen, auf subjektiv belastende Lebensumstände zu reagieren.
Während beim Konversionsmodell ein unbewusster
Konflikt angenommen wird, der sich symbolisch in Form bestimmter Symptome
äußert, enthält der Begriff der Somatisierung keine spezifischen Erklärungsmodelle,
Symptome, Einstellungen und Verhaltensweisen.
Emotionen
Die Art und Weise, wie Menschen mit ihren Gefühlen umgehen, wurde schon immer als bedeutsam für die Entstehung und den Verlauf funktioneller (somatoformer und dissoziativer) Symptome und psychosomatischer Störungen im engeren Sinne angesehen.
Die Konzepte der Verdrängung, der Alexithymie und der negativen
Affektivität sind in diesem Zusammenhang besonders wichtig.
Verdrängung stellt nach Sigmund Freud den Versuch dar, unangenehme Gefühle und Vorstellungen vom Bewusstsein fernzuhalten – was aber nicht vollständig gelingt, denn das Verdrängte kehrt schließlich in Form von Symptomen zurück.
Heute wird das Phänomen der Verdrängung auch von nichtpsychoanalytischen Autoren anerkannt, theoretisch jedoch anders erklärt und mit dem Begriff der Unterdrückung gleichgesetzt.
Nach verschiedenen Studien und klinischen Erfahrungen führt die Unterdrückung von Gefühlen zu einer erhöhten körperlichen Anspannung.
Die Auseinandersetzung mit Gefühlen – etwa durch Tagebuch-Schreiben
in Form einer emotional betonten Erlebnisverarbeitung – führt auch zu einer
kognitiven Neubewertung negativer Erfahrungen und damit zu erhöhtem
körperlichem und seelischem Wohlbefinden.
Alexithymie bezeichnet die Schwierigkeit, eigene Gefühle wahrzunehmen, zu beschreiben und auszudrücken sowie die Schwierigkeit, Emotionen und körperliche Empfindungen voneinander zu unterscheiden.
Es gehört zum Charakteristikum der Somatisierung, dass Patienten mit psychosomatischen Störungen auf psychisch belastende Lebensereignisse primär mit körperlichen anstatt mit seelischen Beschwerden reagieren.
Eine typische Alexithymie-Problematik weist jemand auf, der von
Schwitzen, Herzklopfen, Benommenheit, Übelkeit und einem flauen Gefühl im Magen
berichtet, aber nicht weiß, dass er Angst oder Wut hat und über diese Symptome
seine innere Befindlichkeit ausdrückt.
Negative Affektivität bedeutet, dass bestimmte Menschen auf Belastungen bevorzugt mit negativen Affekten wie Ärger, Feindseligkeit, Abscheu oder Schuld reagieren und diese Befindlichkeit vor allem in Form körperlicher Symptome erleben und ausdrücken.
Bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen scheint vor allem der falsche
Umgang mit Ärger und Feindseligkeit krankheitsbegünstigend zu wirken.
Übertriebene
Symptomwahrnehmung – somatosensorische Verstärkung
Abnormes und chronisches Krankheitsverhalten
Menschen mit einem abnormen Krankheitsverhalten bewerten und erleben sich als krank, obwohl der Arzt wiederholt darauf aufmerksam gemacht hat, dass kein Grund zur Besorgnis besteht.
Die Betroffenen
halten jedoch weiterhin an organmedizinischen Erklärungsmodellen fest und
ersuchen ständig bei allen möglichen Ärzten und Einrichtungen nach
dementsprechenden Behandlungen.
Bei chronischen
Erkrankungen entwickelt sich oft ein „chronischen Krankheitsverhalten“, das
durch folgende Verhaltensweisen charakterisiert ist:
Chronischer Stress
Chronischer Stress bewirkt eine Erschöpfung des Organismus und macht den Körper anfälliger für Kreislaufschwäche und vegetative Übererregbarkeit – der Nährboden für künftige psychosomatische Symptome!
Durch ein allgemein hohes Anspannungsniveau können schon alltägliche Stresssituationen, die in anderen Zeiten und Situationen problemlos bewältigt wurden, zum Auslöser von körperlichen Symptomen werden.
Es ist jedoch falsch, somatoforme Störungen und psychosomatische Erkrankungen im engeren Sinne generell als Stresskrankheiten zu bezeichnen.
Die Betroffenen haben oft nicht mehr Stress
als andere Personen, sondern erleben und bewerten bestimmte Situationen nur
belastender als diese.
Die Bedeutung von Stress für die Entstehung psychosomatischer Erkrankungen muss angesichts von einseitigen reinen Psychogenese-Modellen klar formuliert werden: Stress ist bei keiner einzigen psychosomatischen Störung die spezifische Ursache der Erkrankung, sondern ist „nur“ eine unterstützende Bedingung für den Ausbruch der Krankheit.
Anders gesagt: Stress ist dann ein krankheitsauslösender Faktor,
wenn andere Aspekte wie etwa eine bestimmte genetische Veranlagung oder eine
oft langjährige körperliche Entwicklung den Boden dafür bereiten.
Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Stress und Immun- bzw. Hormonsystem: übermäßiger Stress beeinflusst es negativ.
So gesehen kann sich chronischer Stress bei allen möglichen körperlichen Störungen krankheitsverschärfend auswirken.
Umgekehrt sind chronische Krankheiten ebenfalls als Stressoren anzusehen, vor
allem die damit verbundenen Einschränkungen, die Therapieanforderungen, die
Krankenhausaufenthalte, die Ungewissheit über den weiteren Verlauf und die
ständige Abhängigkeit vom medizinischen Versorgungssystem.
Kritische Lebensereignisse
Bestimmte kritische Ereignisse im Laufe des Lebens („Life Events“) wie etwa der Verlust eines Elternteils, schwere Erkrankungen in der Familie, Scheidung, Kündigung oder Umzug können somatoforme und psychosomatische Erkrankungen auslösen, aufrechterhalten oder verschlimmern.
Beginn und Ende des jeweiligen Ereignisses
sind relativ eindeutig, die Folgen können aber dennoch nicht verkraftet werden.
Bei chronischen
Belastungen wie etwa anhaltender Gewalt in der Familie, Alkoholabhängigkeit
eines Elternteils oder des Partners, chronischen Erkrankungen von Familienangehörigen
oder andauernder Überforderung in der Familie spricht man von chronischen
Stressoren; ihr Auftreten und Ende ist aus der Sicht des Betroffenen nicht
vorhersehbar, nicht beeinflussbar und daher auch nicht kontrollierbar.
Kontrolle und Beeinflussung der Lebenssituation
Krank machen nicht die Lebensereignisse und Belastungen an sich, sondern das Gefühl, die Kontrolle darüber verloren zu haben und keinen Einfluss darauf zu haben.
Die Kontrolle von Situationen und die Erwartung, durch eigenes Handeln eine bestimmte Wirkung erzielen zu können, ist in psychosomatischer Hinsicht ein zentraler Aspekt, der das Erkrankungsrisiko und den Gesundungsprozess beeinflusst und somit den Verlauf von Krankheiten bestimmt.
Das psychosoziale Umfeld und der individuelle Umgang mit Belastungen und körperlichen Beschwerden sind damit wichtige Quellen für die Entstehung und Bewältigung psychosomatischer Störungen.
So steigt etwa das Herzinfarktrisiko durch eine unkontrollierbare Arbeitssituation mit viel Stress und wenig Gehalt.
Dadurch erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit von Bluthochdruck, Schmerzstörungen wie Fibromyalgie, funktionellen Magen-Darm-Störungen und Erschöpfungszuständen (Burn-out-Syndrom). Schmerz- oder Tinnitus-Patienten erleben ihre Symptome durch diese Hilflosigkeit und mangelnde Beeinflussbarkeit noch schlimmer.
Nach verschiedenen Studien kann der Verlauf von Krankheiten durch psychologische Variablen wie Kontrollverlustgefühle, Depression oder Angst oft besser vorhergesagt werden als durch organmedizinische Merkmale.
Es ist daher ein zentrales Ziel der psychosomatischen Therapie, dem Patienten wieder mehr Kontrolle über seinen Körper, seine Symptome und seine aktuelle Lebenssituation zu ermöglichen.
Dieser Aspekt wird in der Verhaltensmedizin viel stärker betont
als in der psychoanalytisch orientierten Psychosomatik.
Bestimmte
Erfahrungen in der Kindheit und in der Jugend (vor allem belastende
Lebensumstände wie Verlusterlebnisse, Krankheit, mangelnde Fürsorge, extreme
Überbehütung, sozioökonomisch ungünstige Entwicklungsvoraussetzungen) können
die Entwicklung von somatoformen und psychosomatischen Störungen vorbereiten.
Auch die
Art und Weise, wie die Umwelt auf
verschiedene Körpersymptome reagiert, prägt und verstärkt möglicherweise die
Symptomatik und das jeweilige Krankheitsverhalten:
häufige Zuwendung der Eltern auf bestimmte körperliche Vorgänge beim Kind,
häufige Anweisungen der Mutter, sich warm anzuziehen und auf die richtige
Ernährung zu achten etc.
Eine bestimmte Form der Symptomverstärkung führt zum Phänomen des so genannten „sekundären Krankheitsgewinns“.
Gemeint sind dabei die angenehmen Folgen der Symptome, z.B. Entlastung, Schonung, Mitleid, Zuwendung, Krankenstand.
Die
Umwelt reagiert auf die Symptome in einer Weise, dass sie zu deren Aufrechterhaltung
beiträgt.
Verschiedene funktionelle Störungen wie Ohnmachtsanfälle, Übelkeit oder ständiger Harndrang können auch durch „Modelllernen“ entstehen, das heißt durch Beobachtung und Nachahmung des Verhaltens emotional bedeutsamer Personen.
Die
Betroffenen müssen die bedrohliche Krankheitserfahrungen keinesfalls selbst
gemacht haben, sondern können die Gefühle einer Gefährdung auch rein durch das
Beobachten anderer entwickelt haben (z.B.
schwerwiegende Erkrankungen oder Behinderungen von Familienmitgliedern; in der Familie lebende Großmutter mit
Krebserkrankung oder Alzheimer-Erkrankung; Mutter mit niedrigem Blutdruck
und/oder Schwindelzuständen, die sich ständig hinlegt).
Soziale
Unterstützung
Soziale Unterstützung durch vertraute Menschen oder eine soziale Gruppe ist für die körperliche und geistige Gesundheit immens wichtig.
Ein Fehlen wirkt sich bei körperlichen, psychischen und psychosomatischen Erkrankungen recht negativ auf den Genesungsprozess aus.
Die Art der sozialen Einbettung bestimmt also sehr wesentlich, wie gut eine Krankheit verarbeitet werden kann.
Dies zeigt sich beispielsweise bei Emigranten, Minderheiten oder ganz allgemein
bei chronischen Erkrankungen sehr deutlich.
Traumatisierung
Körperliche und sexuelle Traumatisierungen führen häufig zu somatoformen und psychosomatischen Störungen, weil sie Veränderungen in der Bewertung und im Erleben bestimmter körperlicher Vorgänge zur Folge haben.
Frauen mit sexuellen Missbrauchserfahrungen in der Kindheit und in der Jugend neigen im späteren Leben verstärkt zu Angst- und Panikstörungen, Depressionen, Sexualstörungen, Missbrauch oder Abhängigkeit von Substanzen sowie zu Magen-Darm-Beschwerden oder chronischen Unterleibsschmerzen.
In der Herkunftsfamilie und in aktuellen
Familiensituationen der Betroffenen finden sich auch gehäuft Alkoholprobleme,
was die Wahrscheinlichkeit von körperlichen Gewalterfahrungen erhöht.
Neben sexueller und körperlicher Gewalt gelten
auch viele andere Erfahrungen im späteren Leben als körperlich und seelisch
traumatisierend (z.B. Verkehrs- oder Berufsunfall, Überschwemmung,
Verschüttung, Kriegserfahrungen, demütigende Haftbedingungen).
Subjektive Gesundheits- und Krankheitsmodelle
Unter einem „subjektiven Krankheitsmodell“ versteht man all das, was ein Patient über Ursachen, Verlauf, Risiken und Einflussmöglichkeit seiner Krankheit und überhaupt allgemein über Gesundheit denkt und weiß.
Dies beeinflusst maßgeblich, wie die Krankheit
verläuft, wie aktiv oder passiv mit ihr umgegangen wird und wie gut die
Behandlungsmaßnahmen greifen.
Vor allem Menschen mit somatoformen Störungen haben oft auch einen zu engen und verschärften Gesundheitsbegriff.
Sie sehen
Viele Menschen mit somatoformen Störungen haben Krankheitsängste im Sinne einer Hypochondrie, was auf übertriebenen Gesundheitsvorstellungen, Fehlinterpretationen harmloser körperlicher Symptome oder nicht verarbeiteten Lebenserfahrungen in Bezug auf die eigene Person oder Menschen der sozialen Umwelt beruht.
Diese hypochondrischen Befürchtungen verschwinden nicht einmal
dann, wenn die körperliche Gesundheit durch intensive Untersuchungen eindeutig
festgestellt wurde, sondern müssen in einer Psychotherapie bearbeitet werden.
Negatives
Selbstkonzept
Das
Selbstverständnis, schwach, nicht belastbar oder körperlich verletzlich zu
sein, führt zu einer geringen Toleranz gegenüber allen möglichen körperlichen
Missempfindungen, die Ausdruck von erhöhtem Stress sein können.
Viele Menschen mit somatoformen und psychosomatischen Störungen weisen ein schwer gestörtes Körpererleben auf.
Sie nehmen oft weder positive noch negative Körperempfindungen adäquat wahr, vermeiden manchmal sogar jede bewusste körperliche Wahrnehmung („Wenn ich nichts spüre, muss ich mich nicht fürchten“), lehnen den Körper ab („Ich mag nicht, wie ich ausschaue“) oder meiden bestimmte Körperbereiche wie etwa die Sexualregion („Ich ekle mich davor, mich nackt anzuschauen“), den Bauch („Ich fühle mich zu dick“) oder den Blasen- bzw. Magen-Darm-Bereich („Wenn ich darauf achte, muss ich gleich auf die Toilette gehen“).
Bei körperlichen Erkrankungen wie etwa Neurodermitis oder
Krebs kann durch die sichtbaren Beeinträchtigungen bzw. die erfolgten
Operationen ein sehr belastendes Gefühl der körperlichen Entstellung oder
Verstümmelung auftreten.
Gesundheitsschädigendes Verhalten
Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Störungen, koronare Herzerkrankungen oder Diabetes werden oft durch Rauchen, Alkohol- und Medikamentenmissbrauch, Bewegungsmangel, falsche Ernährung und Übergewicht begünstigt.
Die bloße rationale Vermittlung von Gesundheitsrisiken bzw. Drohungen mit Krankheitskomplikationen reichen oft nicht aus, um Risiko-Patienten zu einem gesundheitsförderlichen Verhalten zu bewegen.
Effektive Maßnahmen zur Förderung der Eigenverantwortung und zur Modifikation
gesundheitsschädlichen Verhaltens sind daher zentrale Aufgaben des
Gesundheitssystems.
Krankheitsbewältigung (Coping)
Im Umgang mit Krankheit bestehen grundsätzlich drei Handlungsmöglichkeiten: aktive Auseinandersetzung, Verleugnung und hilflose Unterwerfung.
Der Begriff der Krankheitsbewältigung umfasst alle Bemühungen, mit den Belastungen durch eine Krankheit umzugehen, diese zu beseitigen, zu vermindern oder wenigstens besser erträglich zu machen.
Jeder, der eine länger dauernde oder chronische Krankheit hat, muss diese in irgendeiner Form bewältigen lernen.
Dieser Prozess wird Krankheitsmanagement oder Coping, das heißt Bewältigung, genannt.
Über den Weg der Auseinandersetzung mit der Erkrankung, deren emotionaler Bewältigung und Integration in den ganzen Lebenskontext kann im Laufe der Zeit wieder mehr Lebensqualität entstehen.
Dies ist gerade bei chronischen Erkrankungen wie Schmerzen, Krebs,
koronaren Herzkrankheiten, Diabetes mellitus oder Asthma sowie bei Zuständen
nach Erkrankungen des Gehirns von großer Bedeutung.
Salutogenese – gesund werden
Häufig geht es in der Psychosomatik um die Frage, warum Menschen krank werden.
Das Konzept der Salutogenese stellt die Frage gerade umgekehrt: Warum bleiben manche Menschen selbst unter widrigsten Umständen gesund und können selbst schwerste Krankheiten ganz gut bewältigen?
Der salutogenetische Ansatz sucht nach Persönlichkeitsvariablen, Verhaltensweisen und Bewertungsprozessen, die zur Erhaltung der Gesundheit beitragen und die körperliche Belastbarkeit steigern.
In diesem Zusammenhang wird mit dem Begriff des Kohärenzgefühls ein wichtiges Merkmal zum Gesundsein sowie zur Bewältigung von Krankheiten bezeichnet.
„Kohärenzgefühl“ bezeichnet das Gefühl, einen inneren Zusammenhalt zu haben, sich stimmig zu fühlen und einen Sinn im Leben zu sehen.
Ein hohes Kohärenzgefühl besteht im Bewusstsein, dass Lebensabläufe strukturiert, vorhersagbar und erklärbar sind (was Sinnhaftigkeit und Verstehbarkeit ermöglicht), dass Möglichkeiten zur Bewältigung von Problemen und zur Befriedigung wichtiger Bedürfnisse bestehen und dass Probleme bestimmte Herausforderungen darstellen, die lösbar sind (was Bewältigbarkeit vermittelt).
Menschen mit einem hohen Kohärenzgefühl sind
weniger anfällig für Krankheiten und können vorhandene Krankheiten besser
bewältigen.
Therapeutische Aspekte
Grundsätzlich umfasst eine psychosomatische Behandlung drei Wege zur
Heilung:
Der psychosomatische Heilungsprozess verläuft in vier Phasen.
Der erste Schritt ist, seine psychosomatischen Probleme besser verstehen zu lernen.
Der zweite Schritt sollte darin bestehen, die vorhandenen Fähigkeiten und Ressourcen zu möglichen Veränderungen zu nutzen, anstatt sich deprimiert als organisch oder psychisch „defekt“ zu erleben.
Der dritte Schritt erfordert oft Entscheidungen, sein Leben und seine Einstellungen zu ändern, um den psychosomatischen Störungen den Nährboden zu entziehen.
Der vierte Schritt besteht in den notwendigen Maßnahmen zur Heilung oder zur Verbesserung der Lebensqualität.
Im Vergleich zu Patienten mit primär psychischen Erkrankungen wie etwa Angststörungen weisen jene mit somatoformen und psychosomatischen Störungen meist eine geringere Psychotherapiemotivation auf.
Diese muss als Teil der Therapie erst entwickelt und gestärkt werden.
Entscheidend, ob und wann der Patient bereit ist, eine
Psychotherapie zu beginnen, ist nicht alleine der Leidensdruck, sondern
vielmehr sein subjektives Krankheitsverständnis über die Ursachen der Störung
und der möglichen Heilungschancen.
Eine psychologisch-psychotherapeutische Behandlung baut auf einer genauen Verhaltens- und Problemanalyse auf; zunächst muss also das gesamte Bedingungsgefüge der jeweiligen Störung erfasst werden.
Welche körperliche Symptomatik und welche Befindlichkeit liegen vor?
Wie geht der Betroffene mit seinen Symptomen und Beschwerden um und wie erklärt er sich diese?
Welche Gefühle und Denkmuster stehen in Verbindung mit den aktuellen Symptomen?
Welche subjektiven Krankheitsmodelle und Gesundheitsvorstellungen sind vorhanden?
Welche Faktoren haben die Störung insgesamt ausgelöst, halten sie aufrecht oder verschlimmern sie sogar?
In welchen familiären, partnerschaftlichen, sozialen und beruflichen Kontext ist die Störung eingebettet?
Welche Zusammenhänge bestehen zwischen körperlichen, seelischen und sozialen Faktoren?
Welche Konsequenzen haben die Beschwerden,
welche Folgen hätte eine Beseitigung oder Linderung des Leidens? Was sind erste
und was weitere Ziele der Behandlung?
Therapeut und Patient planen gemeinsam eine individuell ausgerichtete psychologische Behandlung bzw. Psychotherapie, die je nach Erfordernis die im Folgenden angeführten Bestandteile umfasst:
Klärung der Therapieziele. Anstelle globaler, unklarer und unrealistischer Therapieziele („Am besten wieder ganz gesund werden und so sein wie früher“) müssen konkrete, erreichbare und überprüfbare Ziele entwickelt werden („Mit den Schmerzen besser umgehen lernen“). Größere Ziele müssen in kleinere Teilziele zerlegt werden, um Erfolgserlebnisse zu garantieren und die Hoffnung auf weitere Veränderungen zu verstärken.Psychosomatische Störungen werden durch eine klinisch-psychologische Behandlung und eine Psychotherapie in Zusammenarbeit mit Ärzten angemessen behandelt.
In Deutschland sind vier sogenannte Richtlinienverfahren zugelassen, die von den Krankenkassen finanziert werden: Verhaltenstherapie, Psychoanalyse, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Systemische Therapie..
In Österreich sind dagegen 23 Psychotherapiemethoden staatlich anerkannt.
TEIL
2: DIE VIELEN GESICHTER
DER PSYCHOSOMATISCHEN
STÖRUNGEN
Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht die Beschreibung zahlreicher somatoformer und psychosomatischer Störungen im engeren Sinne, differenziert nach verschiedenen Organbereichen (Herz, Blutdruck, Atmung, Magen, Darm, Blase, Haut, Frauenorgane, Ohren, Hals, Nase, Stimme, Augen, Zähne, Bewegungsapparat), sowie die Präsentation der organübergreifenden Schmerzstörungen.
Dabei wird auch auf psychosomatische
Erklärungsmodelle und Behandlungsansätze Bezug genommen.
Die Darstellung
folgt einem einheitlichen Schema:
Wenn sich alles um das Herz dreht
Herzphobie – Todesangst trotz gesunden Herzens
Herr Weber ist
Elektroinstallateur auf Montage, 36 Jahre alt, verheiratet und hat zwei Kinder.
Seit sieben Jahren leidet er unter Schmerzen im Herzbereich, ohne dass eine
organische Ursache gefunden werden kann. Vor allem das Herzrasen, Herzklopfen
und die Herzrhythmusstörungen interpretiert Herr Müller als nahen Herzinfarkt.
Die Symptomatik trat erstmals zwei Monate nach dem plötzlichen Herztod seines
Vaters auf. Ein Onkel hat bereits zwei Bypass-Operationen hinter sich, der
Bruder leidet unter Bluthochdruck und muss Medikamente nehmen. Herr Weber
fürchtet sich vor einem ähnlichen Schicksal und lässt etliche Untersuchungen in
verschiedenen Krankenhäusern vornehmen – inklusive einer an sich unnötigen Herzkatheter-Untersuchung,
die auf seinen drängenden Wunsch hin durchgeführt wird. Herr Weber spürt auch
einen ökonomischen Druck, weil das neue Haus noch zurückgezahlt werden muss.
Die Entscheidung, auf lukrative Montage zu gehen, war letztlich eine Geldfrage –
mit dem hohen Preis der Entfremdung von seiner Frau. Diese geht in seiner
häufigen Abwesenheit gerne mit Freundinnen fort, sodass er befürchtet, sie
könnte sich in einen anderen Mann verlieben. Er selbst hat durch seinen Beruf
genug Möglichkeiten, andere Frauen näher kennen zu lernen, wagt dies aber trotz
seines Verlangens nicht aus Angst, dass seine Ehe dann endgültig scheitern
könnte. Seit einem „Herzanfall“ mit Todesangst in einem Hotel im Ausland hat er
Schwierigkeiten, auswärts allein zu übernachten, was allmählich zu Problemen
mit seinem Chef führt. Ein längerer Krankenstand bringt eine rasche Besserung,
wohl durch das ständige Zusammensein mit seiner Frau; bei Wiederaufnahme der
Berufstätigkeit setzen die Herzbeschwerden jedoch umso heftiger ein, sodass
sein Hausarzt eine Überweisung an einen psychologischen Psychotherapeuten
vornimmt.
„Etwas auf dem Herzen haben“: Herz und Psyche
Das Herz – ein etwa faustgroßer Hohlmuskel mit vier Hohlräumen – ist von der körperlichen Funktion her eine Saug-Druck-Pumpe mit zwei hintereinander geschalteten Pumpsystemen, die den Blutkreislauf regulieren.
Es besteht aus zwei Herzkammern (Ventrikeln) und ihren Vorhöfen. Je ein Vorhof und eine Kammer bilden zusammen ein Pumpsystem.
Der rechte Vorhof saugt das verbrauchte Blut aus den Venen an und befördert es über die rechte Herzkammer in den Lungenkreislauf, wo es in den Lungenbläschen mit Sauerstoff angereicht wird.
Von der Lunge gelangt das Blut in den linken Vorhof, die linke Kammer pumpt das Blut dann mit großer Kraft in die Hauptschlagader (Aorta), von wo es durch die Arterien und Arteriolen in den Körper weitergeleitet wird.
Der Herzmuskel wird durch drei große
Koronararterien versorgt, die an der Wurzel der Aorta entspringen und sich dann
in kleinere Gefäße verzweigen, die sich netzförmig im Herzmuskel verteilen.
Das Herz pumpt das Blut über die arteriellen Gefäße in den Körper und erhält das Blut über die venösen Gefäße. Die arteriellen Gefäße werden von der Aorta ausgehend immer dünner.
Über die feinsten Blutgefäße, die Kapillargefäße, wird der Körper mit Sauerstoff, Nährstoffen, Abwehrzellen, Hormonen und anderen lebenswichtigen Stoffen versorgt, gleichzeitig werden von dort aus auch die Abbaustoffe wie etwa Kohlendioxid abtransportiert.
Pro Minute werden 4 bis 5 Liter Blut durch
den Körper gepumpt. In Ruhe schlägt das Herz langsamer (bis zu 60mal pro
Minute), bei körperlicher oder seelischer Belastung schneller (bis zu 180mal
pro Minute).
Jeder Herzschlag besteht aus einer Füllungsphase (Diastole), in der das Blut aufgenommen wird, und einer Austreibungsphase (Systole), in der das Blut ausgepumpt wird. Herzklappen, die sich abwechselnd öffnen und schließen, verhindern, dass das Blut vom Kreislauf in die Kammern und von dort in die Vorhöfe zurückfließen kann.
Der Herzrhythmus wird durch den Sinusknoten am Anfang des linken Vorhofs reguliert.
Der Sinusknoten wird durch das vegetative
Nervensystem beeinflusst: Das sympathische Nervensystem beschleunigt, das
parasympathische Nervensystem verlangsamt den Herzschlag.
Das Herz ist nicht nur körperlich, sondern auch emotional das Zentrum unseres Körpers.
Es gilt als der Sitz unserer stärksten Gefühle – der Sitz der Liebe, des Mitgefühls und der Warmherzigkeit.
Das Herz wurde seit Jahrtausenden als der Motor des Lebens und im Altertum und in anderen Kulturen auch als der Sitz der Seele bzw. des Bewusstseins angesehen.
Das Herz ist das
psychosomatische Organ schlechthin.
Die emotionale Bedeutung des Herzens kommt in vielen Redewendungen zum Ausdruck – hier eine Auswahl:
Wir können herzlich, warmherzig, kaltherzig, weichherzig, hartherzig, offenherzig, halbherzig, leichtherzig oder herzlos sein.
Es kann uns leicht, schwer oder warm ums Herz werden.
Unser Herz kann verhärtet, verschlossen oder für jemanden offen sein.
Es kann verschenkt, gebrochen, gestohlen, verloren oder im Sturm erobert werden.
Wir machen etwas aus vollem Herzen, aber auch weil wir ein gutes Herz haben, unser Herz am rechten Fleck haben, uns etwas zu Herzen nehmen oder uns etwas am Herzen liegt.
Wir haben jemanden von Herzen gern, schließen ihn in unser Herz, sind mit ihm ein Herz und eine Seele oder schütten ihm unser Herz aus.
Manchmal fassen wir uns ein Herz, bringen wir etwas nicht übers Herz, haben wir etwas auf dem Herzen, machen wir unserem Herzen Luft, fällt uns ein Stein von Herzen, lässt jemand unser Herz höher schlagen oder tut uns das Herz weh.
Unser Herz schlägt
vor Aufregung bis zum Hals, bleibt vor Schreck fast stehen, rutscht uns vor
Angst in die Hose, zieht sich aus Beklemmung zusammen, verkrampft sich aus
Anspannung, zerspringt vor Glück, zerreißt fast aus Mitleid oder bricht vor
Schmerz.
Was geschieht nun aber tatsächlich bei sehr starken Emotionen?
Jede körperliche oder seelische Belastung erhöht grundsätzlich die Aktivität des Herzens.
Bei Stress, Erregung, Ärger, Wut und Angst wird durch das sympathische Nervensystem der Herzschlag beschleunigt, die Pumpleistung des Herzens erhöht, die Herzkrankgefäße erweitern sich, der Blutkreislauf steigt.
Subjektiv wird dies
als starkes Herzklopfen, Herzrasen oder Herzstolpern, Stechen, Schmerzen oder
Engegefühl in der Brust erlebt.
Als Folge dessen glauben viele, sich körperlich besonders schonen zu müssen.
Die fatalen Folgen: Bald rast das Herz schon bei ganz geringer Belastung, weil seine fehlende Kraft durch mehr Herzschläge ausgeglichen werden muss.
Ein untrainiertes Herz kann oft keinen ausreichenden Druck mehr durch die
Kraft seiner Kontraktion aufbauen und versucht dann häufig, dies durch eine
vermehrte Schlagzahl auszugleichen, damit der Körper ausreichend durchblutet
wird. Bewegung und Konditionstraining sind sehr wichtig, um Herzrasen und
Atemnot vorzubeugen und das Herz leistungsfähiger zu machen.
Funktionelle Herzprobleme treten auch bei verschiedenen psychischen Störungen auf.
Bei Panikattacken steht mehrheitlich das als lebensbedrohlich erlebte Herzrasen im Vordergrund.
Bei Depressionen findet man häufig Herzrasen, unregelmäßigen Herzschlag, Extrasystolen (das sind außerhalb des regulären Grundrhythmus vorzeitig oder verspätet auftretende Herzschläge) und Schmerzen in der Herzgegend (Stechen, Brennen, Klopfen, Druck).
Psychosomatisch relevante kardiale Störungen
Funktionelle Störungen |
Somatoforme
autonome Funktionsstörungen des kardiovaskulären Systems: funktionelle Herzrhythmusstörungen |
Organisch fundierte Störungen |
Koronare
Herzkrankheit: Herzinfarkt |
Funktionelle Störungen
Herzphobie
Somatoforme Herzbeschwerden kommen bei 10 bis 25 % der Bevölkerung und bei 15 bis 20 % der Patienten in Allgemeinarzt- und Facharztpraxen vor.
Nichtorganische Missempfindungen wie
Herzklopfen, Herzstolpern, Herzrasen und Herzschmerzen verstärken die
Befürchtung, an einer Herzkrankheit zu leiden.
Die häufigste somatoforme Störung aus dem kardiovaskulären Bereich ist eine Symptomatik, die früher Herzphobie oder Herzneurose genannt wurde.
Es handelt sich dabei um eine ausschließlich auf das Herz zentrierte Angst, die wegen ihrer Spezifität als Phobie bezeichnet wird.
Eigentlich handelt es sich dabei um den Ausdruck großer
Krankheitsangst, die in vielen Fällen lebensgeschichtlich verständlich ist
(koronare Herzkrankheiten oder tödlicher Herzinfarkt in der Familie, Verwandtschaft
oder Bekanntschaft).
Eine Herzphobie
ist charakterisiert durch panikähnliche, somatoforme und hypochondrische
Symptome:
Je nach Art und Intensität der herzbezogenen Ängste kann man drei Gruppen von Herzphobikern unterscheiden:
Funktionelle Herzrhythmusstörung
Nichtorganische Herzrhythmusstörungen sind die zweithäufigste somatoforme Symptomatik im Herzbereich.
Dabei wird durch Stresshormone die normale Automatik des Sinusknotens so verändert, dass Symptome wie Herzklopfen, -stolpern und -rasen oder Aussetzen des Pulses auftreten.
Wenn diese als gefährlich interpretiert werden, entwickeln sich oft Panikattacken.
Bei diesen dominiert dann wie bei einer
Herzphobie die Angst vor einem Herzinfarkt und zwar auch nach erfolgter organmedizinischer
Abklärung.
Die beiden wichtigsten Funktionsstörungen sind Störungen der Herzfrequenz (Tachykardie: mehr als 100 Schläge pro Minute, Bradykardie: weniger als 60 Schläge pro Minute) und unregelmäßiger Herzschlag.
Es handelt sich dabei um eine
ungefährliche supraventrikuläre Arhythmie im Gegensatz zu einer gefährlichen
ventrikulären Arhythmie, die von den Herzkammern ausgeht und zu schweren
Komplikationen bis hin zu plötzlichem Herztod führen kann.
Nichtorganische Extrasystolen sind Herzschläge „außer der Reihe“ und entstehen bei raschem Umschalten auf Beschleunigung oder Verlangsamung der Herzschläge.
Nach raschen Herzschlägen macht das Herz eine von vielen Menschen als beängstigend erlebte kurze Pause, um den Rhythmus wiederherzustellen.
Dies ist eine völlig normale, ungefährliche Reaktion! Zur
Unterscheidung zwischen gefährlichen und ungefährlichen Herzrhythmusstörungen
ist jedoch immer eine genaue medizinische Untersuchung erforderlich.
Stress, Erregung und Angst können zu einer nervös bedingten Verkrampfung der Herzkranzgefäße führen („spastische Angina pectoris“ infolge spastischer Verengung); mangelnde Durchblutung und Sauerstoffversorgung des Herzens sind die Folge, oft verbunden mit ausstrahlenden Schmerzen vorwiegend in den linken Arm und Herzinfarktängsten.
Es treten dann ähnlich massive und beängstigende Schmerzen auf wie bei einer
Angina pectoris. Im Gegensatz dazu sind diese jedoch vorübergehend, weil sie
rein „nervös“ bedingt sind.
Organische Störungen
Organische Störungen treten dann auf, wenn es zu einem Missverhältnis zwischen Blut- und Sauerstoffbedarf im Herzmuskel und dem entsprechenden Angebot durch die Herzkranzgefäße kommt.
Koronare Herzkrankheiten beruhen auf einer Arteriosklerose (Verkalkung) des arteriellen Gefäßsystems.
Dadurch werden die Gefäße immer weniger elastisch, das Gefäßvolumen wird eingeschränkt und die Herzkranzgefäße können nicht mehr das leisten, was nötig wäre (Koronarinsuffizienz).
Das Herz bekommt weniger Sauerstoff, als es braucht. Die Folgen: Angina pectoris, Herzrhythmusstörungen und Herzinfarkt.
Arteriosklerotische Gefäßveränderungen sind auch die Basis für einen Schlaganfall oder eine Thrombose, meistens in den Beinen.
Als Risikofaktoren erster Ordnung für eine arteriosklerotische Gefäßverengung gelten vermehrte Lipoproteine im Blut (insbesondere zu viel Cholesterin in Form eines erhöhten LDL-Cholesterin-Spiegels), Bluthochdruck (arterielle Hypertonie), Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) und Rauchen.
Als von den Lebensgewohnheiten unabhängige Risikofaktoren gelten männliches Geschlecht, höheres Alter und familiäre Belastung.
Als Risikofaktoren zweiter Ordnung
gelten ungünstige Ernährungsgewohnheiten, Übergewicht, Bewegungsmangel, erhöhte
Harnsäurekonzentration im Blut, Veränderungen von Blutplättcheneigenschaften
sowie Stress in Form bestimmter psychosozialer Faktoren (emotionale Probleme,
berufliche Überbeanspruchung, lebensverändernde Umstände, mangelnde soziale
Unterstützung, ungünstige sozioökonomische Bedingungen).
Angina pectoris
Die Angina pectoris (auf Deutsch: „Enge der Brust“) ist die häufigste, aber nicht zwingend bei einer koronaren Herzkrankheit auftretende Symptomatik.
Sie besteht in der Verengung einer Koronararterie, und damit ist die Durchblutung vermindert.
Sie wird dann als stabile Angina pectoris bezeichnet, wenn die Symptome konstant unter körperlicher und psychischer Belastung auftreten.
Die Betroffenen spüren dabei anfallsartig auftretende, drückende, hinter dem Brustbein liegende Schmerzen, die meistens in die linke Brust und den linken Arm ziehen, aber auch in die obere Brust, den Hals, die Schultern, den Rücken oder den Oberbauch ausstrahlen können.
Die Schmerzen werden als enormer Druck auf der Brust, als beklemmendes, schmerzendes, brennendes Gefühl beschrieben.
Bei schweren Anfällen treten auch Kollapszustände auf, verbunden mit Übelkeit, Atemnot, Schwitzen und Angstgefühlen.
Die Brustschmerzen dauern gewöhnlich nur einige Minuten an und bessern sich durch Schonung, Ruhe, Entspannung und Medikamente.
Bei einer instabilen Angina pectoris treten die Symptome in Ruhe oder bei geringer Belastung auf, und zwar immer länger und intensiver.
Wegen der drohenden Herzinfarktgefahr ist sofortiger Handlungsbedarf gegeben.
Eine koronare Herzkrankheit kann oft schon aus der typischen Symptomatik der belastungsabhängigen Angina pectoris vermutet werden und wird durch ein Belastungs-EKG sicher abgegrenzt gegenüber funktionellen Herzbeschwerden oder Schmerzen, die von der Wirbelsäule ausgehen.
Bei bereits verengten Herzkranzgefäßen kann Stress zu einer vorübergehenden Minderdurchblutung und damit zu Brustschmerzsymptomen führen.
In psychosomatischer Hinsicht ist
bedeutsam, dass vor allem intensive Emotionen wie Wut und Ärger bei vorhandener
Erkrankung die Symptomatik einer Angina pectoris provozieren können.
Herzinfarkt
Herzinfarkt ist die häufigste einzelne Todesursache.
Die Herzinfarktrate ist in den westlichen Industrienationen aufgrund der verbesserten Akutbehandlung und Vorsorgemedizin zurückgegangen, die Zahl der Patienten mit einer koronaren Herzkrankheit ist jedoch angestiegen.
Ein Herzinfarkt besteht im Verschluss eines Herzkranzgefäßes durch ein Blutgerinnsel, wodurch das dahinter liegende Gewebe kein Blut und keinen Sauerstoff mehr erhält und die Stoffwechselabbauprodukte nicht entfernt werden, sodass es nach wenigen Sekunden abstirbt.
Ist ein großes Blutgefäß und damit ein großer Herzbereich vom Infarkt betroffen, kommt es zum sofortigen Tod, ansonsten tritt eine Angina pectoris auf mit heftigen Schmerzen hinter dem Brustbein, oft ausstrahlend in den linken Arm, mit Blutdruck- und Pulsabfall, kaltem Schweiß und schwerer Atemnot.
Ist nur ein sehr kleiner Herzbereich betroffen, bleibt der Infarkt fast unbemerkt („stummer Infarkt“ mit kurzen Brustschmerzen und eher uncharakteristischen Beschwerden).
Die Mehrzahl der Herzinfarkt-Patienten erlebt einen Herzinfarkt wie einen „Blitz aus heiterem Himmel“ und übersieht lange Zeit alle warnenden Vorzeichen. Voraussetzung für einen Herzinfarkt sind Mikroverletzungen der innersten Blutgefäßschicht.
Ablagerungen (Plaques), die durch einen vielschichtigen und lang dauernden
Prozess entstanden sind und den Gefäßdurchmesser verengt haben, können durch
eine erhöhte Gefäßwandspannung oder gefäßverengende Prozesse einreißen und das
Gefäß verstopfen.
Psychosomatische
Konzepte
Psychologische Faktoren
Bei funktionellen Herzrhythmusstörungen führen Stress und bestimmte Gefühle wie Wut oder Angst zu Veränderungen des Herzschlags.
Hinter einer Herzphobie steht nach psychoanalytischer Auffassung oft ein partnerbezogener Konflikt: einerseits wird mehr Unabhängigkeit gewünscht, andererseits der Verlust der Abhängigkeit gefürchtet.
Häufig handelt es sich bei einer Herzphobie um den Ausdruck einer
allgemein erhöhten Krankheitsängstlichkeit, einer hypochondrischen Körperbeobachtung,
einer lebensgeschichtlich bedingten Fixierung auf Herzsensationen oder einer
nicht gelungenen Verarbeitung des Herzinfarkts eines nahen Angehörigen bzw.
Bekannten.
Bei einer
koronaren Herzerkrankung sind nach zahlreichen Untersuchungen folgende
psychische und psychosoziale Faktoren für das Auftreten und den Verlauf dieser
Erkrankung von großer Bedeutung:
Die angeführten
psychosozialen Faktoren sind zumindest bei bereits vorhandener koronarer
Herzkrankheit als Risikofaktoren anzusehen, weil sie zu einer ständigen
Überaktivierung des sympathischen Nervensystems und zu einer Hemmung des
parasympathischen Nervensystems führen; dadurch kann langfristig eine
arteriosklerotische Neigung verstärkt werden.
Bei Herzinfarkt-Patienten wurden im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen folgende Belastungsfaktoren gefunden:
Überstunden (mehr als 40 pro Monat), Zeitdruck, häufiges Unterbrechen des Arbeitsablaufs, widersprüchliche Anforderungen, Probleme mit Vorgesetzten, drohende Rationalisierungsmaßnahmen, drohende Versetzungen und Statuseinbußen. Krankheitsrelevant wurden diese Umstände jedoch nur dann, wenn diese zusätzlich mit Belastungen außerhalb der Arbeitswelt wie etwa Verlusterlebnissen, Krankheitsfällen und Konflikten im Privatleben einhergingen.
Herzinfarkt-Patienten mit großen Belastungen im beruflichen und privaten
Bereich wiesen viermal häufiger als gesunde Personen bestimmte
Persönlichkeitsmerkmale auf, die dem so genannten Typ-A-Verhaltensmuster
entsprachen (Ehrgeiz, Konkurrenz, Ungeduld, hohes Aktionspotenzial für
Aggressivität und Feindseligkeit).
Diese komplexen Zusammenhänge zwischen beruflichen, privaten und persönlichkeitsspezifischen Faktoren mahnen zur Vorsicht, allzu simple Stressmodelle zur Erklärung psychosomatischer Störungen heranzuziehen oder diese nur eindimensional bzw. monokausal erklären zu wollen.
Es gibt bislang keine wissenschaftlich gesicherten Hinweise darauf, dass Stress und emotionale Faktoren allein eine koronare Herzkrankheit bewirken können.
Nach dem heute gängigen biopsychosozialen Krankheitsverständnis sind viele Faktoren beteiligt.
Selbst wenn psychische Komponenten eindeutig nachgewiesen werden können, muss
stets auch eine medizinische Intervention erfolgen mit dem Ziel, eine
Herzinfarktgefahr zu vermeiden.
Die Zusammenhänge zwischen koronarer Herzkrankheit und psychosozialen Belastungssituationen wurden bis vor kurzem ausschließlich bei Männern nachgewiesen.
In einer Studie zum Herzinfarktrisiko bei Frauen konnte das bekannte Bild auch bei Frauen bestätigt werden: Das Risiko einer koronaren Herzkrankheit erhöht sich bei Frauen aus sozial schwachen Schichten, mit familiären Belastungen und Partnerproblemen, mit großem Stress am Arbeitsplatz sowie bei sozialer Isolierung.
Bei Frauen mit einer koronaren Herzkrankheit ist das Risiko eines neuerlichen Herzinfarkts durch chronischen Stress in der Ehe größer als durch Stress am Arbeitsplatz.
Fazit: Die tieferen Ursachen für einen Herzinfarkt sind immer körperliche Beeinträchtigungen, als Auslöser dafür reicht jedoch eine situativ bedingte starke Aufregung oder Wut.
Therapeutische Strategien
Menschen mit somatoformen Herzrhythmusstörungen benötigen vorerst einmal die beruhigende Information, dass die meisten Herzrhythmusstörungen bei Herzgesunden ungefährlich sind.
Die Patienten müssen die Zusammenhänge zwischen emotionaler Befindlichkeit und psychosozialen Belastungssituationen einerseits und ihren Herzsensationen andererseits erkennen lernen, um nicht ständig organmedizinische Erklärungsmodelle zu entwickeln.
Herzphobische Patienten sollen nicht nur ihr Herz angstfreier beobachten und spüren lernen, sondern entdecken, was sie wirklich fürchten: den Verlust des Partners durch Trennung oder Tod, eine schwere Erkrankung bzw. den Tod eines Elternteils, den Verlust des Arbeitsplatzes durch Kündigung, unangenehmes Versagen und diesbezügliche Kritik vonseiten der Umwelt u.ä.
Die Sorgen um vermeintliche Herzprobleme
lenken oft von den tatsächlichen Lebensproblemen ab, sodass es notwendig ist,
sich diesen mehr als bisher zu stellen und in der Therapie konstruktive
Lösungen zu entwickeln.
Darüber hinaus ist es sinnvoll, den Betroffenen durch Provokationstests zur raschen Herzbeschleunigung (wie etwa rasche Kniebeugen) die Angst vor unangenehm erlebten Herzempfindungen zu nehmen.
Entspannungsverfahren wie das Autogene Training können herzphobische Patienten erst dann gewinnbringend einsetzen, wenn sie gelernt haben, sich ihrem Körper angstfrei zuzuwenden, ohne den Herzrhythmus bewusst zu beeinflussen.
Wenn die Betroffenen ihre Herzsensationen besser tolerieren und verstehen gelernt haben, werden ständige Herzuntersuchungen unnötig.
Bis zur Erreichung dieses Ziels sollten kardiologische Untersuchungen nur nach einem bestimmten, ärztlich festgesetzten Abstand symptomunabhängig erfolgen, um die herzphobische Symptomatik nicht unnötig zu verstärken.
Eine emotional bedingte Aktivierung des sympathischen
Nervensystems ist völlig ungefährlich und erfordert keine Behandlung; die
Verschreibung von Betablockern verstärkt nur das oft vorhandene organische
Krankheitskonzept der Betroffenen.
Trotz der eindeutigen Belege für den Einfluss psychischer und psychosozialer Faktoren auf den Verlauf einer koronaren Herzkrankheit fehlen überzeugende Studien, die belegen, dass Psychotherapie den Krankheitsverlauf günstig beeinflussen kann.
Psychologische Interventionen bei einem Herzinfarkt sind jedoch erfahrungsgemäß
hilfreich, um mit der Erkrankung besser zurechtzukommen.
Sie bestehen in
einer Kombination verschiedener Strategien:
Wenn der Blutdruck entgleist
Psychogener Bluthochdruck – aus dem Lot durch Stress und
Ärger
Frau Maier, 37
Jahre alt, Sekretärin, verheiratet, ein Kind, leidet seit zwei Jahren unter
einem schwankenden Blutdruck. Am höchsten ist er während der Arbeitszeit, am niedrigsten
bzw. normal im Urlaub. Mehrere kardiologische Untersuchungen bei verschiedenen
Fachärzten ergeben keinen Hinweis auf eine Herz-Kreislauf-Erkrankung. Die
Symptomatik setzte zeitlich mit der Übernahme des Betriebs durch den
Junior-Chef ein, der sie zweimal sexuell belästigt hat. Sie fühlt sich ihrem
Chef ohnmächtig ausgeliefert, weil eine Kündigung mangels anderer Arbeitsplätze
in der Gegend das existenzielle Aus bedeuten würde. Aus Angst arbeitet sie mehr
Stunden, als sie bezahlt bekommt, und ärgert sich dann oft darüber, dass ihr
Chef dies für selbstverständlich erachtet. Dazu kommen familiäre
Streitigkeiten: Ihr Mann versteht ihre Situation überhaupt nicht, wird
allmählich zum Alkoholiker und bedrängt sie in diesem Zustand sexuell. Sie
fühlt sich auch ihm gegenüber hilflos ausgeliefert, da eine Scheidung zumindest
gegenwärtig nicht in Frage kommt. Frau Maier hat nie gelernt, dem Chef oder
ihrem Mann ihren Ärger mitzuteilen oder mit anderen Menschen darüber zu
sprechen. Innerlich voller Wut, wirkt sie äußerlich anderen Menschen gegenüber
immer freundlich und unauffällig. Sie schluckt alles hinunter, während ihr
Blutdruck in die Höhe schnellt. Als ihr Hausarzt, der über ihre Situation
informiert ist, ein Blutdruckmedikament verschreiben will, möchte sie vorerst
einmal mit einer Psychotherapie versuchen, ihren labilen Blutdruck in den Griff
zu bekommen.
„Auf 180 sein“: Blutdruck und Psyche
Das Herz pumpt das Blut zur Versorgung des Körpers mit Sauerstoff und Nährstoffen in das Gefäßsystem, in dem je nach Energiebedarf unterschiedliche Druckhöhen bestehen.
Unter Blutdruck versteht man den vom Herzmuskel erzeugten Druck, unter dem die Blutmasse des ganzen Körpers durch die Arterien (vom Herzen wegführende Gefäße) getrieben wird.
Der Blutdruck ist abhängig von der Pumpleistung (Schlagkraft) des Herzens und dem Widerstand des arteriellen Gefäßsystems.
Der Blutdruck
steigt durch die erhöhte Herztätigkeit und die Verengung der arteriellen
Blutgefäße der Haut.
Der höhere (systolische) Wert bezeichnet den Blutdruck bei der Kontraktion des Herzens, wenn das Herz mit maximaler Leistung das Blut auswirft.
Der niedrigere (diastolische) Wert beschreibt die Restspannung im Gefäßsystem bei der Erschlaffung (Ruhephase) des Herzmuskels und stellt ein Maß für die Elastizität des arteriellen Gefäßsystems dar.
Ein zu hoher diastolischer Blutdruck (über 95 mm Hg) weist auf eine Verengung der Gefäße durch Verkalkung oder durch chronische psychische Anspannung hin.
Der Blutdruck ist keine konstante Größe, sondern
schwankt in Abhängigkeit von der Tageszeit (am niedrigsten in der Nacht), der
Jahreszeit, der Aktivität, emotionalen Faktoren und zahlreichen anderen
Bedingungen.
Der Blutdruck wird in Millimeter Quecksilbersäule (mm Hg) gemessen.
Er gilt als optimal („normoton“) um 120/80 mm Hg und wurde früher als „noch“ normal angesehen bei 130-139/85-89 mm Hg.
Eine Hypertonie (Bluthochdruck) besteht bei Werten über 160/95 mm Hg, mehrfach gemessen am Oberarm nach fünf Minuten Sitzen über einen Zeitraum von drei Monaten, eine Hypotonie (niedriger Blutdruck) bei Werten unter 100/70-65 mm Hg.
Als Grenzwerthypertonie galt bisher ein Blutdruck von 140-160/90-95 mm Hg.
Aufgrund neuester Erkenntnisse wurde von der
amerikanischen Gesundheitsbehörde ein Blutdruck von 120/80 als normal und
wünschenswert erklärt, während systolische Werte von 121-140 bereits zu einer
Gefäßwandschädigung führen können und daher als „Vor-Bluthochdruck-Phase“
bezeichnet werden.
Die emotionale Komponente des Blutdrucks kommt in einigen Redewendungen gut zum Ausdruck: Man ist auf 180.
Das Blut gerät in Wallung oder es kocht in den Adern.
Jemand
behält nur schwer ruhig Blut und es schwellen ihm die Adern an. Da hilft nur:
ruhig Blut bewahren!
Die psychische Befindlichkeit beeinflusst die Höhe des Blutdrucks direkt und stark: bei Wut, Ärger, Angst, Aufregung und Stress steigt er im Extremfall bis zu 240/130 mm Hg an.
Wenn er stressbedingt dauerhaft erhöht ist, kann eine funktionelle Störung in eine organische übergehen. Der Körper lernt dies als Normalzustand zu verstehen und verlernt die Maßnahmen zur Senkung des Blutdrucks.
Bei Ruhe und Entspannung sinkt der Blutdruck infolge der reduzierten Herztätigkeit und der Erweiterung der kleinen arteriellen Blutgefäße der Haut. Schock- und Schreckreaktionen sowie überfordernder Stress führen zu einer parasympathischen Überaktivität mit starkem Blutdruckabfall bis hin zum Kreislaufzusammenbruch.
Subjektiv macht
sich dies bemerkbar in Schwindelgefühlen, eventuell sogar in kurzer Ohnmacht.
Die Aktivität des sympathischen Nervensystems führt zur Umverteilung des Blutes im Körper:
Dies bewirkt eine Erhöhung des arteriellen Blutdrucks, eine Beschleunigung der
Herzfrequenz und eine stärkere Durchblutung der Muskeln, während die
Durchblutung des Magen-Darm-Bereichs, der Nieren und der Haut abnimmt.
Die körperlichen Veränderungen bei einer Stressreaktion erfolgen über die so genannte Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse.
Ziel des Dauerstresshormons Kortisol ist vor allem die Blutdrucksteigerung, um dem Körper mehr Energie zur Verfügung zu stellen; diese wird bei emotionalem Stress mangels Bewegung jedoch nicht abgerufen.
Bluthochdruck-Patienten weisen eine erhöhte Ausscheidung des
Blutdruck steigernden Dauerstresshormons Kortisol auf. Hypertoniker neigen
bereits zur Blutdruckerhöhung in Situationen, die bei Menschen mit normalem
Blutdruck zu keinen Veränderungen führen.
Blutdruckschwankungen und Kreislaufstörungen kommen auch bei verschiedenen psychischen Störungen vor.
Bei Panikattacken oder Alkoholentzug steigt der Blutdruck, bei Depressionen
kann der Blutdruck fallen. Angst- und Panik-Patienten haben oft große Angst vor
Herzrasen, weil sie dies aufgrund medizinischen Unwissens mit der drohenden
Gefahr eines Herzinfarkts verbinden, tatsächlich jedoch weisen sie bei
Panikattacken oft nur einen geringfügig erhöhten Puls auf, den sie aufgrund
ihrer gesteigerten Herzschlagwahrnehmung überbewerten.
Psychosomatisch relevante Blutdruckstörungen
Funktionelle Störungen |
Somatoforme autonome Funktionsstörungen des kardiovaskulären Systems: hypertone Fehlregulation (Situationshypertonie, sympathikovasaler Anfall)hypotone Fehlregulation (vagovasale Synkope) |
Organisch fundierte Störungen |
Primäre Blutdruckstörungen: essenzielle Hypertonieessenzielle Hypotonie |
Funktionelle Störungen
Hypertone Fehlregulation
Eine Situationshypertonie ist eine vorübergehende, kurzfristige hypertone Regulationsstörung; dabei ist der Blutdruck – bedingt durch psychische Faktoren wie Stress, Ärger, Wut oder Angst – immer wieder erhöht, im Rahmen einer 24-Stunden-Blutdruckmessung findet sich jedoch ein normales Blutdruckprofil mit einem Tagesmittel unter 140 mm Hg.
Aus ständigen Blutdruckschwankungen im Sinne
eines labilen Bluthochdrucks kann über einen längeren Zeitraum ein stabiler
Bluthochdruck entstehen, bedingt durch Anpassungsvorgänge des Gefäßsystems
(z.B. Verdickung der Gefäßwand, vor allem der Nierengefäße), und zwar auch
dann, wenn die den Bluthochdruck ursprünglich verursachenden Faktoren
weggefallen sind.
Ein
sympathikovasaler Anfall ist eine psychisch bedingte Unruhe und Anspannung
(bewirkt durch Stress, Wut, Ärger, Schlafmangel usw.) und führt plötzlich zu
Tachykardie (120-160 Herzschläge/Minute) und Bluthochdruck (Werte bis 240/110
mm Hg), häufig in Verbindung mit Hyperventilationsneigung, Schweißausbruch und
Todesangst.
Hypotone Fehlregulation (vagovasale Synkope)
Eine Synkope ist ein vorübergehender, einige Sekunden bis wenige Minuten dauernder Bewusstseinsverlust sowie Spannungsverlust der Haltemuskulatur.
Auslöser ist eine vorübergehende zu geringe Durchblutung oder Stoffwechselstörung jener Gehirnregionen, die das Bewusstsein aufrechterhalten.
Dabei treten nach zwei bis drei Sekunden Symptome wie Schwäche, Benommenheit, Schwarzwerden vor den Augen und Schwindel auf, nach zehn Sekunden setzt die Bewusstlosigkeit ein, nach zehn bis zwanzig Sekunden treten zusätzlich noch Muskelkrämpfe auf.
Vagovasale Synkopen werden oft ausgelöst durch plötzlichen Schreck, mentalen oder emotionalen Stress und Schmerzzustände, wobei zahlreiche Betroffene diesen Auslösern gegenüber besonders sensibel sind.
Die Ursache liegt in einer biologischen Reaktion mit
einer Mehrdurchblutung der Muskulatur zur Vorbereitung einer Fluchtreaktion,
die jedoch aufgrund einer zentralen Hemmung nicht ausgeführt wird, sodass
relativ viel Blut in den Beinen verbleibt und der verminderte Rückstrom des
Blutes zum Herzen eine vorübergehende Mangeldurchblutung des Gehirns bewirkt.
Synkopen sind ein Symptom und keine bestimmte Krankheit.
Neben zahlreichen organisch bedingten Synkopen gibt es auch funktionell bedingte, die sogar den Großteil der Fälle darstellen.
Im psychosomatischen Kontext bedeutsam ist vor allem die vagovasale Synkope.
Sie ist meist ein Resultat der so genannten orthostatischen Hypotonie (damit ist ein Blutdruckabfall bei längerem Stehen gemeint, wenn das Blut in den Beinen versackt).
Ihre Vorzeichen sind: Schwindel, Benommenheit,
Schwarzwerden vor den Augen, Muskelschwäche, Übelkeit, Schweißausbruch, Unruhe,
Blässe, Seufzeratmung, Gähnen (als Zeichen von Sauerstoffmangel). 30 % aller
gesunden Erwachsenen haben schon einmal eine vagovasale Synkope erlebt.
Angst- und Panik-Patienten haben oft große Angst vor Ohnmacht durch einen niedrigen Blutdruck; dies ist aber völlig unbegründet, denn bei Panikattacken steigt der Blutdruck im Gegenteil oft sogar stark an.
Lediglich bei drei Viertel der Menschen mit einer Blut-, Verletzungs- oder Spritzenphobie ist der Blutdruck schon einmal so weit abgefallen, dass sie eine kurze Ohnmacht erlebt haben.
Bei etwa zwei Drittel der Menschen, die einmal eine situationsbedingte Synkope erlebt haben (z.B. bei schwülem Wetter oder einem Hitzestau), bleibt es bei diesem einmaligen Ereignis.
Die Erfahrung einer Synkope, die subjektiv als
Todesgefahr empfunden wird, kann ein derart einschneidendes Erlebnis sein, dass
die Betroffenen ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten im Sinne einer Platzangst
(Agoraphobie) entwickeln und einen sozialen Rückzug antreten aus Angst,
unangenehm aufzufallen – was in weiterer Folge zu immer größerer Ängstlichkeit
und Depressivität führt.
Organische Störungen
Arterielle Hypertonie
Hypertonie gilt vielfach als Volkskrankheit Nummer 1: Ein behandlungsbedürftiger Bluthochdruck findet sich bei 20 bis 25 % der Bevölkerung.
Bedenklich sind auch folgende
Daten: Nur etwa die Hälfte der Hypertoniker ist angemessen diagnostiziert, bei
rund zwei Drittel der diagnostizierten Bluthochdruck-Patienten erfolgt keine
ausreichende Therapie, das heißt der Blutdruck liegt nicht im Normbereich.
Bluthochdruck bedeutet, dass sich das Herz zu sehr anstrengen muss, um das Blut zur Versorgung des Gewebes durch den Körper zu pumpen.
Der Blutdruck wird zu hoch, weil das Herz mit jedem Zusammenziehen eine erhöhte Blutmenge ausstoßen oder einen erhöhten Widerstand der Arterienwände überwinden muss.
Deswegen wächst
der Herzmuskel an, benötigt nun aber noch mehr Sauerstoff, der jedoch gerade
bei Gefäßverkalkungen nur unzureichend zugeführt wird. Arterielle Hypertonie
ist einer der wichtigsten Risikofaktoren für eine Arteriosklerose, weshalb eine
Blutdruckstabilisierung unbedingt erforderlich ist.
Bluthochdruck wird von den Betroffenen oft gar nicht erkannt, weil eigentlich kaum spezifische Beschwerden auftreten.
Allgemeine Unruhe und Nervosität, kräftiger spürbarer Puls am Handgelenk, pochende Schläfen und pulsierende Kopfschmerzen (insbesondere bei Anstrengung), Hitzegefühl, gerötetes Gesicht bei leichter Anstrengung, Schwindel (oft mit Ohrensausen und Flimmern vor den Augen), Kribbeln in Armen und Beinen, Wetterfühligkeit, Nasenbluten, leichter Druckschmerz in der Brust, Atemnot (besonders bei physischem und psychischem Stress), Herzbeschwerden, Müdigkeit und Leistungsminderung sind oft bereits Symptome einer Hypertonie und nicht einfach deren Vorzeichen.
Langzeitschäden sind Beeinträchtigungen des Herzens, der Nieren, der Augen und der Hirngefäße.
Die Spätfolgen äußern sich
in Form einer Sklerose, das heißt einer Verhärtung und Verengung der Gefäße,
die eine Minderdurchblutung mit der Gefahr eines Herzinfarkts oder eines Schlaganfalls
bewirkt.
Bei etwa 95 % der Fälle von erhöhtem Blutdruck besteht eine essenzielle oder primäre Hypertonie, das ist ein gewöhnlich lebenslang vorhandener Bluthochdruck ohne erkennbare Grundkrankheiten – zumindest sind mögliche Ursachen bislang unbekannt.
Die sekundäre Hypertonie als Folge von Krankheiten, vor allem von Nierenerkrankungen, tritt dagegen nur bei etwa 5 % auf.
Eine essenzielle Hypertonie ist jedenfalls als multifaktorielles Krankheitsbild anzusehen: Ungesunde Ernährung, Übergewicht, mangelnde Bewegung, überhöhter Salzkonsum, zu viel Alkohol und Nikotin sowie Vererbung und verschiedene Grunderkrankungen (z.B. Diabetes) tragen ebenso dazu bei wie chronischer familiärer, partnerschaftlicher oder beruflicher Stress und verschiedene Persönlichkeitsaspekte (vor allem ständiger Ärger oder chronische Angst).
Stress führt zur Zurückhaltung von Wasser und Salz sowie zur
Ausschüttung des Hormons Renin, was sich negativ auf die Nierenfunktion
auswirkt und über diesen Weg einen Bluthochdruck begünstigt. Emotional
bedingter Stress ist eine Indikation für eine
psychologisch-psychotherapeutische Behandlung.
Hypotonie
Niedriger Blutdruck ist keine Krankheit, sondern ein Zustand.
Wenn es sich dabei doch um eine krankheitswertige Störung handelt, können die folgenden Informationen nützlich sein: Bei einer essenziellen Hypotonie sind die Gefäße durch eine Fehlsteuerung der Gefäßnerven so erweitert, dass die vom Herzen ausgeworfene Blutmenge nicht ausreicht, um einen normalen Blutdruck herzustellen.
Dies führt zu Blut- und Sauerstoffmangel im Gehirn sowie zu Beeinträchtigungen aller Körperfunktionen.
Unangenehm niedriger Blutdruck äußert sich in folgenden
Symptomen: Müdigkeit, Antriebsschwäche, Erschöpfung, Unlust, Konzentrations-
und Leistungsschwäche, Schwindelgefühle, Ohnmachtsneigung, Ohrensausen,
Kopfschmerzen, Schwarzwerden vor den Augen, blasses Gesicht, kalte Hände und
Füße, Herzschmerzen (Mangeldurchblutung des Herzmuskels und damit
Sauerstoffmangel), Herzklopfen (Ankurbelung des Blutdrucks), Herzstechen,
Krämpfe innerer Organe (Mangeldurchblutung), Übelkeit, Appetitlosigkeit,
Magendrücken, Blähungen, bei Frauen oft Unterleibskrämpfe,
Stimmungsschwankungen, Gereiztheit, depressive Verstimmung, Wetterfühligkeit,
erhöhtes Schlafbedürfnis, Durchschlafstörung (Blutleere im Gehirn, besonders
zwischen 2 Uhr und 4 Uhr).
Psychosomatische Konzepte
Psychologische Faktoren
Ein vorübergehender Blutdruckanstieg ohne körperliche Betätigung ist Ausdruck einer starken emotionalen Betroffenheit mit entsprechender Aktivierung des sympathischen Nervensystems. Gefühle wie Wut, Ärger oder panikartige Angst führen zu einer plötzlichen, einige Zeit andauernden Blutdrucksteigerung, die die Betroffenen als sehr bedrohlich interpretieren, sodass ein weiterer Anstieg erfolgt und verstärkte Besorgnis besteht.
Die gewöhnlich herzgesunden Betroffenen möchten
entweder ständig oder zur Vermeidung von Beunruhigung am liebsten nie den
Blutdruck messen, sodass sie in der Therapie neben der Bearbeitung der
Hintergrundsprobleme auch einen angemessenen Umgang mit dem Blutdruckmessgerät
erlernen sollten.
Die Zusammenhänge zwischen psychosozialen Gegebenheiten und Blutdruck kann man nur dann wirklich verstehen, wenn man den Einfluss der verschiedenen Faktoren wie Nierenfunktion, vegetatives Nervensystem und Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-System berücksichtigt – Wechselwirkungen, die in Zukunft noch besser erforscht werden müssen.
Bluthochdruck entsteht durch Veränderungen der Nierenfunktion.
Wenn psychosoziale Faktoren tatsächlich eine Blutdrucksteigerung bewirken können, muss dies über die Beeinflussung der Nierentätigkeit erfolgen.
Bei akutem Stress steigt in der Niere der Gefäßwiderstand an, der Blutfluss fällt ab, Salz wird nur in geringem Ausmaß ausgeschieden – der Blutdruck steigt.
Wenn großer Stress, Ärger oder Angst lange genug andauern, können die überhöhte Sympathikusaktivität (vermehrte Ausschüttung von Stresshormonen) und die verminderte Parasympathikusaktivität (zu wenig Ruhe und Erholung) zu einem dauerhaft erhöhten Bluthochdruck führen.
Denn es kommt dabei auch zur vermehrten und anhaltenden Ausschüttung von Stresshormonen (Kortisol), Glukose und Insulin.
In Verbindung mit den bekannten Risikofaktoren können psychosoziale Belastungen wie hoher beruflicher Stress, Emigration, Katastrophen und Krieg zu vorübergehendem oder bleibendem Bluthochdruck führen.
Blutdrucksteigernd wirkt vor allem auch
ein Missverhältnis zwischen hohen beruflichen Anforderungen und geringer
Entlohnung.
Interessant ist, dass der Blutdruck bei Ärger stärker ansteigt als bei Angst und Furcht.
Das haben 24-Stunden-Blutdruckmessungen ergeben. Menschen mit unterdrücktem Ärger entwickeln laut Studien im frühen Erwachsenenalter eher eine Hypertonie und weisen im Vergleich zu anderen Personen eine erhöhte Todesrate auf.
Daraus
folgt: Wer nicht lernt, seine negativen Emotionen wie Ärger und Wut zu
verarbeiten, belastet Herz und Kreislauf und läuft Gefahr, einen Herzinfarkt
oder Schlaganfall zu bekommen.
Psychische Faktoren wie emotionaler Stress lösen oft auch organisch bedingte Synkopen wie etwa beim Herzinfarkt, bei Arhythmien oder beim plötzlichen Herztod aus.
Bestimmte vagovasale Synkopen werden dagegen ausschließlich durch psychosoziale Belastungsfaktoren verursacht. Derartige „emotionale Synkopen“ werden durch psychische Faktoren wie Schockzustände (z.B. Nachricht vom plötzlichen Tod eines nahen Angehörigen), Ekelgefühle oder Angst vor Blut (Blutphobie) in Verbindung mit fehlenden Bewältigungsstrategien ausgelöst, aber auch durch Schwächeanfälle z.B. bei jungen Menschen im Rahmen von Massenveranstaltungen wie etwa Rockkonzerten.
Psychogene Ohnmacht wird psychodynamisch als Mechanismus gesehen, einer ausweglos erscheinenden Situation zu entkommen, da Kampf oder Flucht nicht möglich sind oder nicht gewagt werden.
Die Betroffenen fühlen sich
in großen seelischen Belastungssituationen hilflos und „ohnmächtig“. So genannte
dissoziative Anfälle mit Ohnmacht ereignen sich dagegen ohne Blutdruck- und
Herzfrequenzänderungen.
Dem Psychoanalytiker Franz Alexander zufolge soll eine chronisch unterdrückte Aggression, gleichgesetzt mit Feindseligkeit, die Ursache des Bluthochdrucks sein.
Die unbewusste Erwartung des Bluthochdruck-Patienten, sich jederzeit gegen einen Angriff körperlich wehren zu müssen, führe zu einer Blutdruckerhöhung mit dem Ziel einer körperlichen Bereitstellungsreaktion.
Alexander, der den Bluthochdruck zu den typischen psychosomatischen Störungen zählt, betrachtet die unterstellte Feindseligkeit als verdrängt, das heißt als unbewusst.
Nach anderen Fachleuten sind sich die Betroffenen ihrer Feindseligkeit durchaus bewusst, sind aber nicht in der Lage, ihren Ärger entsprechend zu verarbeiten, sodass sie angespannt bleiben und einen erhöhten Blutdruck bekommen.
Trotz jahrzehntelanger Forschungen gibt es bislang keine eindeutigen Beweise dafür, dass psychische und psychosoziale Faktoren allein eine Hypertonie bewirken können.
Anhaltender Stress und negative Emotionen scheinen jedenfalls die Blutdruckeinstellung zu erschweren, falls bereits eine arterielle Hypertonie besteht.
Die Aggressions- und die Stresshypothese zählen seit vielen Jahren zu den interessantesten psychologischen Konzepten zur Erklärung von Bluthochdruck.
In der Mehrzahl der Fälle wird man bei seiner Behandlung jedoch nicht auf
Medikamente verzichten können.
Im Gegensatz zum Bluthochdruck gibt es zum niedrigen Blutdruck keine allgemein akzeptierten psychologischen Konzepte.
Hypotonie wird erst dann zur Belastung, wenn der seit Jahren problemlos tolerierte niedrige Blutdruck in Verbindung mit anderen Faktoren zu weit absinkt.
Nach Meinung verschiedener Fachleute können bei einer
Hypotonie eine mangelnde psychische Aktivierung, ein allgemeines
Ohnmachtserleben gegenüber den Anforderungen des Alltags und ein Unvermögen,
Konflikte zu lösen, zu Erschöpfung und Blutdruckabfall führen.
Therapeutische Strategien
Bei niedrigem Blutdruck sollte auf eine ausreichende körperliche Aktivierung geachtet werden, um auf diese Weise nicht nur den Blutdruck zu steigern, sondern auch das häufige Schonverhalten der Betroffenen zu überwinden.
Viele Frauen, die früher einmal aus völlig unterschiedlichen Gründen einen Kreislaufzusammenbruch erlebt haben, fürchten oft auch später einen weiteren Ohnmachtsanfall und entwickeln dann eine Einschränkung des Bewegungsspielraums im Sinne einer Platzangst (Agoraphobie).
Bei vagovasalen Synkopen sind zwei Aspekte von besonderer Bedeutung: einerseits
intensive Bewegungen der Beine, um den Blutkreislauf rasch zu verbessern, und
andererseits eine Analyse der allgemeinen Lebenssituation und der möglichen
Auslöser, um der ängstlichen Erwartungsspannung bezüglich der nächsten Synkope
besser begegnen zu können.
Das
psychosomatische Behandlungskonzept von Bluthochdruck ist vielfältig.
Bluthochdruckmittel, Anregungen zur Änderung der ungesunden Lebensgewohnheiten
sowie bestimmte psychologisch-psychotherapeutische Vorgehensweisen werden dabei
sinnvoll miteinander kombiniert:
Wenn der Atem stockt
Hyperventilation – Atemnot durch zu viel Atmen
Frau Kern, 21 Jahre alt, bekommt bei einem Disko-Besuch
plötzlich eine so heftige Hyperventilationsattacke, dass viele Gäste zunächst vermuten,
sie hätte einen epileptischen Anfall. Vor lauter Angst zu ersticken, atmet die
junge Frau so rasch und tief ein und aus, dass die Symptome immer schlimmer
werden – Krämpfe in den Händen, in den Füßen und ein Gefühl der totalen
Benommenheit im Kopf. In der schnell herbeigerufenen Rettung beruhigt sie sich
rasch, weil die Sanitäter vertrauensvoll wirken. Die im Krankenhaus erhobenen
Befunde sind völlig normal. Dennoch fürchtet sich Frau Kern ab da an vor einer
neuerlichen Hyperventilationsattacke, denn keiner der Ärzte kann ihr
überzeugend genug erklären, wodurch der „Anfall“ entstanden sein könnte. Die
Vermutung „Wahrscheinlich haben Sie sich zu viel aufgeregt“ kann sie nicht
teilen, denn sie hatte sich bis zum Anfall ganz wohl in der Runde gefühlt. Drei
Monate später bekommt sie im Elternhaus des Freundes eine neuerliche
Hyperventilationsattacke. Sie misstraut den Ergebnissen der letzten
Untersuchung und lässt sich erneut auf der neurologischen Abteilung eines
anderen Krankenhauses durchchecken. Damit sie „von oben bis unten“ untersucht
wird, verschweigt sie den letzten stationären Aufenthalt. Nach der neuerlichen
Bestätigung der Diagnose „Hyperventilationstetanie“ rät ihr der beigezogene
Konsiliarpsychiater zu einer Psychotherapie. Bereits nach einigen
Therapiestunden wird ihr klar, dass sie aus Wut und Ärger hyperventiliert
hatte: In der Diskothek sah sie ihren Freund plötzlich sehr eng umschlungen mit
einer ehemaligen Mitschülerin tanzen, im Haus der Eltern ihres Freundes war ihr
innerlich zum Platzen, weil ihr Freund bei einem Streit zu seiner Mutter statt
zu ihr gehalten hatte. Frau Kern erkennt, dass sie Schwierigkeiten hat, Ärger
innerlich wahrzunehmen und zuzulassen – und diesen erst schon gar nicht
ausdrücken kann aus Angst, jemanden zu verletzen.
„Vor Wut schnauben“: Atmung und Psyche
Atmen ist Leben! Der Atem wird bereits in der Schöpfungsgeschichte der Bibel als „Lebenshauch“ bezeichnet.
In den alten Sprachen wird für Atem dasselbe Wort verwendet wie für Seele oder Geist.
Nach indischen Vorstellungen wird die
Lebensenergie Prana über den Atem aufgenommen.
Der Mensch kann ohne Essen etwa 40 Tage, ohne Trinken nahezu 5 Tage, ohne Sauerstoff jedoch nur wenige Minuten überleben.
Bei fehlender Sauerstoffzufuhr zum Gehirn treten
bereits nach einigen Sekunden Schwindel und zunehmende Bewusstseinstrübung,
nach 10 Sekunden eine Ohnmacht und nach 4 Minuten bleibende Gehirnschäden auf.
Die Atmung dient vor allem dem Gasaustausch in der Lunge: Sauerstoff wird aufgenommen, Kohlendioxid wird abgegeben.
Sauerstoff ist die Verbrennungsenergie des Körpers, durch die alle Stoffwechselprozesse ermöglicht werden.
Sauerstoff sorgt in den Körperzellen für die Verbrennung der Nährstoffe, wodurch diese zur Energiegewinnung nutzbar gemacht werden.
Während der Sauerstoff verbrannt wird, entstehen Kohlendioxid und Wasser als Stoffwechselabfälle.
Zu viel Kohlendioxid und zu wenig Sauerstoff im Blut führen zum Einatmen.
Die Steuerung der Atmung
erfolgt durch das Atemzentrum im Hirnstamm.
Die Atmung steht in enger Verbindung mit der Sprache, denn die Stimme wird durch die Atemluft gebildet.
Sprechen ist tönendes Ausatmen. Lautäußerungen wie Stöhnen,
Schluchzen, Keuchen oder Seufzen sind weitere ausdrucksvolle Varianten der
Atmung.
Die Ruheatmung sollte nicht mehr als 15 Atemzüge pro Minute umfassen (bei Männern 12 bis 14, bei Frauen 14 bis 15 Atemzüge).
Unter Belastung erfolgen bis zu 30 Atemzüge, bei gezielter Entspannung 6 bis 10 Atemzüge pro Minute.
Schneller atmen beschleunigt den Herzschlag, weil der vermehrt eingeatmete Sauerstoff zu den Organen weiterbefördert werden muss.
Langsamer atmen verlangsamt den Herzschlag. Einatmen bedeutet Anspannung, Ausatmen bewirkt Entspannung.
Je
flacher die Atmung, desto schneller ist sie und desto höher ist in der Regel
auch die Herzfrequenz.
Auf den Umstand, dass sich bei starken Emotionen sofort die Atmung verändert, weisen auch zahlreiche Redewendungen hin – hier eine kleine Auswahl:
Je nach Temperament können wir kurzatmig, langatmig oder atemlos sein.
Manchmal halten wir vor Schreck den Atem an, verschlägt es uns den Atem, steht unser Atem still oder er stockt uns.
Öfter bleibt uns die Luft weg, sind wir atemlos vor Aufregung.
Wir schnauben vor Wut, lassen Dampf ab, machen unserem Ärger Luft oder haben letztendlich den längeren Atem.
Mitunter ersticken wir fast an unseren Sorgen, aber wir kämpfen bis zum letzten Atemzug.
Wenn wir keine Luft
mehr haben, müssen wir uns wieder Luft verschaffen – oder wir können einen
Stoßseufzer zum Himmel schicken!
Die Atmung nimmt eine Schlüsselstelle im vegetativen Nervensystem ein.
Dieses reguliert die Atmung über seine beiden Äste: Das parasympathische Nervensystem bewirkt durch die Verengung der Luftröhre und das Zusammenziehen der Bronchialmuskulatur mehr körperliche Ruhe und Entspannung.
Das sympathische
Nervensystem ermöglicht durch die Erweiterung der Luftröhre, die Erschlaffung
der Bronchialmuskulatur und die damit verbundene erhöhte Dehnbarkeit der
Bronchien eine vertiefte Einatmung im Falle verstärkter körperlicher Aktivität.
Rasche Atmung bewirkt einen höheren Puls, langsame Atmung führt zu innerer Ruhe und Entspannung.
Atmung und körperliche bzw. psychische Befindlichkeit hängen eng zusammen.
Es ist unmöglich, ruhig und entspannt zu atmen und gleichzeitig
aufgeregt zu sein!
Wenn man vor dem Einatmen zu wenig ausatmet, wie dies oft bei Stress, Erregung, Wut und Angst der Fall ist, stauen sich Kohlendioxid und Schlacken als Abfallprodukte des Atmens in der Lunge und gelangen ins Blut.
Das wiederum bewirkt eine
vorübergehende Vergiftung, die sich in Unruhe, Müdigkeit oder Erschöpfung
äußert. Ständige Sauerstoffunterversorgung des Körpers führt langfristig zu
Verspannungen, Kopfweh, Kreislaufproblemen, rascher Ermüdung und Konzentrationsschwäche.
Schock- und Schreckreaktionen äußern sich subjektiv in Atemanhalten, Zuschnüren der Kehle, einem „Kloßgefühl“ im Hals, allgemeiner Schwäche, Schwindel, Benommenheit und Erstickungsangst.
Bei anhaltendem Schreck kann man kaum ausatmen, die Luft verbleibt im Körper, anschließend atmet man mit angespanntem Brustkorb wieder ein.
Dies führt zu einem Spannungsgefühl in der Brust, meist auf der linken Seite, was oft herzbezogene Ängste auslöst.
Grundsätzlich dient ein
„Tief-Luft-Holen“ in
Schrecksituationen dazu, innezuhalten, sich voll zu konzentrieren und dann
gezielt zu reagieren (was bei „Schrecktypen“ unterbleibt).
Oft hält man die Luft an, um unangenehme Gefühle zu unterdrücken und Schmerzzustände besser auszuhalten.
Äußerliche Enge spüren viele Menschen als innerliche Enge im Brustraum. Dies kommt auch in der lateinischen Wortwurzel für unser deutsches Wort Angst zum Ausdruck (angustiae = Enge der Brust).
Wenn bestimmte Orte oder Räume auf uns beengend wirken, fühlen wir uns in unserer Freiheit eingeschränkt.
Wir glauben, nicht mehr richtig
durchatmen zu können und neigen zur Flucht ins Freie, wo wir vermeintlich mehr
Luft bekommen – eine Tendenz, die gerade bei Menschen mit Platzangst
(Agoraphobie) oft anzutreffen ist.
Alle starken Gefühle wie etwa Ärger, Wut, Angst, Panik, Schmerz, sexuelle Erregung oder stressbedingte Anspannung verändern die Atmung.
Menschen mit Ängsten, chronischem Stress und Verspannung atmen meistens flach im oberen Brustkorbbereich und nutzen damit nur ein Drittel bis zur Hälfte der Lungenkapazität.
Bei mehr Sauerstoffbedarf atmen sie noch stärker mit dem Brustkorb statt intensiver mit dem Zwerchfell.
Bei emotionaler Erregung kann es zur
Hyperventilation (zu rasche und zu tiefe bzw. zu flache Atmung) und bei
plötzlichem Erschrecken zu einem vorübergehenden Atemstillstand kommen, gefolgt
von einer intensivierten Atmung.
Störungen der Atmung findet man auch bei Patienten mit psychischen Störungen, vor allem bei Depressionen sowie bei Angststörungen.
Depressive erleben oft Symptome wie Enge im Brustkorb (bis in den Hals reichend), Atemnot, Druck auf der Brust, Lufthunger, flache oder unregelmäßige Atmung, schweres Atmen und Hustenreiz.
Angst- und Panik-Patienten leiden oft unter
Beklemmungsgefühlen und Druckgefühlen im Brustbereich sowie unter beschleunigter
Atmung bis hin zur Hyperventilation, die manchmal auch den Beginn einer
Panikstörung markiert.
Psychosomatisch relevante Atemstörungen
Funktionelle Störungen |
Somatoforme autonome
Funktionsstörungen des respiratorischen Systems: · psychogener Husten |
Organisch fundierte Störungen |
Lungenkrankheiten
mit psychosomatischer Relevanz: |
Funktionelle Störungen
Nichtorganische Atemstörungen werden als somatoforme autonome Funktionsstörung des respiratorischen Systems bezeichnet und umfassen alle funktionellen Beeinträchtigungen der Atemregulation bei intaktem Atemapparat (Brustkorbwand, Lungen, Atemmuskulatur).
Die klinisch bedeutsamste funktionelle Atemstörung ist die Hyperventilation.
Darunter versteht man eine emotional bedingte, über das physiologische Bedürfnis hinausgehende Beschleunigung und Vertiefung der Atmung, wodurch der Sauerstoffanteil im Blut ansteigt und der Kohlendioxidgehalt stark abfällt.
Dadurch verringert sich das freie Kalzium im Blut, das für die Geschmeidigkeit der Muskeln erforderlich ist.
Dies wiederum führt zu einer Übererregbarkeit der Muskulatur. Der
verminderte Kohlendioxidgehalt im Blut erhöht auch den Gefäßwiderstand im
Gehirn und vermindert dadurch den Blutfluss im Kopf.
Zahlreiche Symptome sind typisch für eine Hyperventilation:
Druck und Engegefühl im Brustkorb, Lufthunger, das Gefühl nicht richtig durchatmen zu können, verbunden mit dem Zwang, ein paar Mal tief durchatmen zu müssen, Herzklopfen, -rasen oder -schmerzen, Gefühllosigkeit, Kribbeln und Zittern an Händen (besonders in den Fingerspitzen), Füßen und Beinen, Kribbeln um die Mundregion, taube Lippen, Globusgefühl (Zuschnüren der Kehle), Verkrampfen der Hände („Pfötchenstellung“), kalte Hände und Füße, Brustschmerzen, Muskelschmerzen, Druck im Kopf und im Oberbauch, Bauchschmerzen (durch das Luftschlucken), Übelkeit, Sehstörungen, Gefühl „wie auf Wolken zu gehen“, Angst ohnmächtig zu werden, Angst vor dem Tod durch Ersticken.
Dauert die Hyperventilation länger an, reagieren die Betroffenen auch mit geistigen Symptomen wie Schwindel, Unwirklichkeitsgefühlen, Konzentrations- oder Bewusstseinsstörungen.
Das sind
Folgen der zu geringen Durchblutung des Gehirns. Die Angst vor Ohnmacht ist
dabei jedoch völlig unbegründet.
Eine Hyperventilation erfolgt gewöhnlich nicht aus einer Atemmittellage heraus, sondern tritt meist nach einer verstärkten Einatmung durch den Mund auf, die durch eine hohe emotionale Erregung ausgelöst wurde.
Ohne gleichzeitige körperliche Aktivität bleibt der Sauerstoff in den Bronchien und wird nicht zu den Lungenbläschen in den Randbezirken der Lunge transportiert, was zum Gefühl einer Atembeklemmung und einer unangenehm erlebten Anspannung des Brustkorbs führt.
Aus Angst vor dem Ersticken atmen die Betroffenen noch stärker mit dem Mund ohne sich zu bewegen und bewirken auf diese Weise eine Hyperventilation mit bedrohlich erlebten Symptomen.
Durch körperliche Aktivität wird dagegen der übermäßig eingeatmete Sauerstoff in Kohlendioxid umgewandelt und das Sauerstoff-Kohlendioxid-Verhältnis im Blut wieder normalisiert.
Bei Bewegung
oder normaler Atmung verschwinden also rasch alle Symptome, sodass keine
medizinische Intervention (Kalzium-Spritze, Beruhigungsspritze oder Papiertüte
vor dem Mund) erforderlich ist.
Bei Patienten
mit chronischer Hyperventilation ist die Atemtätigkeit häufig nur um 10 %
erhöht, zudem reichen oft bereits einzelne tiefe Atemzüge aus, um ein Missverhältnis
von Sauerstoff und Kohlendioxid zu bewirken.
Ein Aspekt wird im klinischen Alltag oft übersehen: Herz- und
Magenbeschwerden oder andauernde Erschöpfung können mit einer ständigen
leichten Hyperventilation zusammenhängen.
Chronischer psychogener Husten
Man versteht darunter einen anfallsweisen Hustenreiz ohne krankhafte Veränderungen des Atmungstraktes.
Die Symptomatik besteht in minuten- bis stundenlangen trockenen Hustenanfällen, die über Jahre vorhanden sein können.
Derartige Hustenanfälle treten oft nach einer viralen Bronchitis auf, sind bedingt durch eine emotionale Anspannung oder eine psychische Konfliktsituation, werden bei Zuwendung und Aufmerksamkeit lauter und verschwinden im Schlaf völlig.
Diese schweren psychogenen
Hustenanfälle haben nichts mit Räusperticks oder Hüsteln zu tun!
Organische Störungen
Asthma bronchiale
5 bis 9 % der Erwachsenen und 10 % der Kinder leiden unter Asthma.
In den letzten Jahrzehnten haben sich die Zahlen dramatisch erhöht – wohl eine Folge der industriellen Lebensumwelt.
Die Umweltverschmutzung scheint dagegen nicht die Häufigkeit von Asthma, wohl aber von Bronchitis sowie von Beschwerden der oberen Atemwege zu erhöhen.
Im
Kindesalter erkranken dreimal mehr Jungen als Mädchen, im Erwachsenenalter
dagegen etwas mehr Frauen. Kinder, die schon im ersten Lebensjahr in
Kinderkrippen kamen, zeigten später viel seltener allergische Reaktionen – wohl
weil sie eine bessere Immunisierung gegenüber asthmarelevanten Allergenen
erreicht haben.
Das Hauptmerkmal von Asthma bronchiale ist eine plötzliche Atemnot mit einem Engegefühl in der Brust, meist verbunden mit einem Reizhusten.
Das Wort „Asthma“ stammt aus dem Griechischen und trifft den Nagel auf den Kopf, denn es heißt übersetzt „schweres Atmen“.
Es besteht eine erschwerte Atmung in Form von Problemen bei der Ausatmung. Dabei treten die typischen keuchenden und pfeifenden Geräusche auf, oft verbunden mit Lufthunger und Erstickungsgefühlen.
Die Betroffenen haben subjektiv das Gefühl, keine Luft zu bekommen, tatsächlich jedoch können sie nicht richtig ausatmen.
Sie atmen weniger Luft aus als ein und erleben infolgedessen eine Überblähung
der Lunge. Der verminderte Gasaustausch kann zur Schädigung der Lunge führen,
weil viele Lungenbläschen vernichtet und die verbleibenden oft übermäßig groß
werden.
Die Asthmaanfälle setzen gewöhnlich anfallsartig binnen weniger Minuten ein und können Minuten bis Stunden anhalten, aber auch dauerhaft bestehen.
Meist löst sich die Verkrampfung der Bronchialmuskulatur nach einiger Zeit ganz spontan.
Wenn dies aber nicht der Fall ist, besteht bald ein lebensbedrohlicher Zustand, denn eine langfristig bestehende Atemwegsverengung kann die Herzfunktion ernsthaft beeinträchtigen.
Die Anfallshäufigkeit variiert zwischen Stunden und
Jahren.
Die Asthmaanfälle beginnen meistens im ersten Lebensjahrzehnt und verschwinden bei der Hälfte der Patienten nach der Pubertät von selbst wieder; sie können aber auch erst viel später einsetzen.
Die Betroffenen sind oft ständig auf ihre Atmung konzentriert und haben Angst zu ersticken.
Nur wenige Asthmatiker
sterben tatsächlich an Komplikationen der Erkrankung. Bei körperlicher
Anstrengung, sportlicher Betätigung oder kalter Luft kann sich ein so genanntes
„Anstrengungsasthma“ infolge einer reflexhaften Verengung der Bronchien
entwickeln, das zur Vermeidung von Belastungen und damit langfristig zur
Verstärkung der Symptome führt.
Man unterscheidet zwischen allergischem Asthma und nichtallergischem, infektiösem Asthma.
Die meisten Patienten weisen eine allergisch bedingte Form auf, die sich bereits im ersten Lebensjahrzehnt entwickelt hat.
Vor allem Kinder leiden
unter allergischem Asthma, während Erwachsene eher ein infektiöses Asthma
entwickeln.
Allergisches Asthma ist eine Reaktion auf bestimmte Allergie auslösende Stoffe, die ein Anschwellen der Bronchialschleimhaut bewirken.
Der zähe Schleim kann nur schwer abgehustet werden und verstopft die Atemwege, wodurch es zur Atemnot kommt. Die Überempfindlichkeit der Bronchien, die auf einer erblichen Komponente beruht, führt hier unter dem Einfluss von auslösenden Faktoren (Allergenen) zu Asthmaanfällen.
Als Allergene sind neben chemischen Stoffen wie Medikamenten,
Friseurmitteln, Insektengift oder Formaldehyd auch viele natürliche Reize
bekannt: Pollen von Bäumen, Blumen oder Gräsern; Tierhaare und Federn von Haus-
oder Nutztieren; Hausstaub (Exkremente der Hausstaubmilbe); Sporen wie etwa
Schimmelpilze oder Hefe; bestimmte Nahrungsmittel; kalte Luft.
Allergisches Asthma gehört zur Gruppe der Atopien oder atopischen Erkrankungen, zu denen auch der Heuschnupfen (allergische Rhinitis), die Nesselsucht (Urtikaria) und das atopische Ekzem (Neurodermitis diffusa) gehören.
Eine Atopie ist eine anlagemäßige, vererbte Bereitschaft zur Überempfindlichkeit mit einer bestimmten Überreaktion.
Menschen mit Atopien haben gegen bestimmte Allergene bestimmte Antikörper gebildet, die sich in großen Mengen im Gewebe der Haut und in den Schleimhäuten befinden.
Bei neuerlicher Konfrontation mit Allergenen
kommt es immer oder fast jedes Mal zur Bildung dieses Antikörpertyps und in der
Folge – wahrscheinlich über die Ausschüttung von Histamin – zu allergischen
Reaktionen an Haut, Bindehaut, Schleimhäuten oder Bronchien.
Eine allergische Reaktionsbereitschaft kann im Laufe des Lebens starken Schwankungen unterliegen, wobei noch unklar ist, welche Bedingungen dafür verantwortlich sind.
Rein medizinisch ist gegenwärtig nicht erklärbar,
Nichtallergisches
(infektiöses) Asthma entsteht vor allem durch Infektionen der oberen und
unteren Atemwege und kann auch als Folge eines sich beruhigenden allergischen
Asthmas auftreten.
Früher wurde auch noch eine dritte Asthmaform angenommen: psychogenes Asthma – Asthma als Folge psychischer Faktoren.
Dieser Ansatz wurde aufgrund
der Erkenntnis aufgegeben, dass Asthma nicht allein durch psychische und
psychosoziale Faktoren erklärbar ist.
Zusammenfassend gesehen können drei Faktoren eine Verengung der
Luftröhrenverzweigungen bewirken, sodass die eingeatmete Luft nur noch schwer
ausgeatmet werden kann:
Nach neueren
Erkenntnissen ist die bronchiale Überreaktion nicht die Ursache von Asthma,
sondern eine Folge der entzündeten Atemwege.
Chronische Bronchitis
Von den so genannten chronisch obstruktiven Lungenkrankheiten, die bei 5 bis 15 % der erwachsenen Bevölkerung vorkommen, wird hier nur die chronische Bronchitis erwähnt.
Dabei sind die zentralen und peripheren Atemwege chronisch entzündet oder verstopft, meist bedingt durch Vererbung, schädliche Reize oder frühere Lungenerkrankungen wie Asthma, Tuberkulose oder Lungenfibrose.
Die chronische Bronchitis kann nicht zur Gänze geheilt werden.
Im Gegensatz zum anfallsartig auftretenden
Asthma mit mehr oder weniger symptomfreien Intervallen besteht hier die
Atembehinderung dauernd oder wiederholt über größere Zeiträume.
Charakteristische Symptome sind Husten, vermehrte Schleimproduktion sowie anhaltende Atemnot, die sich gegenüber den typischen Schadstoffen sowie bei körperlicher Aktivität verschlimmert.
Im weiteren Verlauf kommen als Folge der mangelnden Sauerstoffversorgung vor allem Müdigkeit und Leistungsabfall hinzu.
Chronischer Husten und Schleimproduktion können bereits Jahre vor Krankheitsausbruch vorhanden sein.
Als häufigste Krankheitsursache gilt aktives
Rauchen, weshalb eine Raucherentwöhnung eine unbedingt erforderliche
Behandlungsmaßnahme darstellt.
Psychosomatische Konzepte
Psychologische Faktoren
Somatoforme Atembeschwerden treten vor allem bei intensiven Emotionen auf.
Bei Angst, Aufregung, Wut, unterdrücktem Ärger, Schuldgefühlen, Stress und Schmerzen ist die Atmung oft entweder rasch und tief mit eingestreuten Seufzerzügen oder sie wechselt von unruhiger Mittellage zur Hyperventilation (schnell und flach).
Ein
Hyperventilationssyndrom findet man häufig bei emotional labilen Personen sowie
bei an sich gesunden Menschen in Situationen großer emotionaler Erregung.
Bei Asthma wurden im Laufe der
Zeit folgende psychische und psychosoziale Ursachen und Auslösefaktoren
diskutiert:
Eine Studie bei
Kindern und Jugendlichen hat ergeben, dass folgende psychische und
psychosoziale Faktoren die Krankheit verschärfen und die Todesrate erhöhen
können:
Die Bedeutung psychosozialer Faktoren wird auch unterstrichen durch die hohe Asthma-Rate bei Kindern aus ethnischen Minoritäten, deren Lebensbedingungen von Armut, mangelndem Zugang zum Gesundheitssystem oder negativen familiären Einflüssen geprägt sind.
Studien an Erwachsenen haben gezeigt, dass der tödliche Ausgang
von Asthma in engem Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen,
Drogenmissbrauch, sozialer Isolation oder Verleugnung der Schwere der
Erkrankung steht.
In verschiedenen Studien wurden Asthmatiker mit Personen ohne Atemwegserkrankungen verglichen.
Dabei zeigte sich, dass sich die Bronchien von Asthmatikern bei psychischer Aktivierung oder emotionaler Belastung stark verengten und der Atemwegswiderstand anstieg.
Dennoch ist Asthma nicht seelisch verursacht, es wird jedoch durch ein bestimmtes Verhalten und Erleben begünstigt.
Entgegen den auch heute in der Populärliteratur noch oft vertretenen Auffassungen muss klar gesagt werden: Asthma ist keine psychische Störung mit Organsymptomatik!
Asthma
ist im Sinne des biopsychosozialen Krankheitsverständnisses eine chronische
körperliche Krankheit mit einer Entzündung und daraus folgender Verengung der
Atemwege; Asthma kann jedoch durch psychische Faktoren (Angst, Ärger, Stress)
ausgelöst bzw. verstärkt und durch psychosoziale Faktoren aufrechterhalten
werden.
Ein multikausales Krankheitsmodell geht bei Asthma von einer bronchialen Überreaktion aus, bedingt durch Vererbung und unterstützende Faktoren aus der Lebensumwelt (Infektionen, Umweltbelastungen, Rauchen bzw. Passivrauchen).
Auf diesem
Hintergrund bewirken bestimmte Auslöser den asthmatischen Anfall; es handelt
sich dabei um folgende fünf Faktorenbündel: Allergene, körperliche Aspekte
(z.B. Infekte oder körperliche Belastungen), unspezifische Reize (z.B. Kälte
oder Staub), psychische Faktoren (Ärger, Angst, Trauer, Erregung, Unsicherheit,
Depression, Freude) und soziale bzw. familiäre Bedingungen.
Bei Infekten
der oberen Atemwege kann chronischer Stress das Immunsystem schwächen und damit
die Abwehrkraft des Körpers, was derzeit noch viel zu wenig bedacht wird.
Therapeutische Strategien
Bei einer Hyperventilation bzw. einer emotional bedingten Beschleunigung der Atmung geht es vorerst einmal darum, die zugrunde liegenden Gefühle wahrzunehmen und zu lernen, sie zu verarbeiten, damit die Symptomatik nicht chronisch wird.
Die häufig vorhandene Angst vor einer neuerlichen
Hyperventilation kann dann durch gezielte Atemtechniken überwunden werden: Die
so genannte Lippenbremse (langsames Ausatmen durch leicht geschlossene Lippen)
oder rasche Bewegungen, wenn eine beschleunigte Atmung einsetzt, sind besonders
hilfreich.
Bei einer verminderten Atemfrequenz von sechs bis acht Zügen pro Minute und einer langsamen Ausatmung entspannen sich die Muskeln und der Blutdruck sinkt.
Wenn diese Techniken automatisiert sind, werden eine Kalziumspritze und die berühmte Papiertüte vor dem Mund zum erneuten Einatmen der ausgeatmeten Luft überflüssig.
Ein Training zur regelmäßigen Zwerchfellatmung („Bauchatmung“) ist von besonderer Bedeutung, weil die Betroffenen bereits ganz allgemein und speziell in Situationen hoher emotionaler Erregung eine Brustatmung aufweisen.
Atemübungen spielen bei vielen Entspannungstechniken eine große Rolle, insbesondere bei Yoga, aber auch beim Biofeedback-Training.
Daneben sollten die Betroffenen jene emotionalen Konflikte zu bewältigen lernen, die zur Atembeschleunigung geführt haben.
Dabei kann eine Partner- oder
Familientherapie oder eine berufsbezogene Beratung angezeigt sein.
Gerade das Beispiel Asthma zeigt die wichtige Rolle von klinischen Psychologen und Psychotherapeuten – auch wenn klar ist, dass es sich um eine grundsätzlich organisch bedingte Krankheit handelt.
Ihr Einsatz bezieht sich vor allem auf
folgende Ziele und Aufgabenbereiche:
Bei der chronischen Bronchitis werden keine psychischen und psychosozialen Auslöser diskutiert.
Es geht daher in einer psychosomatisch orientierten Therapie hauptsächlich um die Bewältigung der Krankheit und deren psychische Folgen.
Psychologen und Psychotherapeuten können an folgenden Aufgaben
beteiligt sein: Raucherentwöhnung, Atem- und Entspannungstraining, körperliche
Aktivierung, Änderung des Lebensstils und verschiedener Denkmuster, Wahrnehmung
und Bewältigung problemverschärfender Gefühle wie Wut oder Ärger, Behandlung
psychischer Begleitstörungen wie Ängste und Depressionen.
Wenn der Magen rebelliert
Reizmagen – der Bauch in Aufruhr
Herr Schuster, ein 45-jähriger Tischler, leidet seit Jahren unter immer
wiederkehrenden Beschwerden im linken Oberbauch. Sie setzen plötzlich ein,
dauern mehrere Tage lang an und sind mit Übelkeit, Völlegefühl, Sodbrennen und
Schmerzen verbunden. Herr Schuster hat im Laufe der
Jahre selbst bemerkt, dass trotz seiner Vorsorge – er meidet etwa das Essen in
der Kantine – die Beschwerden phasenweise ärger werden, ohne dass ihm ein
plausibler Grund dafür bekannt wäre. In den letzten vier Monaten war er nicht
nur mehrfach beim Hausarzt, sondern auch bei zwei „Magen-Spezialisten“. Es
wurden aber keine organischen Ursachen gefunden. Mangels Alternativen greift er
den Ratschlag auf, zu einem psychologischen Psychotherapeuten zu gehen. Bereits
im ersten Gespräch wird deutlich, dass ihm die Situation am Arbeitsplatz sehr
zusetzt: schlechtes Betriebsklima, große Fluktuation unter den Mitarbeitern,
Wechsel in der Führungsetage, zunehmendes Mobbing unter den Mitarbeitern,
unzureichende Abgeltung von Überstunden, steigender Arbeitsdruck bei gleichzeitigem
Abbau von Mitarbeitern aus Kostengründen. Herr Schuster ist es gewohnt, trotz
allem die bestmögliche Leistung zu erbringen – immer stärker macht sich aber
ein Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit breit, dazu verspürt er oft eine
riesige Wut auf bestimmte jüngere Mitarbeiter, die es im Gegensatz zu ihm
geschafft haben, sich beim neuen jungen Chef einen guten Stand zu verschaffen.
„Eine Wut im Bauch haben“: Magen und Psyche
Der Magen-Darm-Trakt dient dazu, Nahrung aufzunehmen und zu verarbeiten, um den Körper mit Energie zu versorgen: Lebenswichtige Stoffe werden zugeführt, Abbaustoffe und Schadstoffe werden ausgeschieden.
Der Weg des Nahrungstransports ist allen bekannt: von der Mundhöhle durch die Speiseröhre in den Magen, von dort über den Zwölffingerdarm in den Dünndarm, dann weiter in den Dickdarm und in den Mastdarm und schließlich über den After in die Toilette.
Man unterscheidet zwischen einem oberen Gastrointestinalbereich (Magen und Speiseröhre) und einem unteren Gastrointestinalbereich (Darm).
Zur Verdauung der Nahrung sind auch
Stoffe aus anderen Organen erforderlich und zwar aus der Galle und der
Bauchspeicheldrüse.
Das Verdauungssystem hat ein eigenes Nervensystem, das so genannte enterische Nervensystem, das manchmal auch „zweites Gehirn“ oder "Darmhirn" genannt wird.
Die Verdauung wird durch das parasympathische Nervensystem angeregt und durch das sympathische Nervensystem gehemmt.
Bei körperlicher Betätigung und psychischem Stress wird die Verdauungstätigkeit weitgehend eingestellt, um die körperliche Leistungsfähigkeit zu verbessern.
Bei einem Dauerlauf etwa wird keine feste Nahrung verdaut, weshalb Leistungssportler wie Marathonläufer oder Radfahrer nur leicht verdauliche Flüssignahrung zu sich nehmen.
Bei starker und lang
anhaltender Belastung oder emotionaler Erregung sind das sympathische und das
parasympathische Nervensystem gleichzeitig aktiv, was zu Verdauungsstörungen
führt.
Er zerlegt diese mithilfe des Magensaftes und leitet den Speisebrei weiter in den Zwölffingerdarm, den ersten Abschnitt des Dünndarms.
Die Magenmuskulatur wird aktiv, um die Speise zu mischen und weiterzutransportieren.
Die Magenschleimhaut, die erste der vier Schichten der Magenwand, enthält Drüsen und Zellen, die Schleim, Pepsin, Salzsäure und hormonartiges Gastrin absondern.
Bestimmte Magenenzyme, Darmbewegungen und die Magensäureausscheidung ändern sich durch psychische Einflüsse wie etwa starke Emotionen.
Wut und Hass hemmen über das sympathische Nervensystem die Magen- und Darmtätigkeit, Schreck und Prüfungsangst führen dagegen über das parasympathische Nervensystem zu Durchfall.
Psychosoziale Belastungen und Konflikte innerhalb oder außerhalb der Person können sich „auf den Magen schlagen“, sodass dieser zum Austragungsort seelischer Probleme wird.
Dies wird auch durch zahlreiche Redewendungen deutlich: Im Bauch haben wir – je nach Gefühl und Situation – eine Wut, ein flaues Gefühl, ein Flattern oder Schmetterlinge.
Zweierlei finden wir schön: dass die Liebe durch den Magen geht und wenn wir aus dem Bauch heraus leben und handeln können.
Wir können etwas hinunterschlucken, alles in uns hineinfressen und lange an etwas herumkauen.
Manchmal verschlägt sich etwas auf unseren Magen; das liegt uns dann schwer im Magen und wir tun uns schwer, es zu verdauen.
Manchmal ist uns ganz flau im Magen, dreht sich uns der Magen um, stößt es uns sauer auf, vergeht uns der Appetit, haben wir etwas gründlich satt.
Das finden wir zum Kotzen! Mitunter kommt uns die Galle hoch, spucken wir Gift und Galle, es kann uns auch einmal etwas über die Leber laufen.
Bei psychischen Problemen bestehen oft funktionelle Oberbauchbeschwerden (Appetitlosigkeit, Übelkeit, Völlegefühl, Magenschmerzen, Erbrechen, Aufstoßen, Sodbrennen) und funktionelle Unterbauchbeschwerden (Durchfall, Verstopfung, Reizdarm).
Funktionelle und organisch begründete Magen- und Darmstörungen gehen zwar mehrheitlich mit einer vagotonen (= parasympathischen) Fehlsteuerung einher, können jedoch auch durch eine sympathische Überaktivität mitverursacht sein (neben Anlagefaktoren und Risikoverhaltensweisen).
Bei Stress, Erregung oder körperlicher Betätigung hemmt das sympathische Nervensystem die Magen- und Darmtätigkeit, um Energie zu sparen und den Körper kurzfristig ganz auf Kampf oder Flucht einzustellen.
Bei dieser Kampf- oder Fluchtreaktion werden Skelettmuskeln, Herz und Gehirn stärker durchblutet als im entspannten Zustand, die Verdauungsorgane dagegen weniger.
Die kleinen Arterien in der Magenschleimhaut verengen sich unter dem Einfluss der Stresshormone.
Durch die mangelhafte Durchblutung wird auf die Dauer die Schleimhaut geschädigt, sodass die Magenwände selbst bei verminderter Magensäure nicht mehr geschützt sind.
Magenbeschwerden treten auch bei verschiedenen psychischen Störungen auf, insbesondere bei Depressionen: Übelkeit, Brechreiz, Völlegefühl, Sodbrennen, Schluckauf, saures Aufstoßen, spastische Magen-Darm-Beschwerden, bandartige oder diffus wechselnde Druckschmerzen im Bauchraum, Appetitlosigkeit mit Gewichtsverlust oder auch Heißhungerattacken.
Bei Angststörungen findet man vor allem Übelkeit und ein Unruhegefühl im Bauch.
Bei 87 % der Reizmagen-Patienten ist eine psychische
Störung vorhanden, meist eine Angststörung oder eine Depression, während dies
nur bei 25 % der organisch bedingten Magenstörungen der Fall ist.
Psychosomatisch relevante Beschwerden des Magens und der Speiseröhre
Funktionelle Störungen |
Somatoforme autonome Funktionsstörungen des oberen Gastrointestinalbereichs: Reizmagen (funktionelle Dyspepsie)andere funktionelle Magenstörungen (psychogenes Erbrechen, Magenkrämpfe, funktionelle Bauchschmerzen) funktionelle Störungen der Speiseröhre (Globusgefühl, funktionelle Schluckstörung, Luftschlucken, Wiederkäuen, nichtkardialer Brustschmerz, funktionelles Sodbrennen) |
Organisch fundierte Störungen |
Gastritis |
Funktionelle Störungen
Reizmagen (funktionelle Dyspepsie)
Nichtorganische Magen- und Speiseröhrenbeschwerden werden als somatoforme Störungen des oberen Gastrointestinaltrakts bezeichnet, wenn sie auch noch bestimmte andere Kriterien (mindestens drei weitere somatoforme Symptome) erfüllen.
Magenbeschwerden sind weit verbreitet: Rund 15 % der erwachsenen Bevölkerung leiden daran, innerhalb der letzten zwölf Monate vor der Befragung sind dies etwa ein Viertel oder sogar ein Drittel der Bevölkerung.
Davon sucht wieder etwa ein Drittel einen Arzt auf. Bis zu 5 % aller Konsultationen einer hausärztlichen Praxis erfolgen wegen funktioneller Magenbeschwerden.
Bei mehr als der Hälfte der Betroffenen lassen sich keine organischen Ursachen dafür ausfindig machen.
Man spricht dann von einem nervös bedingten Reizmagen.
Unter den Menschen mit funktionellen Magen-Darm-Beschwerden leiden 30 % an einem Reizmagen und 50 % an einem Reizdarm.
Frauen weisen zwei- bis dreimal häufiger als Männer einen Reizmagen oder Reizdarm auf, die Häufigkeit der Beschwerden nimmt mit dem Alter zu.
In der Fachwelt setzt sich immer mehr der Begriff „funktionelle Dyspepsie“ durch (im Englischen der Ausdruck „Non-ulcer-dyspepsia“), zusammengesetzt aus den griechischen Wortwurzeln dys = Störung eines Zustandes und pepsis = Verdauung.
Die bekannteren deutschen Bezeichnungen sind „Reizmagen“ und „funktionelle Oberbauchbeschwerden“. Früher wurde dafür auch das antiquierte Wort „Magenneurose“ verwendet.
Eine funktionelle Dyspepsie ist charakterisiert durch Schmerzen oder Missempfindungen, die im mittleren Oberbauch entstehen.
Genauer definiert, besteht eine funktionelle Dyspepsie aus mindestens drei Monate andauernden nichtorganisch bedingten Beschwerden oder Schmerzen im bevorzugt linksseitigen oder mittleren Oberbauch wie etwa chronischen oder wiederkehrenden Oberbauchschmerzen, Druck- und Völlegefühl im Oberbauch, nichtsaurem Aufstoßen, vorzeitigem Sättigungsgefühl und Appetitmangel, Übelkeit, Brechreiz und Sodbrennen.
Die Symptome können während der Aufnahme von Speisen oder Stunden später, aber auch nach längeren Hungerphasen auftreten.
Man unterscheidet vier Formen von funktioneller Dyspepsie und zwar orientiert an
den entsprechenden organischen Erkrankungen, denen sie ähnlich erscheinen:
Eine Dyspepsie ähnlich einer Ulkuserkrankung besteht aus mindestens drei der folgenden Symptome:
Der Schmerz ist im Oberbauch lokalisiert (eventuell nur
an einer kleinen Stelle), nimmt durch Nahrungsaufnahme oft ab (über 25 % im
Zeitablauf), wird häufig gelindert durch bestimmte Medikamente, tritt oft vor
Mahlzeiten oder bei Hunger auf (Nüchternschmerz), kann den Betroffenen manchmal
aus dem Schlaf aufwecken (Nachtschmerz), zeigt sich periodisch mit Besserung
und Rückfällen (Phasen von mindestens zwei Wochen ohne Schmerzen wechseln sich
ab mit Phasen von Wochen bis Monaten mit Schmerzen).
Eine Dyspepsie ähnlich einer Motilitätsstörung besteht aus Beschwerden im oberen Bauchraum, wobei Schmerz nicht das dominierende Symptom ist.
Die Beschwerden sind chronisch und bestehen aus mindestens drei der folgenden Symptome: frühzeitiges Sättigungsgefühl; Völlegefühl nach der Mahlzeit; Übelkeit vor allem am Morgen; wiederkehrender Würgereiz und/oder Erbrechen; Gasbildung, Aufstoßen, Blähungsgefühl und Spannung im Oberbauch ohne sichtbare Blähungen im Bauchraum; die Beschwerden im oberen Bauchraum werden durch Nahrung verstärkt.
Eine Dyspepsie ähnlich einer Refluxstörung besteht aus einer Kombination von funktioneller Dyspepsie und Sodbrennen bzw. saurem Aufstoßen. Sodbrennen und Säurereflux allein machen noch keine Dyspepsie aus.
Typisch sind folgende Symptome: Beschwerden unterhalb des Brustbeins bzw. im Oberbauch oder Sodbrennen; brennende Schmerzen im Oberbauch; Aufstoßen von Magensaft oder Essen; Mahlzeiten, heiße Getränke oder Wechsel der Körperposition verschlimmern die Beschwerden.
Bei Dyspepsie-Patienten wechseln im Krankheitsverlauf oft die Leitsymptome, weshalb die bekannten Einteilungen problematisch sind.
Nach einer umfangreichen Studie hatten sich die Symptome innerhalb von zwei Jahren dreimal, bei 20 % zweimal und bei weiteren 22 % einmal verändert.
Den häufigsten Wechsel verzeichneten Patienten mit einer Dyspepsie vom Ulkus-Typ.
Bei Frauen und jüngeren Patienten änderten sich die Symptome häufiger als bei Männern oder älteren Menschen.
Menschen mit einer funktionellen Dyspepsie fühlen sich in ihrer Lebensqualität so beeinträchtigt wie Patienten mit Arthritis oder Herzinsuffizienz, sodass die Störung von Außenstehenden nicht einfach als harmlose funktionelle Störung abgetan werden darf.
Die Mehrzahl der betroffenen Reizmagen-Patienten weist einen Mischtyp von Reizmagen und Reizdarm auf. Verschiedene Reizmagen-Patienten leiden unter Reizdarmsymptomen wie Durchfall oder Verstopfung, oft auch unter weiteren Beschwerden wie Kopfschmerzen, Schlafstörungen oder Schmerzen in anderen Körperregionen.
Viele Reizmagen-Patienten leiden im Vergleich zu Patienten mit organisch bedingter Dyspepsie auch noch unter zahlreichen weiteren vegetativen Symptomen, wie dies dem Konzept der somatoformen autonomen Funktionsstörungen entspricht:
Sie gehen häufiger zum Arzt, wechseln öfter die Behandler, konsumieren mehr Medikamente, sind häufiger krank geschrieben, neigen stärker zu hypochondrischen Bewertungen ihrer ungefährlichen Körpersymptome und weisen häufiger psychische Störungen auf (vor allem Angststörungen).
Die Betroffenen können und wollen lange Zeit einfach nicht glauben, dass sie körperlich gesund sind. Wichtig: Reizmagen- und Reizdarm-Patienten haben kein erhöhtes Risiko, an Magen- oder Darmkrebs zu erkranken.
Der Verlauf der Reizmagensymptomatik ist wie beim Reizdarm unterschiedlich.
Während eine Gruppe
durch die Versicherungen des Arztes über die Ungefährlichkeit der Symptome eine
Spontanheilung erlebt, findet eine zweite Gruppe mithilfe von Medikamenten
zumindest über Jahre zu langen symptomfreien Intervallen und entwickelt sich
bei einer relativ großen dritten Gruppe ein chronischer Verlauf mit einer
Zunahme von anderen Beschwerden und einer erheblichen Beeinträchtigung der
sozialen und beruflichen Funktionsfähigkeit.
Andere funktionelle Magenstörungen
Übelkeit
Häufige Übelkeit muss nicht unbedingt mit einem übersäuerten Magen oder
einer Reaktion auf verdorbene Speisen zusammenhängen, sondern kann auch durch
Ekelgefühle oder eine angespannte Zwerchfellmuskulatur bedingt sein.
Psychogenes Erbrechen
Beim psychogenen Erbrechen wird ohne Zusammenhang mit einer Essstörung willkürlich oder unwillkürlich vorher verschluckte Nahrung erbrochen, ausgelöst durch psychische Belastungen und emotionale Faktoren, z.B. bei Prüfungsangst.
Das Erbrechen steht meist in engem Zusammenhang mit dem Essen, typischerweise erfolgt es unmittelbar nach Beginn der Nahrungsaufnahme und seltener am Ende.
Bei
manchen Menschen ist die Symptomatik rasch überwunden, bei anderen kann sie
einen jahrelangen Verlauf haben.
Magenkrämpfe
Schmerzhafte Magenkrämpfe sind häufig verursacht durch spontane oder
andauernde Verspannungen der Magenmuskulatur und können bei langer Dauer als
anhaltende somatoforme Schmerzstörung diagnostiziert werden.
Magenschmerzen
Diffuse Magenschmerzen können bedingt sein durch eine mangelhafte Durchblutung der Magenwand als Folge einer sympathischen Übererregung bei ständigem Stress und einer Überproduktion von Säure, die die minderdurchblutete Magenwand reizt.
Funktionelle
Störungen der Speiseröhre
Globusgefühl
Ein Globusgefühl (vom Lateinischen globus = Kugel, Ball) ist ein mindestens drei Monate anhaltendes, chronisches oder immer wieder auftretendes Fremdkörpergefühl im Halsbereich zwischen dem oberen Teil des Brustbeins und der Schilddrüse, das oft durch eine muskuläre Verspannung des Speiseröhreneingangs bedingt ist.
Diese Missempfindung tritt meistens zwischen den Mahlzeiten auf, also beim Leerschlucken, das Schlucken an sich ist nicht beeinträchtigt.
Die Betroffenen beklagen folgende Symptome: Kloß im Hals, Kratzen, Brennen, Trockenheits- oder Schleimgefühl, Räusper- oder Schluckzwang, Schmerzen im Hals, die gelegentlich bis zu den Ohren ausstrahlen, im Extremfall ein Zuschnüren der Kehle, das als Angst machendes Erstickungsgefühl erlebt wird.
Die Störung kann als Einzelsymptom oder in Verbindung mit anderen Magen-Darm-Beschwerden auftreten.
Ein Globusgefühl wird im Gegensatz zu einer Schluckstörung durch Essen und Trinken gebessert und durch Leerschlucken verstärkt.
Zahlreiche Betroffene versuchen durch ständiges Schlucken oder Lutschen von Bonbons oder Kauen von Kaugummi die Speichelproduktion anzuregen und dadurch einen trockenen Mund und das Globusgefühl zu vermeiden, erreichen dadurch aber oft nur das Gegenteil: Durch das wiederholte Schlucken verstärken sie die Aufmerksamkeit auf die unangenehmen Empfindungen im Rachenbereich.
Ein Globusgefühl kommt oft zusammen mit einer Refluxerkrankung vor.
Ein weiteres nichtorganisches Globusgefühl entsteht durch Verspannungen der Schluck- und Halsmuskulatur, bedingt durch extreme körperliche Belastung, aber auch durch extremes Zurückbeugen des Kopfes (z.B. beim Zahnarzt) und der damit verbundenen Überdehnung der Halsmuskulatur.
Verschiedene Patienten fürchten den
Zahnarzt gerade wegen dieses Globusgefühls. Sie haben Angst, etwas zu
verschlucken und dabei zu ersticken.
Funktionelle Schluckstörung (Dysphagie)
Es handelt sich dabei um eine organisch nicht erklärbare Schluckstörung mit und ohne Schmerzen, die im Gegensatz zum Globusgefühl während des Essens oder Trinkens bzw. kurz nach dem Schluckakt auftritt.
Über den Zeitraum von mindestens drei Monaten besteht das Gefühl, dass feste oder flüssige Speisen in der Speiseröhre stecken oder sie abnormal passieren.
Man kann drei Arten von funktionellen
Bewegungsstörungen der Speiseröhre unterscheiden:
Luftschlucken
Luftschlucken ist eine Sonderform einer funktionellen Schluckstörung und tritt oft bei zu hastigem Essen auf.
Es ist durch folgende Symptome charakterisiert, die über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten auftreten müssen: stressbedingtes Luftschlucken oder Luftschlucken beim Essen, Blähungen und Aufstoßen, häufiges „trockenes“ und lautes Schlucken, Vorwärtsbewegung des Halses beim Schlucken.
Wiederholtes Rülpsen soll die Spannungen oder Blähungen im Bauchraum verringern, es bringt jedoch nur eine vorübergehende Erleichterung, weil weniger Luft herausbefördert wird als vorher geschluckt wurde.
Bei einer Hyperventilationsneigung können mitunter
Oberbauchbeschwerden auftreten, die durch Luftschlucken bedingt sind.
Wiederkäuen (Ruminationssyndrom)
„Rumination“ bezeichnet ein Wiederkäuen von Nahrung.
Es handelt sich um ein mindestens drei Monate andauerndes Heraufwürgen von gerade aufgenommener Nahrung mit neuerlichem Kauen und erneutem Schlucken. Übelkeit und Erbrechen treten dabei nicht auf.
Das Wiederkäuen hört meist bei mehr Magensäure auf.
Funktionelle Brustschmerzen mit Ursprung in der
Speiseröhre
Die Schmerzen sitzen hinter dem Brustbein, sind belastungsabhängig und werden ähnlich wie eine Angina pectoris erlebt.
Sie treten in der Körpermitte mit und ohne Schluckstörung auf und dauern mindestens drei Monate lang an.
Die nichtorganische Ursache dafür besteht in einem erhöhten Säurereflux, in einer Überempfindlichkeit bei normalem Säurereflux oder in einer Bewegungsstörung der Speiseröhre.
Die Betroffenen befürchten oft irrtümlich eine Herzerkrankung und
suchen deswegen den Arzt auf.
Funktionelles Sodbrennen
Es bestehen mindestens drei Monate anhaltende brennende Beschwerden hinter dem Brustbein ohne organisch bedingten Reflux und ohne Speisenröhrenentzündung.
Die Beschwerden treten meistens am Tage in Wellen auf und können mit Rülpsen, Wiederkäuen oder Magenbeschwerden wie etwa Blähungen, frühem Sättigungsgefühl oder Übelkeit einhergehen.
Sie werden oft durch bestimmte Emotionen, Nahrungsmittel, Hinlegen oder Vornüberbeugen verursacht oder verstärkt.
20 %
der Deutschen haben bisweilen Sodbrennen, davon entwickeln 10 % eine Entzündung
der Speiseröhre.
Organische Störungen
Gastritis
Die Gastritis, eine akute oder chronische Magenschleimhautentzündung, zählt zu den häufigsten Magenerkrankungen, wird bei rund 2 % der ambulant behandelten Patienten diagnostiziert und stellt bei 4,5 % der Bevölkerung den Grund dar, warum jährlich einmal der Arzt aufgesucht wird.
Sie heilt nicht spontan ab, schädigt das Gewebe im Magen und führt öfter zu Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüren und manchmal auch zu einem Magenkarzinom.
Eine Gastritis äußert sich in Form von Appetitlosigkeit, Druck- und Völlegefühlen nach dem Essen, Übelkeit, Aufstoßen, Erbrechen und Empfindlichkeit gegenüber säurehaltiger Nahrung oder heißen Fetten.
Die Ursachen können vielfältig sein: psychische Überlastung, verdorbene Speisen, Genussmittel (zu viel Alkohol, Koffein, Nikotin), bestimmte Medikamente, zu heiße oder zu kalte Getränke, Säuren und Laugen oder akute infektiöse Erkrankungen.
Als Hauptursache der häufigeren chronischen Gastritis gilt die
Infektion durch den Helicobacter pylori (Typ-B-Gastritis).
Magengeschwür
Rund 10 % der Bevölkerung bekommen im Laufe ihres Lebens ein Magen- oder Zwölffingerdarmgeschwür, bei der Mehrzahl ergibt sich ein chronischer Verlauf mit Rückfällen.
Männer sind häufiger betroffen als Frauen. Magengeschwür und Zwölffingerdarmgeschwür werden unter der Bezeichnung peptisches Geschwür (Ulcus pepticum) zusammengefasst.
Die Symptome beider Geschwürformen können sich derart überlappen, dass allein von den Beschwerden her oft keine sichere Unterscheidung möglich ist.
Unter einem Magengeschwür (Ulcus ventriculi), das bei 0,2 bis 0,3 % der Bevölkerung vorkommt, versteht man ein gutartiges Magenwandgeschwür, das sich meistens im unteren Teil des Magens (vor allem im Bereich des Magenpförtners, des Schließmuskels beim Magenausgang) oder im oberen Teil des Zwölffingerdarms befindet.
Zu Krankheitsbeginn ist das Geschwür rund, begrenzt und auf die Magenschleimhaut beschränkt.
Nach längerem Bestehen dringt es in die tieferen Schichten der Magenwand vor und kann diese schließlich sogar durchbrechen.
Die Symptome bestehen vor allem in stundenlangen Magenschmerzen, Aufstoßen, Sodbrennen, Erbrechen von saurem Mageninhalt, Druck- bzw. Völlegefühl nach den Mahlzeiten, Unverträglichkeit bestimmter Getränke und Speisen, manchmal auch im Auftreten von Blutungen und infolgedessen Teerstuhl.
Komplikationen entstehen bei chronischem Verlauf vor allem durch Narben- oder Geschwürbildungen in tieferen Schichten der Darmwand, die zu Blutungen, Durchbrüchen in die Bauchhöhle oder zur Durchdringung benachbarter Organe führen.
Im schlimmsten Fall kann das Geschwür auch einen bösartigen Verlauf nehmen.
Die Magenschmerzen setzen sofort nach dem Essen ein und verschwinden oft erst nach dem Erbrechen.
Anders beim Zwölffingerdarmgeschwür, hier treten die Bauchschmerzen besonders bei nüchternem Magen auf und verschwinden durch Essen.
Bei zwei Drittel der Betroffenen kehren die Schmerzen mehrere Wochen lang täglich wieder.
Die Symptomatik klingt bei etwa 80 % der Betroffenen spontan ab oder heilt in Tagen bis Wochen durch Diät und Medikamente, wiederholt sich aber bei den meisten Patienten in gewissen Abständen.
Manche Geschwüre werden gar
nicht bemerkt und zeigen sich erst später im Röntgenbild durch eine Narbenbildung.
Psychosomatische Konzepte
Psychologische
Faktoren
Somatoforme Störungen des oberen Gastrointestinaltrakts
Ein Reizmagen
wird durch verschiedene somatische und psychologische Modelle zu erklären
versucht. Folgende organische Aspekte der funktionellen Dyspepsie werden
diskutiert:
Serologische und immunologische Faktoren sowie Nahrungsmittel, Genussmittel und Medikamente können das Auftreten einer Dyspepsie ebenfalls nicht ausreichend erklären. Unzureichend bekannt ist auch noch der Einfluss von organisch begründbaren Störungen des enterischen (Magen-Darm-)Nervensystems auf die Entwicklung einer funktionellen Dyspepsie. Der Tenor aller Fachleute lautet: Grundsätzlich können zwar somatische Komponenten eine Rolle spielen, sie alleine erklären jedoch das Beschwerdebild nicht ausreichend. Das Wechselspiel zwischen Darm und Psyche beruht auf den zahlreichen Verbindungen zwischen dem Großhirn (Gedanken und Gefühlen) und dem vegetativen Nervensystem bzw. speziell dem enterischen Nervensystem.
Als psychische und psychosoziale Ursachen für eine funktionelle Dyspepsie
werden vor allem folgende Faktoren angeführt:
Zusammenfassend gesehen, ist aus heutiger Sicht bei einer funktionellen Dyspepsie von einem multifaktoriellen Bedingungsgefüge auszugehen:
Somatische Aspekte wie genetische Faktoren, lokale Entzündungen, Infektionen (insbesondere Helicobacter pylori), Allergien, Motilitätsstörungen und Störungen bei der Wahrnehmung und Weiterleitung von Schmerzen können die Störung alleine betrachtet noch nicht ausreichend erklären; sie stehen in enger Wechselwirkung mit psychischen und psychosozialen Komponenten, etwa mit der emotionalen Befindlichkeit (Angst, Ärger, Wut, Depression), mit der Vorstellung darüber, welche Ursache die Krankheit hat, mit dem Umgang mit dieser und dem Grad der Bewältigung, mit verschiedenen Verhaltensauffälligkeiten, psychiatrischen Vorerkrankungen (vor allem Angststörungen und Depressionen), unbewältigten kritischen Lebensereignissen und mangelnder Stressverarbeitung.
Eine ungesunde Lebensweise wie etwa übermäßiger Alkohol-, Kaffee- oder Zigarettenkonsum, fettreiche Kost und wenig Bewegung hat ungünstige Auswirkungen auf das Immunsystem und begünstigt die Entwicklung einer Reizmagensymptomatik.
In therapeutischer Hinsicht ist daher auf ein individuelles Vorgehen zu achten, denn es kann je nach Patient ein unterschiedliches Mischungsverhältnis von organischen und psychologischen Faktoren bestehen.
Viele Therapien scheitern wohl deshalb, weil dies zu wenig oder gar nicht berücksichtigt wird. Ähnliches gilt auch für die Therapie von Reizdarm-Patienten.
Medikamente haben sich als höchst unzureichende Behandlungsmittel für eine funktionelle Dyspepsie erwiesen.
Der Placebo-Effekt beträgt etwa 20 bis 60 %. Angesichts dieser ernüchternden Zahlen kann man feststellen, dass die funktionelle Dyspepsie der traditionellen Medizin ebenso wie der Psychotherapie „schwer im Magen“ liegt.
Bei somatoformen Störungen der Speiseröhre kann man – ähnlich wie bei der funktionellen Dyspepsie – davon auszugehen, dass andauernder Stress oder Gefühle wie Angst oder Wut eine Verkrampfung der Speiseröhre bewirken.
Bei einem Globusgefühl erhöht emotionaler Stress den Druck des oberen Speiseröhrenschließmuskels und führt zu Bewegungsstörungen des Schlundes.
Viele Betroffene bekommen ein Gefühl des Zuschnürens der Kehle und entwickeln aus Unkenntnis über die biologischen Vorgänge eine derart massive Angst vor dem Ersticken, dass sie zu hyperventilieren beginnen.
Im Laufe der Zeit entwickelt sich dann oft eine
ängstlich erhöhte Aufmerksamkeitszuwendung auf den entsprechenden
Körperbereich, wodurch eine Störung der vegetativen Vorgänge eintreten kann.
Peptische Ulkuskrankheit
Die peptische Ulkuskrankheit (Magen- und Zwölffingerdarmgeschwür) galt früher als typische psychosomatische Erkrankung mit spezifischen intrapsychischen Ursachen und zählte nach Alexander zu den sieben klassischen psychosomatischen Erkrankungen.
Diese Sichtweise hat sich mit dem Fortschritt der Medizin völlig geändert.
Bei einem Magengeschwür handelt es sich primär um eine Infektionskrankheit (Helicobacter pylori), verbunden mit einer säurebedingten Schleimhautschädigung.
Durch einen Überschuss an Magensäure, wie dies früher angenommen wurde, lässt sich ein Magengeschwür nicht erklären, weil der Säuregehalt des Magensaftes bei den Betroffenen entweder normal oder oft sogar vermindert ist. Es besteht eher ein Mangel an defensiven Mechanismen (weniger widerstandsfähige Magenschleimhaut oder Durchblutungsstörungen).
Die Entdeckung des Helicobacters hat das Pendel in die Gegenrichtung ausschlagen lassen: Das Magengeschwür wurde nun zu einer ausschließlich organisch bedingten Störung erklärt.
Es wurde nicht nur das frühere Erklärungsmodell eines Ungleichgewichts zwischen den Schutzfaktoren der Schleimhaut (Schleim, Schleimresistenz) und aggressiven Faktoren (vor allem Säure und Schleimhauttraumata) verworfen, sondern auch der mögliche Einfluss psychischer und psychosozialer Faktoren.
Eine zentrale Frage bleibt jedoch bestehen: Was macht aus dem Helicobacter-pylori-Träger einen Magengeschwür-Patienten?
Eine rein organische
Sichtweise eines Magengeschwürs kann dies nicht schlüssig erklären, weshalb
psychologische Aspekte im Rahmen eines biopsychosozialen
Krankheitsverständnisses weiterhin bedeutsame Faktoren bei der Auslösung,
Aufrechterhaltung und Verschlechterung der Symptomatik darstellen:
In
psychosomatischer Hinsicht wurden in der Vergangenheit verschiedene psychische
und psychosoziale Faktoren als ursächliche oder krankheitsverstärkende Umstände
angesehen.
Therapeutische Aspekte
Bei somatoformen Magen-Darm-Beschwerden erfolgt eine Psychotherapie gewöhnlich nicht einfach aufgrund der Diagnose, sondern wegen der offensichtlichen psychiatrischen Begleitstörungen wie Depression oder Angststörung und der im Längsschnittverlauf negativen chronifizierenden Faktoren, die zu einem Verlust der Lebensqualität führen.
Zu Beginn der Therapie sollen die anfangs oft ausschließlich organisch fixierten Patienten durch das Führen eines Symptom-Tagebuches lernen, die Zusammenhänge zwischen ihren Magenbeschwerden und ihren inneren Zuständen bzw. äußeren Lebensumständen zu erkennen.
Gleichzeitig müssen die Betroffenen auch dafür sensibilisiert werden, dass sie die Beschwerden verstärken, wenn sie ihre Aufmerksamkeit ständig ängstlich auf ihren Magen-Darm-Bereich richten. Hilfreich ist die Zuwendung auf den Magen nur, wenn gleichzeitig auch mentale Strategien angewandt werden.
Ein Beispiel: Man stellt sich etwa vor, dass der Magen warum und entspannt ist und gefüllt mit einer angenehmen, wärmenden Flüssigkeit.
Eine intensive, entspannend wirkende Zwerchfellatmung („Bauchatmung“) vermittelt zusätzlich positive Empfindungen, weil durch die Auf- und Ab-Bewegungen des Zwerchfells eine „innere Bauchmassage“ erfolgt.
Dyspepsie-Patienten werden neben Entspannungs- und Stressbewältigungstechniken auch spezielle körperbezogene Übungen angeboten.
Körperorientierte Psychotherapie, Unterstützung bei bestimmten belastenden Lebenssituationen, psychosoziale Interventionen wie Paar- oder Familiengespräche sowie Supervision bzw. Coaching bei beruflichen Problemen sind hilfreiche Maßnahmen.
Die bessere Wahrnehmung der emotionalen Befindlichkeit, das Verständnis für die Zusammenhänge zwischen den Symptomen und verschiedenen psychosozialen Faktoren sowie der adäquate Ausdruck von Gefühlen wie Angst, Ärger, Wut oder Hilflosigkeit ist jedoch die Grundbedingung dafür, dass psychologisch-psychotherapeutische Maßnahmen wirksam sein können.
Magen-Darm-Kranke sollten weiters unbedingt ihre Ernährungsgewohnheiten und ihren Umgang mit Genussmitteln kritisch überprüfen und falls nötig umstellen: auf gesunde, vollwertige Kost, auf regelmäßiges Essen ohne Stress und Druck, auf mehrere kleine Mahlzeiten am Tage.
Bei einem Magengeschwür ist eine rein psychotherapeutische Behandlung als Kunstfehler anzusehen.
Psychologisch-psychotherapeutische Hilfestellungen können jedoch als Ergänzung zur medizinischen Behandlung sinnvoll sein, um den Genesungsprozess zu unterstützen.
Dabei werden im Bedarfsfall bestimmte Konflikte, negative Gefühle und Belastungen (z. B. häufige Angst oder unbewusste Aggressivität) bearbeitet, sodass die Patienten allmählich lernen, mit diesen Gefühlen anders umzugehen und konstruktivere und sinnvollere Lösungsmöglichkeiten zu finden.
Das Erlernen von Entspannungstechniken und
eventuell auch eine Änderung der Lebensführung können dem Genesungsprozess
förderlich sein.
Wenn der Darm streikt
Reizdarm – die gestörte Verdauung
Frau Frank, 27 Jahre
alt, ist Schuhverkäuferin, ledig und lebt mit ihrem Freund seit einiger Zeit
zusammen. Schon seit Jahren plagt sie eine arge Reizdarmsymptomatik. Sie hat
oft Durchfall, ab und zu Verstopfung und leidet vor allem unter heftigen
Blähungen. Aus Angst vor Durchfall recherchiert sie vor jeder Unternehmung, wo
die nächste Toilette ist. Sie kennt entlang der Linie, die ihre Wohnung mit
ihrem Arbeitsplatz verbindet, alle Toiletten in Behörden, Kaufhäusern,
Gastgewerbebetrieben und Arztpraxen. Längere Überlandfahrten – auch in den
Urlaub – sind kaum möglich und wenn, dann nur mit größter Nervosität und
unzähligen Medikamenten im Reisegepäck. Ohne die Gewissheit einer nahen
Toilette fühlt sich Frau Frank völlig gelähmt und hat dazu auch noch Angst,
dass andere Menschen ihre Blähungen bemerken könnten. Sie achtet daher stets
auf eine bestimmte Ernährung, jedoch mit geringem Erfolg. Die
Reizdarmsymptomatik tritt immer dann auf, wenn Frau Frank vor etwas Bestimmtem
Angst hat oder allgemein sehr „nervös“ ist. Sie leidet gleichzeitig auch unter
einer generalisierten Angststörung, die sie als Folge ihrer Darmprobleme
betrachtet. Ihr Hausarzt sieht allerdings hierin die Ursache für ihre
Beschwerden und empfiehlt ihr eine Psychotherapie.
„Schiss haben“: Darm und Psyche
Der Darm als der längere Teil des Verdauungstrakts umfasst drei Abschnitte: den drei bis vier Meter langen Dünndarm, dessen erster Abschnitt der Zwölffingerdarm ist, den Dickdarm und den Mastdarm.
Im Darm wird der Nahrungsbrei mithilfe des Sekrets von Darmdrüsen, Bauchspeicheldrüse und Galle in Stoffe umgewandelt, die der Körper aufnehmen kann.
Im Dünndarm wird der im Magen bereits gut vorverdaute Speisebrei weiter zerlegt und aufgelöst, wobei ein Teil davon ins Blut abgegeben wird und der andere Teil weitertransportiert wird.
Durch die Darmwand des Dünndarms wird also die aufgenommene Nahrung dem Körper zugeführt.
Im Dickdarm wird dem Speisebrei weiter Flüssigkeit entzogen (dagegen nur mehr wenig Nährstoffe) und etwas Schleim zur besseren Transportfähigkeit beigefügt.
Die Längsmuskulatur durchmischt den Darminhalt durch rhythmische Kontraktionen, die Quermuskulatur bewirkt eine Fortbewegung des Speisebreis durch Wellenbewegungen.
Der Weitertransport des Speisebreis wird „Peristaltik“ genannt. Im stark erweiterungsfähigen Mastdarm sammelt sich schließlich der Kot; bei entsprechender Menge wird dem Gehirn die Notwendigkeit der Stuhlentleerung signalisiert.
Die Verdauung wird durch das parasympathische Nervensystem bewirkt und durch das sympathische Nervensystem gehemmt; sie erfolgt also am besten in Ruhe und wird durch starke körperliche Beanspruchungen behindert.
Die Redewendungen, die sich auf den unteren Verdauungstrakt beziehen, sind oft sehr drastisch und vulgär: sich beschissen fühlen, vor Angst in die Hose machen, vor etwas Schiss haben, auf etwas scheißen, sich den Arsch aufreißen.
Verschiedene andere gefühlsbezogene Redewendungen sind dagegen etwas salonfähiger: etwas bereitet Bauchschmerzen, eine Sache erst verdauen müssen, sich ein Loch in den Bauch ärgern.
Darmbeschwerden treten auch bei verschiedenen psychischen Störungen auf.
Bei Depressionen zeigen sich oft Blähungen, Darmgase, spastische Magen-Darm-Beschwerden sowie Stuhlveränderungen (häufig Verstopfung wegen der Darmträgheit und/oder seltener auch Durchfall).
Bei Angststörungen kommt es wegen der inneren Anspannung häufiger zu Durchfall.
Psychosomatisch relevante Darmbeschwerden
Funktionelle Störungen |
Somatoforme autonome
Funktionsstörungen des unteren Gastrointestinalbereichs: |
Organisch fundierte Störungen |
Psychosomatisch
relevante Darm- und sonstige Verdauungserkrankungen: Morbus Crohn |
Reizdarmsyndrom
(Colon irritabile)
Die Symptome eines Reizdarms – der bekanntesten somatoformen autonomen Funktionsstörung des unteren Gastrointestinalbereichs – sind in der Bevölkerung weit verbreitet: Je nach Studie weisen 15 bis 22 % der Bevölkerung ein Reizdarmsyndrom auf.
Die Symptomatik kommt bei Frauen mit 14 bis 24 % nur etwas häufiger vor als bei Männern (5 bis 19 %). Die Beschwerden führen nur in 20 bis 30 % der Fälle zum Arztbesuch.
Das Reizdarmsyndrom ist die häufigste Magen-Darm-Störung: 20 % aller Magen-Darm-Beschwerden beruhen auf einem Reizdarmsyndrom.
In Hausarztpraxen weisen bis zu 15 %, in Facharztpraxen 25 bis 50 % eine Reizdarmsymptomatik auf.
Unter den Patienten, die wegen einer Reizdarmsymptomatik zum Arzt gehen, überwiegen mit 60 bis 80 % eindeutig die Frauen, wobei der Frauenanteil mit der Schwere der Symptomatik zunimmt.
Die Störung weist öfter eine erbliche Komponente auf und neigt zur Chronifizierung, das heißt bei rund der Hälfte der Betroffenen bleibt die Störung bestehen.
Mehr als die Hälfte der Reizdarm-Patienten weist psychische Störungen wie Depressionen oder Angststörungen auf, die oft nicht diagnostiziert und daher auch nicht behandelt werden.
Die psychischen Beeinträchtigungen existieren unabhängig von der Reizdarmsymptomatik und sind gewöhnlich nicht Folge, sondern vielmehr Ursache der Störung.
Die überwiegende Mehrheit der Menschen mit einer Reizdarmsymptomatik erlebt die Beschwerden nicht als krankhaft und geht nicht zum Arzt.
Ob ärztliche Hilfe gesucht wird oder nicht, ist ein wichtiges diagnostisches Merkmal dieser Personengruppe.
Nicht die Beschwerden als solche, sondern psychosoziale Aspekte und die Bewertung als gefährlich entscheiden darüber, ob Betroffene einen Arzt aufsuchen oder nicht.
Und dies macht geradezu das Wesen somatoformer Störungen aus! Reizdarm-Patienten gehen im Vergleich zu anderen Menschen zwei- bis dreimal so oft zum Arzt wegen körperlicher Beschwerden, die gar nichts mit ihrem Grundproblem zu tun haben.
Die Betroffenen haben eine Tendenz zur Somatisierung und Inanspruchnahme medizinischer Leistungen bereits in der Kindheit erworben.
Die Bezeichnung „Reizdarm“ beruht auf der Annahme, dass der Darm durch seinen Inhalt irritiert werden könnte - wofür jedoch überhaupt keine Beweise vorliegen.
Die Bezeichnung „spastisches Kolon“ geht auf die ebenso wenig begründbare Annahme übermäßiger Bewegungen des Dickdarms zurück.
Der Ausdruck „Colitis mucosa“ wiederum gibt die unzutreffende Annahme wider, dass entzündliche Vorgänge im Bereich der Schleimhaut des Mastdarms für die vermehrte Schleimabsonderung auf dem Stuhl verantwortlich seien.
Derzeit wird für die Reizdarmsymptomatik meist der Begriff „Colon irritabile“ verwendet, was bereits überholt ist, weil die Störung nicht auf das Kolon (Dickdarm) beschränkt ist.
Der international gebräuchlichen Bezeichnung „Irritable Bowel Syndrome“ entsprechen im Deutschen die Bezeichnungen „irritables Darmsyndrom“ oder einfach „Reizdarm“.
Die Störung ist definiert durch bestimmte Symptome, die mindestens drei Monaten lang kontinuierlich oder wiederholt auftreten müssen.
Es handelt sich um Bauchschmerzen oder Beschwerden, die mit dem Stuhlgang abnehmen und/oder mit einer Änderung der Stuhlfrequenz einhergehen und/oder mit einer Änderung der Stuhlkonsistenz verbunden sind.
Des Weiteren müssen mindestens zwei der folgenden Symptome bei mindestens einem Viertel aller Gelegenheiten oder Tage vorhanden sein: veränderte Stuhlfrequenz (mehr als dreimal Stuhlgang pro Tag oder weniger als dreimal Stuhlgang pro Woche), veränderte Stuhlkonsistenz (klumpig-harter oder breiig-wässriger Stuhl), gestörte Stuhlpassage (Pressen, Stuhldrang oder Gefühl der unvollständigen Entleerung), Schleimabsonderung auf dem Stuhl, Blähungen oder Anspannungsgefühle im Bauchraum.
Einfacher formuliert, umfasst ein Reizdarm drei charakteristische Symptome: krampfartige Stuhlunregelmäßigkeiten (Verstopfung und/oder Durchfall, häufig im Wechsel), Bauchschmerzen sowie Blähungen bis hin zu einem sichtbar geblähten Unterleib („Blähbauch“).
Bei diesen organisch nicht erklärbaren Störungen der Dickdarmfunktion stehen entweder die Schmerzen oder der unregelmäßige Stuhlgang im Vordergrund.
Wegen der Schmerzen wird eine Reizdarmsymptomatik mit einer Dauer von mehr als einem halben Jahr häufig auch als anhaltende somatoforme Schmerzstörung diagnostiziert.
Typisch ist: Die Beschwerden werden nach dem Essen schlimmer und nach dem Stuhlgang besser.
Die Schmerzen sitzen meist im Bauchraum unterhalb des Nabels, vor allem im linken Unterbauch, und werden als krampfartig, brennend oder bohrend-schneidend beschrieben.
Frauen erleben oft während der Menstruationsblutung oder des Eisprungs eine Verschlimmerung.
Die Beschwerden können im Laufe der Jahre in unterschiedlicher Form und Stärke auftreten.
Viele Reizdarm-Patienten weisen auch Symptome eines Reizmagens auf (z.B. frühes Sättigungsgefühl, Übelkeit, Erbrechen, Aufstoßen oder Sodbrennen), was die Unterscheidung zwischen oberen und unteren Gastrointestinalbeschwerden in der Praxis sehr erschwert.
Darüber hinaus bestehen oft auch noch weitere Symptome: Probleme beim Harnlassen, gynäkologische Beschwerden, Migräne, Krebsangst, depressive Verstimmungen, Angststörungen und Herzsensationen.
Wenn die Darmbeschwerden vorübergehend verschwinden, entwickeln sich oft andere psychosomatische Störungen wie etwa Kopfschmerzen, Schlafstörungen und Herz-Kreislauf-Beschwerden.
Bei Menschen mit Reizdarm, die deswegen einen Arzt aufsuchen, bestehen häufig auch psychische Störungen wie Angststörungen oder Depressionen.
Eine Reizdarmsymptomatik führt oft zu schweren Beeinträchtigungen der sozialen und beruflichen Funktionsfähigkeit, wenn etwa aus Angst vor Durchfall der Aktionsradius eingeschränkt wird, eine ausgeprägte Platzangst (Agoraphobie) entsteht und die Unsicherheit bezüglich der nächstgelegenen Toilette das gesamte Denken bestimmt.
Die Betroffenen kennen in der jeweiligen Gegend alle Toiletten an öffentlichen Orten, ähnlich wie Patienten mit Panikattacken durch die Erreichbarkeit eines Krankenhauses beruhigt sind.
Die ständige hypochondrische Beschäftigung mit den Darmbeschwerden kann dazu führen, dass das ganze Leben an ihnen vorübergeht.
Bei einer Reizdarmsymptomatik lassen sich verschiedene Ebenen des
Verhaltens unterscheiden:
Monosymptomatische
funktionelle Darmstörungen
Funktioneller Durchfall (emotionale bzw. psychogene
Diarrhö)
Ein funktioneller Durchfall umfasst über den Zeitraum von mindestens drei Monaten mindestens zwei der folgenden Merkmale: ungeformte (breiige, wässrige) Stühle über mehr als drei Viertel der Zeit; drei oder mehr Stühle pro Tag in mehr als der Hälfte der Zeit; erhöhtes Stuhlgewicht im Vergleich zur Normalbevölkerung.
Der Stuhldrang ist das zentrale Symptom, gelegentlich verbunden mit Stuhlverlust. Er wird gerade dann als unangenehm erlebt, wenn sich keine Toilette in erreichbarer Nähe befindet, weshalb die Betroffenen aus Angst vor Peinlichkeiten oft den Bewegungsradius einengen.
Funktioneller Durchfall entsteht durch eine Zunahme kräftiger Kontraktionen in bestimmten Dickdarmbereichen (im proximalen Kolon), wodurch die Passagezeit im Dünn- und Dickdarm beschleunigt wird, aber auch durch eine verminderte Kontraktionstätigkeit in einem anderen Dickdarmbereich.
Andere Befunde belegen eine Zunahme der Kontraktionstätigkeit im distalen Dickdarm, die auch nach dem Essen auftreten und schmerzhaften Durchfall auslösen.
Dieselben Patienten reagieren auch überempfindlich auf Dehnungsreize im Mastdarm und bekommen schon bei kleinen Mengen einen Stuhldrang.
Patienten mit Durchfall haben oft nur das Gefühl von Durchfall, weil sie im Vergleich zu anderen Menschen häufiger Stuhldrang haben und öfter auf die Toilette gehen müssen, dort aber nur geringe Stuhlmengen absetzen.
Psychische Auslösefaktoren für Durchfall sind oft Angst, Überforderung, Ohnmachtsgefühle oder Ärger; die ständige Angst vor Durchfall bewirkt eine zusätzliche Anspannung.
Bei plötzlichem
Gewichtsverlust, Blutabgang beim Stuhlgang und Fieber ist eine andere Störung
anzunehmen und eine entsprechende Untersuchung erforderlich.
Funktionelle Verstopfung (Obstipation)
15 % der Frauen und 5 % der Männer leiden unter Verstopfung, die Häufigkeit nimmt mit steigendem Lebensalter zu.
Die Störung ist nur relativ selten organisch bedingt.
In den meisten Fällen besteht eine funktionelle Verstopfung, die über den Zeitraum von mindestens drei Monaten mindestens zwei der folgenden Merkmale umfasst:
Anstrengung beim Stuhlgang in mindestens einem Viertel der Zeit; klumpige und/oder harte Stühle in mindestens einem Viertel der Zeit; Gefühl von unvollständiger Entleerung in mindestens einem Viertel der Zeit; zwei oder weniger Stühle pro Woche.
Verstopfung entsteht wahrscheinlich durch kräftige segmentierende Kontraktionen im distalen Dickdarm, wodurch die Darmpassage des Speisebreis verlangsamt wird.
Zusätzlich trägt die Verminderung der selten auftretenden kräftigenden peristaltischen Kontraktionen (Massenbewegungen im Dickdarm) zu Verlangsamung der Passage bei.
Es ist aber auch möglich, dass die Betroffenen nur das Gefühl einer Verstopfung im Sinne einer unvollständigen Stuhlentleerung haben.
Eine funktionelle Verstopfung kann durch mindestens drei verschiedene
Vorgänge bedingt sein:
Balaststoffreiche Ernährung bewirkt beim Dickdarm- und Mastdarmtyp der Verstopfung eine Beschleunigung der Passagezeit, eine Zunahme des Stuhlvolumens und eine Verbesserung der Begleitsymptome.
Bei chronischer Verstopfung besteht die Gefahr des Abführmittelmissbrauchs mit anschließender verstärkter Verstopfung wegen der damit verbundenen Austrocknung.
Bei einem Teil der Patienten mit funktioneller Verstopfung ist nicht die Passage durch den Dickdarm verzögert, vielmehr besteht eine Funktionsstörung des Beckenbodens im Sinne eines spastischen Beckenboden-Syndroms.
Ein geschätztes Drittel der funktionellen
Verstopfungspatienten kann sich beim Stuhlgang nicht ausreichend entspannen,
presst dabei zu stark und braucht lange Zeit zur Entleerung, sodass eine symptomspezifische
Entspannungstherapie angezeigt erscheint.
Funktionelle Blähungen
Funktionelle Blähungen umfassen über den Zeitraum von mindestens drei Monaten wiederholt, aber nicht dauernd auftretende Symptome mit Völlegefühl, Blähungen oder Spannungen im Bauchbereich ohne nachweisbare Zeichen einer Nahrungsunverträglichkeit und auch ohne die typischen Kriterien von Reizmagen, Reizdarm oder anderen funktionellen Störungen.
Die Blähungen, die manchmal schmerzhaft sein können, sind nicht ständig vorhanden, sondern kehren immer wieder.
Die Darmpassage ist stets verlangsamt. Oft ist viel Luft im Magen; es besteht eine Neigung zu abgehenden Winden.
Subjektiv als stark erlebte Blähungen hängen oft nicht mit einer abnormen Gasmenge zusammen, sondern damit, dass die Betroffenen die an sich normale Luftmenge intensiver wahrnehmen.
Das Blähungsgefühl kann auch auf einer gesteigerten motorischen Aktivität der Darmmuskulatur beruhen.
Es kann aber
auch eine verstärkte Sensibilisierung für Blähungen bestehen, bedingt durch
eine bei Frauen häufige Scham vor hörbaren Darmgeräuschen oder eine
übertriebene Angst, dass in sozialen Situationen Winde abgehen könnten.
Funktionelle
Bauchschmerzen
Funktionelle Bauchbeschwerden sind mindestens sechs Monate andauernde Schmerzen, die kaum mit körperlichen Vorgängen wie Essen, Stuhlgang oder Menstruation in Zusammenhang stehen, aber dennoch zu einer massiven Einschränkung des normalen Lebens führen.
Die Schmerzen tauchen oft zeitgleich mit einschneidenden Lebensereignissen oder Lebenskrisen, Verlusterlebnissen, sexueller oder körperlicher Gewalt oder dem Verlust an sozialer Unterstützung auf.
Häufig bestehen auch Ängste oder depressive Verstimmungen. Viele
Betroffene zeigen ein ähnliches Krankheitsverhalten: Sie suchen ständig nach
organischen Erklärungen und verharren in einer ausgeprägten Krankenrolle.
Funktionelle
anorektale Störungen (Störungen im analen Bereich)
Anismus
Unter „Anismus“ versteht man eine funktionelle Störung der Stuhlentleerung durch eine extrem verkrampfte Beckenbodenmuskulatur.
Das Phänomen wird auch „spastisches Beckenbodensyndrom“ genannt.
Die Betroffenen haben das Gefühl, dass der Anus beim Pressen geschlossen ist.
Anstatt den äußeren Analschließmuskel zu entspannen, erhöhen sie vielmehr noch den Druck, wodurch die Stuhlausscheidung erschwert oder gar verhindert wird.
Als Folge davon sammelt sich Stuhl im Dickdarm
und Mastdarm an und verursacht Bauchschmerzen.
Funktionelle
Stuhlinkontinenz
Als funktionelle Stuhlinkontinenz gilt der ungewollte Verlust von kleinen Stuhlmengen ohne organische Ursachen.
Die Symptomatik nimmt mit dem Alter zu und ist am häufigsten in Alten- und Pflegeheimen.
Frauen im höheren Alter sind weitaus stärker davon betroffen als Männer.
Bei funktionellen Magen-Darm-Störungen und entzündlichen Darmerkrankungen kommt diese Störung ebenfalls relativ häufig vor.
Oft besteht ein krankhaft erweiterter Dick- und Mastdarm oder eine Schwierigkeit, die Dehnung des Darms durch den Stuhl angemessen wahrzunehmen.
Die Inkontinenz kann auch die Folge einer längeren Verstopfung sein und stellt dann eine Art Überflutungsphänomen dar.
Leichtere Formen davon bestehen in Stuhlschmieren in der Wäsche sowie im unkontrollierten Abgang von Winden.
Das Unvermögen, die Stuhlausscheidung zu kontrollieren, wird als sehr peinlich erlebt, beeinträchtigt die Lebensqualität und führt zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit, wenn sich keine Toilette in erreichbarer Nähe befindet.
Mit dem anorektalen
Biofeedback-Training, das mithilfe eines speziellen Gerätes im After das
Wiedererlernen von Kontrolle über die Schließmuskeln ermöglichen soll, steht –
neben dem Beckenbodentraining – eine wirksame Behandlungsmethode der
funktionellen und organischen Stuhlinkontinenz zur Verfügung.
Funktionelle
anorektale Schmerzen (Enddarmschmerzen)
Man unterscheidet zwei Arten von funktionellen anorektalen Schmerzen, die jeweils mindestens drei Monate andauern.
Es handelt sich dabei entweder um
wiederkehrende oder chronische Schmerzen bzw. Stiche im Enddarm oder um wiederkehrende
Episoden von krampfartigen, anfallsartig auftretenden, stechenden und quälenden
Schmerzen im Analbereich, häufig auch in der Nacht.
Organische Störungen
Zwölffingerdarmgeschwür
(Ulcus duodeni)
Ein Zwölffingerdarmgeschwür ist eine entzündliche Erkrankung des Zwölffingerdarms, die bei 1,4 % der Bevölkerung und bei Männern zwei- bis viermal häufiger vorkommt als bei Frauen.
Die Symptomatik äußert sich vor allem in einem Nüchternschmerz, der im Bereich des Nabels auftritt und bis in den Rücken ausstrahlen kann.
Glücklicherweise besteht eine hohe Rate an Spontanheilungen:
Viele Geschwüre heilen gewöhnlich nach vier bis sechs Wochen ab, was durch die Vermeidung aggressiver Substanzen wie Alkohol, Nikotin oder bestimmter Medikamente sowie durch Diätmaßnahmen unterstützt werden kann.
Neben einer Helicobacter-pylori-Infektion gilt eine Säurevermehrung im Magensaft als weitere Ursache, was beim Magengeschwür gewöhnlich nicht in dieser Weise gegeben ist.
Die bereits fast hundert Jahre alte Feststellung
„Ohne sauren Magensaft kein peptisches Geschwür“ gilt nur für das
Zwölffingerdarmgeschwür, während die Säureabsonderung bei Patienten mit einem
Magengeschwür normal oder vermindert ist.
Entzündliche
Darmerkrankungen (Colitis ulcerosa und Morbus Crohn)
Colitis ulcerosa und Morbus Crohn werden als chronisch entzündliche Darmerkrankungen mit bislang unbekannter Ursache bezeichnet und gelten als unheilbar mit wechselndem Verlauf.
Wegen der Ähnlichkeiten der Beschwerden ist bei etwa 10 bis 15 % der Fälle eine Unterscheidung nicht oder nur schwer möglich. Männer und Frauen erkranken in etwa gleich häufig.
Beide Krankheiten treten bereits im Jugend- oder frühen Erwachsenenalter in Schüben auf und sind mit starken Bauchschmerzen, heftigen Durchfällen und Gewichtsverlust verbunden.
Die Folgen: massive Einschränkungen der Lebensqualität und oft auch
Bedrohungsgefühle.
Colitis ulcerosa
Die Colitis ulcerosa betrifft pro 100.000 Einwohner etwa 40 bis 177 Menschen.
Sie besteht in einer Entzündung der Dickdarmschleimhaut, die gewöhnlich im Mastdarm beginnt, sich über den ganzen Dickdarm ausbreiten und bei 5 % auch den angrenzenden Bereich des Krummdarms (Ileum) erfassen kann.
Sie verläuft in Schüben, äußert sich in flächigen, meist blutenden Geschwüren und führt in der weiteren Krankheitsentwicklung zur Ausbildung von Polypen, das heißt gutartigen Geschwülsten der Darmschleimhaut.
Im Gegensatz zum Morbus Crohn werden die tieferen Muskelschichten der Darmwand nicht angegriffen.
Die Leitsymptomatik umfasst blutige bis eitrige Durchfälle, darüber hinaus auch Blutungen aus dem After, Schmerzen, Fieber und Blutmangel mit starker Müdigkeit und Erschöpfung.
Als typische Beschwerden gelten anfangs Bauchschmerzen, Durchfälle mit Blut oder Schleim, Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust und Fieber.
Wenn nur der Mastdarm betroffen ist, zeigen sich keine Stuhlveränderungen.
Je
mehr auch die oberen Dickdarmabschnitte angegriffen sind, umso wässriger wird
der Stuhl und umso eher kommt es zu häufigem Durchfall in Verbindung mit Leibschmerzen.
Morbus Crohn
An Morbus Crohn erkranken pro 100.000 Einwohner etwa 10 bis 70 Personen.
Im Gegensatz zur Colitis ulcerosa können alle Abschnitte des Gastrointestinaltrakts vom Mund bis zum After befallen werden, in den meisten Fällen jedoch der untere Dünndarm, der Krummdarm und der Bereich des rechten Dickdarms.
Der Mastdarm bleibt – anders als bei der Colitis ulcerosa – gewöhnlich verschont. Dafür werden – im Gegensatz zur Colitis – alle Schichten der Darmwand erfasst.
Es entstehen vor allem in der Analregion Abszesse und Fisteln, die eine Verbindung zwischen zwei nebeneinander liegenden Darmabschnitten herstellen.
Dadurch kann der Schließmuskel zerstört werden, was eine teilweise oder vollständige Stuhlinkontinenz zur Folge hat.
Die entzündungsbedingten Verdickungen der Darmwand führen oft zu Verklebungen zwischen den Darmschlingen, wodurch die Gefahr eines Darmverschlusses besteht.
Zentrale Symptome des Morbus Crohn sind Bauchschmerzen und Durchfall mit oder ohne Ausscheidung von Blut, oft verbunden mit Gewichtsverlust und Fieber.
Das Krankheitsbild ist geprägt vom Ort der Erkrankung und dem Ausmaß der Entzündung.
Ein vorwiegender Dünndarmbefall äußert sich in starken Schmerzen, Blähungen und Durchfällen (bis zu 15mal pro Tag), häufig verbunden mit Übelkeit und Erbrechen.
Bei überwiegendem Dickdarmbefall kommt es zu Schleim- und Blutabsonderungen im Stuhl, Gewichtsabnahme und Appetitlosigkeit.
Bei den gefährlichen Darmdurchbrüchen gelangt Kot in die Bauchhöhle.
Der Krankheitsverlauf kann sehr
unterschiedlich sein, ist aber immer chronisch.
Psychosomatische Konzepte
Psychologische
Faktoren
Somatoforme Störungen des Darmbereichs
Eine Reizdarmsymptomatik ist nur aus den Wechselwirkungen zwischen Zentralnervensystem und vegetativem Nervensystem zu verstehen.
Stressfaktoren beeinflussen über zentralnervöse Mechanismen das vegetative Nervensystem durch eine intensivierte Bewegung der Speiseröhre, eine verzögerte Magenentleerung, eine verlängerte Passagezeit des Speisebreis im Dünndarm und eine beschleunigte Passagezeit im Dickdarm.
Bisher noch unbekannte organische Faktoren können bei der Entstehung einer Reizdarmsymptomatik eine Rolle spielen, zumindest im Sinne einer Begünstigung derartiger Störungen.
Es ist durchaus möglich, dass im Zuge des Fortschritts der Medizin einige heute als funktional bezeichnete Störungen des Magen-Darm-Bereichs demnächst organisch oder biochemisch erklärt werden können.
Bei Menschen mit einem Reizdarm werden gegenwärtig folgende somatische
Aspekte erwogen:
Chronisch entzündliche
Darmerkrankungen
Im Gegensatz zu früheren psychoanalytischen Auffassungen handelt es sich bei den chronisch entzündlichen Darmerkrankungen um keine psychosomatischen Krankheiten im engeren Sinne, sondern um körperliche („somatopsychische“) Erkrankungen, die aufgrund der Schwere und des Verlaufs zu psychischen Folgeproblemen führen können.
Die somatischen Ursachen der chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (Colitis ulcerosa, Morbus Crohn) sind unbekannt.
Grundsätzlich liegt ein multifaktorielles Bedingungsgefüge vor, das aus genetischen Faktoren (wegen der familiären Häufung), abnormalen lokalen immunologischen Prozessen in der Darmschleimhaut, mikrobiologischen Faktoren (Mikroben) und Ernährungseinflüssen besteht, aber auch durch Auswirkungen verschiedener Medikamente (oraler Verhütungsmittel) und Nikotin (vermutlich wegen der gefäßverengenden Wirkung) bestimmt wird.
Ohne Annahme einer angeborenen Autoimmunerkrankung (überschießende Immunreaktion der Darmwand auf äußere Reize) kann die Krankheit nicht verstanden werden:
In einer ersten Phase kommt es zu einer Entzündungsreaktion, die sich in der zweiten Phase durch die dabei freigesetzten Stoffe verstärkt und verselbstständigt.
Wegen der ungeklärten Ursachen gibt es bislang auch keine kausalen medizinischen Behandlungsmaßnahmen.
Das Hauptziel der medikamentösen Intervention besteht derzeit vor allem darin, die Immun- und Entzündungsreaktionen durch bestimmte Medikamente zu reduzieren, um chirurgische Eingriffe möglichst zu vermeiden.
Psychische und psychosoziale
Faktoren werden bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen kontrovers diskutiert:
Therapeutische
Strategien
Trotz der weiten Verbreitung der funktionellen und organischen Darmstörungen, des hohen Leidensdrucks der Betroffenen und der gesundheitspolitischen und ökonomischen Relevanz dieser Erkrankungen gibt es kaum erprobte und bewährte psychologisch-psychotherapeutische Behandlungsstrategien.
Bei somatoformen Unterbauchbeschwerden sind die Behandlungsmaßnahmen gegenwärtig sowohl im medizinischen als auch im psychotherapeutischen Bereich schlicht als unzureichend anzusehen.
Es können zwar Behandlungserfolge nachgewiesen werden, die Placebo-Raten sind dabei jedoch ernüchternd hoch.
Es wäre wünschenswert, wenn die medizinische und die psychologische Forschung sowie alle Gesundheitsberufe ihre Zusammenarbeit und Anstrengungen für bessere Therapieergebnisse verstärken würden.
Als weiterführende psychologisch-psychotherapeutische Behandlungsmaßnahmen zumindest bei einem Teil der Betroffenen gelten vor allem: Psychoedukation (Informationsvermittlung), Entspannungstraining (inklusive Biofeedback), Stressbewältigungstraining, Training sozialer Kompetenz, Schmerzbewältigungstraining und bestimmte konfliktorientierte Bewältigungsstrategien.
Von entscheidender Bedeutung ist auch die Unterbrechung der ständigen ängstlichen Symptombeobachtung und des Schonverhaltens zugunsten einer nach außen gewandten Aufmerksamkeit.
Als bedeutsame Ziele gelten eine Verbesserung der Lebensqualität, eine Veränderung ungesunder Lebensweisen, eine Umstellung falscher Ernährungsgewohnheiten, ein Verzicht auf blähende Nahrungsmittel und vor allem die grundsätzliche Entscheidung für eine ballaststoffreiche Kost.
Als effizient haben sich insbesondere folgende Methoden erwiesen: Verhaltenstherapie, Biofeedback, Entspannungstechniken, Hypnose, psychoanalytisch orientierte Psychotherapie.
Die Kombination von Psychotherapie, Entspannungstraining und medikamentöser Behandlung stellt die erfolgreichste Behandlungsform der körperlichen und seelischen Symptome der Betroffenen dar.
Bei vielen Patienten werden sich Verbesserungen nur dann einstellen, wenn vor allem ihre Schmerzen von den behandelnden Experten ernst genommen und speziell behandelt werden.
Für hypochondrisch veranlagte Reizdarm-Patienten ist eine Botschaft sehr wichtig: Ein Reizdarmsyndrom ist nicht gefährlich und führt nicht zu Krebs.
Medikamentöse Therapien als einzige Behandlungsmittel sind auf Dauer wenig erfolgreich, zudem ist die Placebo-Rate mit 50 bis 80 % ausgesprochen hoch.
Dennoch können bei chronischem Durchfall, großen Schmerzen und zu viel Luft im Bauch bestimmte Medikamente hilfreich sein, so wie bei Verstopfung Ballaststoffe und bei Blähungen Diätmaßnahmen zu empfehlen sind.
In bestimmten Fällen können Psychopharmaka nützlich sein, insbesondere Antidepressiva, und zwar nicht nur bei depressiven Reizdarm-Patienten, sondern auch bei anderen Betroffenen, weil dadurch ebenfalls die vorhandenen Symptome oft günstig beeinflusst werden können.
Entweder kann dadurch die Schmerzsymptomatik gebessert oder die gleichzeitig vorhandene Depression oder Angststörung gemildert werden.
Bei den abhängig machenden Beruhigungsmitteln, den so genannten Benzodiazepinen, die oft angespannten Patienten verschrieben werden, ist dagegen größte Vorsicht geboten, weil bei regelmäßiger Einnahme die Gefahr des Missbrauchs gegeben ist.
Bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen können psychologisch-psychotherapeutische Interventionen das psychische Befinden der Betroffenen nachweislich verbessern, indem sie die Compliance (Einhaltung der ärztlichen Behandlungsanweisungen) fördern, die Krankheitsbewältigung unterstützen, die Verunsicherung durch die Beeinträchtigung der körperlichen Attraktivität (künstlicher Darmausgang oder Medikamentennebenwirkungen) abbauen, psychosoziale Folgeprobleme wie familiäre oder partnerschaftlich-sexuelle Probleme mildern, psychische Begleitsymptome wie Ängste und Depressionen bewältigen helfen und die Entspannungsfähigkeit mithilfe verschiedener Techniken fördern.
Sie können jedoch das
Krankheitsgeschehen bei diesen derzeit als unheilbar geltenden Störungen nicht
direkt beeinflussen. Diese biopsychosozial orientierte Sichtweise stellt eine
Mittelposition zwischen jenen Auffassungen dar, die psychischen Faktoren entweder
eine kausale oder überhaupt keine Rolle zubilligen.
Reizblase – der ständige Drang zum Toilettenbesuch
Frau Maier, eine 28-jährige Chefsekretärin, verspürt in allen möglichen
Situationen einen starken Harndrang und muss ständig die Toilette aufsuchen,
oft bis zu 15mal pro Tag. Allmählich häufen sich deswegen die Probleme im Büro,
weil sie wegen ihres permanenten Toilettenbesuchs schon öfter unangenehm
aufgefallen ist. Aber nicht nur die Arbeitsituation macht Frau Maier zu
schaffen: Sie kann kaum mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, weil sie
meint, sie könnte in die Hose machen. Ähnliche Ängste hat sie vor einem Kino-
oder Theaterbesuch, was ihren Freund allmählich auf die Palme bringt. Frau
Maier fühlt sich nur noch wohl, wenn sie sich in der Nähe einer Toilette weiß.
Eingesetzt hat der massive Harndrang nach der Trennung von ihrem früheren
Freund, der sie seither zu Hause und im Büro telefonisch terrorisiert. Beim
einzigen Treffen nach der Trennung wurde sie von ihm brutal vergewaltigt, was
sie bis heute noch nicht überwunden hat. Im Rahmen einer Psychotherapie muss
sie lernen, dieses schreckliche Erlebnis und die Wut auf ihren Exfreund zu
verarbeiten, anstatt sich ständig vor dem eigenen Körper und dem Blasendrang,
vor anderen Männern und vor dem Geschlechtsverkehr mit dem neuen Freund zu
fürchten.
„Vor Angst in die Hose machen“: Blase und Psyche
Der Urogenitaltrakt umfasst den Bereich von Niere, Harnleiter, Harnblase, Harnröhre, Prostata und Geschlechtsorganen.
Der Urogenitaltrakt hat mehrere Aufgaben: Er ist gleichzeitig Produktionsorgan (Harnbildung), Reproduktionsorgan (Zeugung) und Lustorgan (Sexualität).
Die komplexen körperlichen und seelischen Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Funktionen müssen bei Störungen stets bedacht werden.
So sind
Blasenprobleme nach einer Vergewaltigung keine Seltenheit.
Der Harn wird in der Niere gebildet und fließt über die Harnleiter in die Harnblase.
Die Harnröhre als der Abflussweg des Harns von der Harnblase bis zum Austritt ist bei der Frau sehr kurz und daher sehr entzündungsanfällig, beim Mann dagegen etwa 25 cm lang.
In der Harnblase können sich bis zur Entleerung 400 bis 500 ml Harn ansammeln, bei 350 bis 450 ml Füllmenge setzt der Harndrang ein, der das Signal für die willkürliche Entleerung darstellt.
Die Harnblase befindet sich im kleinen Becken und liegt auf einer Muskel- und Sehnenplatte auf, die rundherum an den Knochen befestigt ist und als Beckenboden bezeichnet wird.
Diese Muskulatur lässt sich willkürlich anspannen, was beim Beckenbodentraining bei Harninkontinenz gezielt genutzt wird.
Beim Mann befindet sich zwischen der Harnblase und dem Beckenboden die Prostata, die die Harnröhre umgibt.
Bei der Frau wird die darüber liegende Gebärmutter bei voller Blase etwas gehoben, im Falle einer Gebärmuttersenkung wird die Blase dagegen etwas zusammengedrückt.
Beim Harnlassen müssen der Blasenmuskel und der Schließmuskel richtig zusammenarbeiten: Die Blasenentleerung wird vom parasympathischen Nervensystem bewirkt, indem dieses die Muskulatur der Harnblase anspannt, während sich die Muskulatur des Verschlussmuskels entspannt.
Beim Harnlassen muss die ganze Beckenbodenmuskulatur vollständig entspannt sein, sonst kommt es zu einer Störung des Wasserlassens.
Im Volksmund weisen einige Redewendungen auf die Bedeutung der Harnblase und der Ausscheidungsfunktion in Zusammenhang mit Emotionen wie Angst, Wut oder Ärger hin: Jemand macht sich vor Angst in die Hose oder ihm schlägt sich der Ärger auf die Blase.
Manchmal muss jemand bildlich gesprochen die Hose runterlassen, das kann ihm dann ziemlich an die Nieren gehen.
Funktionsstörungen im Bereich der Harnblase werden durch das unkoordinierte Zusammenwirken der Blasenmuskulatur, der beiden Schließmuskeln und der Beckenbodenmuskulatur ausgelöst.
Stress und emotional bedingte Anspannung (Angst, Ärger, Wut) führen schon bei einer geringeren Blasenfüllung als 300 Milliliter zum Harndrang und lösen das Signal für die willkürliche Entleerung aus.
Das parasympathische Nervensystem bewirkt eine Aktivierung der Ausscheidungsorgane (Darm- und Blasenentleerung); man muss ständig auf die Toilette laufen.
Subjektiv äußern sich Schock- oder Schreckreaktionen häufig als Harndrang („Reizblase“), tatsächlicher Harnverlust (Stressinkontinenz), Stuhldrang, Durchfall und das allgemeine Gefühl, gleich „in die Hose zu machen“.
Darm- und Blasenentleerungen bei Angst und Gefahr sind im Rahmen der Evolution zu verstehen: Durch den Gewichtsverlust wird die Flucht erleichtert.
Jeder kennt diese Erfahrung: Vor einer Prüfung, vor einem Vorstellungsgespräch oder einem anderen wichtigen Termin muss man plötzlich in kurzen Abständen die Toilette aufsuchen.
Wenn dies nicht möglich ist, steigt der Blasendruck fast unerträglich stark an; wenn eine Toilette grundsätzlich erreichbar ist, kann man plötzlich noch ein wenig zuwarten.
Bei Stress, Erregung und Angst können die Ausscheidungsorgane durch das sympathische Nervensystem auch gehemmt werden. Subjektiv kann sich dies als Harnverhalten äußern.
Im Bereich der psychischen Erkrankungen zeigen sich außer
bei Angststörungen vor allem bei Depressionen folgende Blasenstörungen:
erschwerte (schmerzhafte) Harnentleerung, häufiger Harndrang, Ziehen und
Druckgefühle in der Blase, Harninkontinenz (unfreiwilliger Harnabgang).
Psychosomatisch relevante urologische Störungen
Funktionelle Störungen |
Somatoforme
autonome Funktionsstörungen des urogenitalen Systems: weibliches Urethralsyndrom psychosomatisches Urogenitalsyndrom des Mannes Harnverhaltung Harnflut (Polyurie) |
Organisch fundierte Störungen |
Psychosomatisch
relevante Blasenstörungen: Harninkontinenz |
Funktionelle Störungen
Reizblase
Die häufigste somatoforme Urogenitalstörung ist die Reizblase, die vor allem bei Frauen, gelegentlich aber auch bei Männern vorkommt.
Im Gegensatz zur sekundären Reizblase, die Folge einer Erkrankung ist, findet man bei der primären Reizblase keine greifbare Ursache.
Diese funktionelle Störung weist folgende Symptome auf: plötzlicher, abnorm häufiger Harndrang (auch bei kleinen Mengen), typischerweise jedoch ohne Inkontinenz, sowie gelegentlich auch Schmerzen oder Brennen beim Harnlassen.
Im Mittelpunkt des körperlichen Erlebens steht ein ständiger Harndrang bei meist geringer Füllung der Harnblase, der durch bestimmte Angst auslösende Umstände verstärkt wird, vor allem agoraphobische Situationen und eine fehlende oder nicht erreichbare Toilette.
Ein befürchteter Harndrang stellt oft den Grund dar, warum Kino- und Konzertbesuche sowie längere Reisen und Autobusfahrten vermieden werden oder Fahrten bzw. Spaziergänge nur bei Erreichbarkeit von Toiletten unternommen werden.
Die Betroffenen trinken aus Angst vor Harndrang viel zu wenig und verstärken damit unwissentlich die Symptomatik, weil der Harn bei Flüssigkeitsmangel konzentrierter ist und den Blasenwandmuskel zusätzlich reizen kann.
Eine Reizblasensymptomatik kann eine Angststörung verstärken oder ist sogar Ausdruck einer Angststörung (insbesondere einer Agoraphobie), sie kann aber auch im Rahmen einer Depression oder einer sexuellen Störung auftreten. Manchmal geht eine Reizblase auch mit diffusen Unterbauchbeschwerden einher.
Harndrang-Patientinnen haben beim Harnlassen keine Schmerzen, wenngleich sie am Ende manchmal durch die Betätigung des Schließmuskels ziehende oder brennende Schmerzen in der Harnröhre verspüren, die meist 10 bis 15 Minuten anhalten und dann spontan verschwinden.
Hier spiegelt sich die Verspannung im Schließmuskel und im Beckenbereich wider, die bis in die Harnröhre ausstrahlt.
Der Teufelskreis in Richtung einer immer belastenderen Reizblasensymptomatik wird vor allem durch zwei Vorgänge verschärft.
Einerseits bewirkt das Öffnen des Schließmuskels beim Harnlassen eine kurzfristige Spannungslösung des Dauerharndrangs und damit eine vorübergehende Symptomerleichterung.
Andererseits kann das häufige Urinieren
beim leisesten Harndrang zu einer sekundären Verringerung der Blasenkapazität
führen, die dann ihrerseits zur Verstärkung der Beschwerden beiträgt.
Weibliches Urethralsyndrom
Das weibliche Urethralsyndrom unterscheidet sich von der Reizblasensymptomatik dadurch, dass der charakteristische Harndrang fehlt, statt dessen bestehen krampfartige, brennende und pochende Schmerzen, die auf die Harnröhre und den Übergang von der Harnröhre in die Scheide (klitorisnah) beschränkt sind.
Die Schmerzen treten bevorzugt anfallsweise auf, werden als krampfhaft-brennend oder pochend erlebt, dauern meist etwa eine halbe Stunde oder länger an und treten oft am Ende des Harnlassens auf – oder unabhängig davon und können dann (im Gegensatz zum Reizblasensyndrom) auch zu Schlafstörungen führen.
Das anfallsweise Auftreten hängt mit einer akuten, emotional bedingten Anspannung chronisch verspannter Muskeln oder Muskelgruppen beim Scheideneingang zusammen, was das Schmerzerleben in der Nähe des Harnröhrenausgangs und der Klitoris erklärt.
Das Betätigen des Schließmuskels während des Schmerzanfalls bewirkt eine massive Symptomverstärkung.
Die Symptomatik wird nicht selten als schwere
Reizblasensymptomatik oder trotz fehlender Laborbefunde als Blasenentzündung
antibakteriell behandelt und dann als „therapieresistent“ eingestuft.
Psychosomatisches
Urogenitalsyndrom des Mannes
Die häufigste somatoforme Störung des urogenitalen Systems beim Mann, das bei der Hälfte der Patienten mit Prostatabeschwerden vorkommt, ist das psychosomatische Urogenitalsyndrom – auch Prostatopathie, Prostatodynie, chronische Prostatitis oder vegetatives Urogenitalsyndrom genannt.
Diese Begriffe sind insofern missverständlich, als ein organischer Zusammenhang mit der Prostata nahe gelegt wird, der nicht vorhanden ist.
Akute oder chronische bakterielle Entzündungszeichen fehlen oft – und selbst im Falle einer Entzündung ist das Ausmaß der Prostatopathie dadurch nicht ausreichend erklärbar.
Das zeigt sich vor allem dadurch, dass die Störung auch nach der Einnahme von Antibiotika und nach dem Rückgang der Entzündungszeichen bestehen bleibt.
Bei rund der Hälfte der Betroffenen fehlen infektiologisch-bakterielle Befunde, was auf die Bedeutung psychischer Faktoren hinweist.
Bei mehr als der Hälfte der Patienten treten auch funktionelle Sexualstörungen auf.
Wegen der Schmerzen werden die Betroffenen oft auch sexuell inaktiver, während das Gegenteil ratsamer wäre: Sexuelle Befriedigung führt zur Entspannung der Muskulatur!
In Analogie zu den chronischen Unterleibsbeschwerden der Frau sollte man die gesamte Symptomatik zukünftig als „idiopathische Unterleibsbeschwerden des Mannes“ bezeichnen und diese ebenfalls zu den anhaltenden somatoformen Schmerzstörungen zählen.
Die Störung, die aus diffusen Beschwerden im Unterbauch- und Beckenbereich besteht, hängt mit einer schmerzhaften Beckenbodenverspannung („Beckenbodenmyalgie“) zusammen und ist durch eine Vielfalt von Symptomen charakterisiert:
Beschwerden im Bereich der Harnwege und beim Wasserlassen: häufiger Harndrang, Startverzögerung oder Schmerzen beim Wasserlassen, Brennen in der Harnröhre während oder nach dem Wasserlassen bzw. unabhängig davon, Nachträufeln, Jucken und Kitzeln in der Harnröhre, Schmerzen in der Blase, häufiges nächtliches Aufstehen wegen Harndrangs.
Harnverhaltung
Eine psychogene Harnverhaltung besteht in einem erschwerten Wasserlassen in Überforderungs- oder Beobachtungssituationen.
Eine nichtorganisch bedingte Harnverhaltung (vom Willen nicht gesteuertes und nicht steuerbares Zurückbleiben von Urin in der Harnblase bzw. Schwierigkeiten, spontan Harn zu lassen) tritt vor allem bei Frauen auf, die sexuelle Traumatisierungen oder andere sexuell beängstigende Erfahrungen gemacht haben.
Stress kann die Ringmuskeln in der Blasenregion zusammenziehen und die Harnröhre verschließen.
Irritationen in diesem Bereich zeigen sich bei vielen Männern in der Form, dass sie nicht Harnlassen können, wenn sie sich beim Pissoir beobachtet fühlen, oder dass der Harnstrahl stockt, wenn plötzlich jemand in den Raum kommt.
Unter dieser „Paruresis“ genannten
Störung leiden 3 bis 7 % der Männer. Diese Symptomatik wird oft als Ausdruck
einer sozialen Phobie gesehen.
Harnflut (Polyurie)
Stress oder Erregung kann eine psychogene Harnflut begünstigen, wo trotz
normaler Trinkmenge innerhalb von zwei bis vier Stunden große Mengen (bis zu
drei Liter) eines stark verdünnten, wasserklaren Urins ausgeschieden werden,
sodass ein häufiger Toilettenbesuch nötig ist.
Organische Störungen
Chronische Blasenentzündung (Urethrozystitis)
Die häufigste organisch bedingte Blasenstörung bei der Frau ist die Blasenentzündung, die charakterisiert ist durch einen meist rasch einsetzenden, schmerzhaften Harndrang, einen trüben Urin mit auffälligem Geruch und manchmal auch Blut im Harn.
Bei chronischer Symptomatik (zwei bis drei, manchmal sogar bis zu zwölf Infekte pro Jahr) sind oft psychosomatische Aspekte zu beachten, die am besten durch ein gestörtes Immunsystem zu erklären sind, das durch psychosoziale Faktoren (familiärer, partnerschaftlicher oder beruflicher Stress) überlastet ist.
Als Folge der
urologischen Symptomatik kommt es häufig auch zu sexuellen und/oder partnerschaftlichen
Problemen.
Harninkontinenz
Die Harninkontinenz mit unwillkürlichem Abgang von Urin kommt bei Frauen dreimal so oft vor wie bei Männern und ist bei ihnen eine der wichtigsten und belastendsten organisch bedingten Störungen im urologischen Bereich, die vor allem auch wegen ihrer psychischen Folgewirkungen erwähnt werden soll.
Man unterscheidet vier Formen, von denen die Stressinkontinenz und die Dranginkontinenz die wichtigsten sind.
Von den Patienten mit einer Harninkontinenz weisen 35 % eine Stressinkontinenz, 25 % eine Dranginkontinenz und 30 % eine Mischung aus Stress- und Dranginkontinenz auf.
16 % der Frauen und 5 % der Männer weisen eine Harninkontinenz auf, wobei allerdings nur bei 17 % der Betroffenen eine tägliche Inkontinenz besteht.
Stressinkontinenz bezeichnet einen unfreiwilligen Harnverlust bei körperlichem (nicht psychischem!) Stress, etwa beim Lachen, Husten, Springen oder Heben, wenn der Druck im Bauchraum etwas erhöht ist.
Dies führt dazu, dass bereits geringe Druckerhöhungen im Bauchraum einen Harnaustritt bewirken, ohne dass sich die Muskulatur zusammenzieht.
Die Ursache besteht meist in einer Schwäche der Beckenbodenmuskulatur, wie sie vor allem nach Geburten auftritt (jede dritte Frau ist nach der Entbindung harninkontinent).
In der Folge rutschen die Gebärmutter und damit auch die Blase tiefer, wodurch es schwerer wird, den Blasenverschluss aufrechtzuerhalten.
Eine Stressinkontinenz kommt vor allem bei älteren Frauen als Folge eines Hormonmangels vor und ist verständlicherweise sehr belastend, sodass nicht selten ein Rückzugs- und Vermeidungsverhalten einsetzt.
Ein Training zur Stärkung der Beckenbodenmuskulatur ist dringend erforderlich. Aus Angst vor Problemen trinken die Betroffenen oft zu wenig, während gerade eine hohe Flüssigkeitszufuhr zur Reinigung des Urogenitaltrakts notwendig wäre.
Bei einer Dranginkontinenz zieht sich die Blasenmuskulatur zusammen: Es entsteht ein unwiderstehlicher Harndrang und in der Folge wird auch Harn abgeführt.
Mögliche Ursachen:
Neben
organischen Faktoren wie etwa einer Blasenentzündung kann auch eine
zentralnervöse Fehlsteuerung durch psychische Faktoren vorliegen. Der Blasenverschlussmechanismus
ist dabei intakt.
Psychosomatische Konzepte
Psychologische
Faktoren
Psychosomatische Konzepte sind in der Urologie im Gegensatz zu anderen Fachbereichen noch nicht genügend entwickelt und erforscht.
Als nichtorganische Ursache von Blasenentleerungsstörungen werden oft von Psychoanalytikern in falscher Verallgemeinerung Sexualstörungen angeführt.
Bei sexuellen Traumatisierungen von Frauen ergibt sich tatsächlich eine auffällige Mischung von urologischen, sexuellen und gynäkologischen Problemen: Schmerzen beim Harnlassen, Reizblase, chronische Unterleibsschmerzen, vaginaler Ausfluss, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr und Orgasmusunfähigkeit.
Die häufigsten Auslöser sind jedoch emotionaler Stress, Partnerprobleme und schwere Belastungssituationen.
Die Ursache der Reizblasensymptomatik liegt in einer emotional bedingten Anspannung des externen Blasenschließmuskels.
Oft besteht eine Verspannung im gesamten Beckenbereich, vor allem jedoch im Beckenbodenbereich.
Die betroffenen Frauen nehmen ihre Reizblasensymptomatik nur im Wachzustand wahr, während der Schlaf ungestört ist, was allein schon auf den psychosomatischen Charakter hinweist.
Sie verwechseln den Harndrang nicht selten völlig unberechtigt mit einer Inkontinenzgefahr.
Die Symptomatik tritt oft in bestimmten Situationen auf, typischerweise dann, wenn keine Toilette erreichbar ist.
Der Zusammenhang mit sexuellen Problemen ist keinesfalls zwingend.
Das Modell der verstärkten
Aufmerksamkeitsfixierung auf einen bestimmten Organbereich, das Modell der
Muskelverspannung sowie das Stressmodell sind oft hilfreichere
Erklärungskonzepte:
Therapeutische
Aspekte
In der Psychotherapie ist ein äußerst individuelles Vorgehen erforderlich,
weil Patienten mit psychosomatisch relevanten urologischen Störungen eine sehr
heterogene Gruppe sind:
Wenn die Haut juckt und schmerzt
Neurodermitis – Kratzen macht alles noch ärger
Frau Böhm, eine
29-jährige Verkäuferin, hat seit ihrem 8. Lebensjahr Neurodermitis. Seit zwei
Jahren nehmen die Beschwerden wieder stark zu, wobei im Gegensatz zu früher
weder die regelmäßige Anwendung von Cortison noch ein stationärer Aufenthalt
irgendeine Besserung bewirkt hat. Der Hausarzt überweist Frau Böhm zu einem
Psychotherapeuten. In den ersten Gesprächen kristallisiert sich heraus, dass
sie unter massiven und unbewältigbar erscheinenden Konflikten mit einigen
Menschen ihrer näheren Umgebung leidet. Vor allem die Nähe der Schwiegermutter,
in deren Haus sie seit der Heirat wohnt und mit der sie sich überhaupt nicht
versteht, macht ihr zu schaffen. Viel lieber würde sie im Haus ihres geliebten,
bereits verstorbenen Vaters wohnen, was für ihren Mann aber nicht in Frage
kommt. Frust und Wut auch am Arbeitsplatz: Frau Böhm arbeitet in einem
Supermarkt, wo Personal eingespart wird und der Arbeitsdruck steigt. Noch dazu
leidet sie immens unter den Blicken der Kunden, die die Irritationen ihrer Haut
gut wahrnehmen können. Sie wünscht sich sehnlich ein Kind, doch dies passt
nicht zur Karriereplanung ihres Mannes. Ihre innere Anspannung ist oft so groß,
dass sie sich ständig kratzen muss, um den lästigen Juckreiz wenigstens kurz zu
überdecken, doch danach werden die Schmerzen wegen der Hautschädigungen noch
ärger als zuvor. Wenn sie sich allein weiß, kratzt sie sich dann auf der ganzen
Haut „bis aufs Blut“ – ein fataler Teufelskreis! Sie kann weder mit dem
Juckreiz noch mit ihrer hohen inneren Anspannung umgehen.
„Sich in seiner Haut nicht wohl fühlen“: Haut und Psyche
Die Haut besteht aus drei Schichten: außen die Oberhaut, in der Mitte die Lederhaut und innen die Unterhaut.
Die Oberhaut umfasst wiederum mehrere Schichten, wovon die oberste die Hornhaut darstellt, die aus abgestorbenen, kernlosen Zellen besteht, die laufend abgestoßen und durch neue Zellen aus den unteren Schichten der Oberhaut ersetzt werden.
Die Lederhaut besteht aus elastischem Bindegewebe, ist von Gefäßen durchzogen und enthält die Haarwurzeln, die Talgdrüsen, die Rezeptoren für Sinnesqualitäten wie Druck und Temperatur sowie jene Nervenfasern, die als Schmerzrezeptoren dienen und frei in der Oberhaut enden.
Die Unterhaut besteht vor allem aus Fettgewebe und enthält neben Gefäßen und Nerven auch die knäuelartigen Endstücke der Schweißdrüsen, deren Gänge durch die Lederhaut führen und in den zahlreichen Poren der Oberhaut enden.
Die Haut und das zentrale Nervensystem sind im frühesten Stadium der Menschwerdung aus den gleichen Anlagen entstanden: Haut- und Nervenzellen stammen entwicklungsgeschichtlich gesehen aus demselben Keimblatt.
Dies erklärt auch die Reaktion der Haut auf heftige Gemütsbewegungen. Die Haut hat auch dadurch einen engen Bezug zum Nervensystem, dass einige Hautzellen bestimmte Botenstoffe (Neurotransmitter) produzieren, die Impulse zwischen den Nerven weiterleiten.
Bestimmte Hautbereiche (so genannte Segmente) haben über das Rückenmark enge Verbindungen zu den verschiedenen Körperorganen wie etwa Herz, Magen, Darm oder Leber.
So kann man therapeutisch von außen (von der Massage bis zum Einspritzen in bestimmte Hautareale) Einfluss auf innere Organe nehmen. Umgekehrt können innere Organe, wenn sie erkrankt sind, dies durch entsprechende Missempfindungen auf den zugeordneten Hautarealen ankündigen (z.B. zeigen sich Herzbeschwerden im Bereich der linken Schulter und des linken Arms).
Die Haut ist mit einer Fläche von 1,5 bis 2 m2 das größte Organ des menschlichen Körpers.
Die Haut ist jenes Organ, mit dem wir uns nach außen hin abgrenzen und gleichzeitig präsentieren.
Mit ihr nehmen wir körperlichen Kontakt zu unserer Umwelt auf und durch sie werden Sinnesreize über das Nervensystem zum Gehirn vermittelt.
Der Zustand der Haut bestimmt unser Aussehen und Erleben und damit auch unser Selbstbewusstsein.
Die Art der Hautdurchblutung und der Schweißdrüsenaktivität zeigt unsere emotionale Befindlichkeit an, ob wir dies nun wollen oder nicht.
Zusammenfassend gesehen erfüllt die Haut neben verschiedenen anderen
Funktionen auch zahlreiche Aufgaben in der Regulierung der
Person-Umwelt-Beziehung:
Über ein Biofeedback-Gerät ist die elektrische Leitfähigkeit der Haut auch messbar.
Der Hautleitwiderstand gilt seit Jahrzehnten als Maß für die psychische Aktivierung.
Wenn wir lügen, beginnt unsere Haut unmerklich zu schwitzen, was zu einer Änderung des Hautwiderstands führt.
Beim bekannten Lügendetektor soll auf diese Weise die emotionale Erregung aufgezeigt werden, mithilfe eines Biofeedback-Geräts dagegen die zunehmende emotionale Entspannung.
In der Psychosomatik hat man sich schon sehr früh für die Einflüsse äußerer Faktoren auf die Haut sowie für die Auswirkungen von Hautveränderungen auf die Sozialbeziehungen interessiert.
Aussehen vermittelt Ansehen: Eine makellose Haut hat angesichts des gesellschaftlichen Diktats der Schönheit einen hohen Stellenwert.
Ein perfektes Äußeres verspricht nach den verschiedenen Werbeslogans ein stabiles Ich und ein hohes Sozialprestige.
Teure kosmetische Produkte und intensive Pflege der Haut sollen über den Eindruck auf andere das Selbstwertgefühl stärken.
Hautkrankheiten können andererseits zu vermindertem Selbstbewusstsein und sozialen Kontaktproblemen führen.
Denn es ist ein Faktum: Unser Körperbild und unsere Haut stehen in engem Zusammenhang, und wir wirken auf andere so, wie wir durch die Haut erscheinen.
Die engen Zusammenhänge von Haut und Psyche zeigen sich auch in vielen bekannten Redewendungen.
Wir sind dünnhäutig, haben ein dickes Fell oder eine Elefantenhaut, laufen vor Scham, Verlegenheit oder Wut rot an, werden vor Schreck ganz bleich oder erblassen vor Neid.
Wir fühlen uns in unserer Haut öfter nicht wohl, können aus unserer Haut aber nicht heraus und möchten manchmal doch aus der Haut fahren.
Mitunter geht uns etwas tief unter die Haut, erleben wir etwas ganz hautnah mit, setzen wir unsere Haut für eine Sache aufs Spiel, kommen wir gerade noch mit heiler Haut davon, wehren wir uns unserer Haut, möchten wir wenigstens unsere Haut retten, tragen wir unsere Haut zu Markte.
Wir können uns in einem Prozess befinden, wo wir uns „häuten“.
Manchmal juckt uns etwas oder kratzt uns etwas gar nicht.
Zum Bereich der Haut zählen auch die Hautanhangsorgane (Haare, Nägel, Schweiß- und Talgdrüsen), zu denen ebenfalls zahlreiche Redewendungen existieren.
Gelegentlich haben wir Angstschweiß auf der Stirn, schwitzen wir Blut und Wasser, bricht kalter Schweiß aus, bekommen wir eine Gänsehaut.
Wir finden etwas haarsträubend oder an den Haaren herbeigezogen. Es sträuben sich manchmal unsere Haare vor Entsetzen oder sie stehen uns zu Berge, doch lassen wir uns keine grauen Haare wachsen.
Wir geraten uns öfter in die Haare oder möchten jemandem kein Haar krümmen.
Hauterkrankungen sind weit verbreitet und nehmen immer mehr zu.
In den letzten Jahrzehnten sind einige Hautkrankheiten fast schon zu Volkskrankheiten geworden.
Vor allem bei Kindern treten Hautkrankheiten und Allergien immer häufiger auf. Chronische Hautkrankheiten stellen mehr als die Hälfte aller Berufskrankheiten dar und führen zu großen psychischen Leidenszuständen und hohen volkswirtschaftlichen Kosten.
25 bis 30 % der Patienten mit Hautkrankheiten weisen gleichzeitig auch psychische Probleme auf.
Bei psychischen Erkrankungen, vor allem bei Depressionen, Schizophrenie und Alkoholabhängigkeit, treten oft Hautprobleme auf.
Bei Depressionen zeigen sich öfter folgende Symptome: Hautüberempfindlichkeit, Hautbrennen, unklarer Juckreiz, reduzierter Spannungszustand des Gewebes, trockene, faltige, blasse oder grau-fahle Haut, müder Gesichtsausdruck, Haarausfall, sprödes, struppiges oder glanzloses Haar.
Eine hypochondrische Störung zeigt sich in bestimmten hautbezogenen Krankheitsängsten, etwa in der Angst vor Hautkrebs oder Hautallergien, die durch bestimmte Nahrungsmittel oder chemische Substanzen ausgelöst werden könnten.
Die schwer therapierbare Angst vor Entstellung (Dysmorphophobie) kann sich im Bereich der Haut äußern in Form von völlig übertriebenen Besorgnissen über Falten, Flecken, durchscheinende Blutgefäße, Narben, blasse oder gerötete Gesichtsfarbe, übermäßige Behaarung oder Haarausfall.
Die Betroffenen erleben sich als hässlich, ziehen sich sozial zurück und entwickeln ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten.
Oft werden die vermeintlich entstellenden Hautareale penibel durch die Bekleidung verborgen oder durch kosmetische Maßnahmen überschminkt.
Eine befriedigende Änderung wird
meistens nur von schönheitschirurgischen Maßnahmen erwartet.
Psychosomatisch relevante Hautprobleme
Funktionelle Störungen |
Nichtorganische Störungen: somatoforme und dissoziative Störungen (Juckreiz, Brennen, Sensibilitätsstörungen) |
Organisch fundierte Störungen |
Psychosomatisch relevante Haut- und
Haarerkrankungen: Schuppenflechte Akne Kontaktekzem Nesselsucht Herpes flache Knötchenflechte |
Funktionelle Störungen
Erröten
Das Erröten der Haut im Gesichts-, Hals- und Oberkörperbereich in emotional stark besetzten Situationen ist ein gefürchtetes Symptom und mündet meist in die Angst vor dem Erröten (Erythrophobie).
Die Symptomatik kommt vor allem bei einer sozialen Phobie vor,
wo die Betroffenen eine negative Bewertung durch die Umwelt fürchten.
Schwitzen
Übermäßiges Schwitzen tritt vor allem im Achselbereich und an Händen und Füßen auf; sichtbare Schweißflecken werden gefürchtet.
Die Betroffenen sind oft selbstunsicher, ängstlich und gehemmt und reagieren in sozialen Situationen mit unkontrollierbarem Schwitzen.
Soziale Angststörungen sind nicht nur die wichtigste Ursache, sondern auch eine häufige Folge übermäßigen Schwitzens.
Die Schweißbildung bei körperlichen Anstrengungen dient vor allem der Temperaturregelung des überhitzten Körpers, denn durch die Verdunstung auf der Haut entsteht Kälte.
Bei Angst oder psychischer Belastung ergibt sich dasselbe Reaktionsmuster.
Chirurgische Maßnahmen (operative Durchtrennung der sympathischen
Nervenbahnen, die für das Schwitzen verantwortlich sind) sind mit Sicherheit
das falsche Mittel gegen emotional bedingtes Schwitzen, weil der Effekt oft
nicht dauerhaft ist; zudem ist dann mit vermehrtem kompensatorischen Schwitzen
in anderen Körperregionen zu rechnen, vor allem jedoch bleibt die zugrunde
liegende Ängstlichkeit ohne Psychotherapie weiterhin bestehen.
Somatoformer
Juckreiz (psychogener Pruritus)
Somatoformer Juckreiz und ständige nichtorganische Hautmissempfindungen (vor allem Brennen oder Schmerzen) sind als somatoforme autonome Funktionsstörung der Haut anzusehen, wenn sie durch körperliche Ursachen nicht (ausreichend) erklärt werden können.
Menschen mit einem somatoformen Juckreiz sind innerlich oft sehr angespannt und leiden dann unter plötzlich auftretenden Kratzanfällen; sie beschäftigen sich in der Folge ständig mit ihrem Juckreiz oder dem Hautzustand, vor allem dann, wenn sie zur Ruhe kommen und Zeit zur Selbstbeobachtung haben.
Ein nichtorganischer Juckreiz ist gewöhnlich intensiver bzw. häufiger bei Zuwendung der Aufmerksamkeit, subjektivem Gefühl des Kontrollverlusts, psychischen Belastungen und depressiver Verstimmung.
Juckreiz mit dem Bedürfnis zu kratzen ist ein zentrales Symptom vieler dermatologischer Erkrankungen.
Zahlreiche Menschen klagen auch über Brennen oder sonstige Missempfindungen der Haut und weisen oft gleichzeitig eine depressive Symptomatik auf.
Dissoziative
Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen
Bestimmte nichtorganische Missempfindungen auf der Haut (Unempfindlichkeit im Sinne von Taubheitsgefühlen und fehlender Schmerzwahrnehmung oder Überempfindlichkeit im Sinne verstärkter Schmerzempfindungen) werden als dissoziative Störungen bezeichnet und zu den dissoziativen Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen gezählt.
Die Betroffenen weisen völlig normal auslösbare Reflexe in den angeblich unempfindlichen Hautarealen auf.
Mangelndes Schmerzempfinden auf der
Haut kann sehr eindrucksvoll sein und bedeutete im Mittelalter den sicheren
Beweis, mit dem Teufel im Bunde zu sein.
Organische Störungen
Neurodermitis
Neurodermitis stellt die häufigste Hautkrankheit dar: 10 % der Bevölkerung sind betroffen, im Kindesalter sogar bis zu 20 % pro Geburtsjahrgang.
Rund 60 % der Patienten erkranken bereits im ersten Lebensjahr, 85 % bis zum fünften Lebensjahr.
Die Erkrankungswahrscheinlichkeit liegt bei 60 %, wenn ein Elternteil und bei 80 %, wenn beide Elternteile unter einer allergischen Symptomatik leiden.
Unter Neurodermitis versteht man eine häufig chronisch oder mit Rückfällen verlaufende Hautentzündung mit starkem Juckreiz an den Beugeseiten von Armen und Beinen sowie an Hals und Händen.
Die Krankheit äußert sich zunächst in Form von Rötungen im Gesichtsbereich, die nässen und sich beim Eintrocknen mit Schuppen bedecken (Milchschorf).
Im Laufe der Zeit weiten sich die Symptome auf Arme und Beine aus.
Ohne Spontanheilung, die durchaus nach einigen Jahren relativ häufig auftritt, bleiben die Symptome oft bis zur Pubertät, vielfach sogar bis ins höhere Erwachsenenalter bestehen.
Die Krankheit befällt immer häufiger erstmalig auch ältere Menschen und tritt gehäuft gleichzeitig mit Heuschnupfen oder Asthma auf.
Der extrem heftige Juckreiz, der zum Kratzen verleitet, gilt als Leitsymptom und zentrale Ursache für die weiteren Krankheitsfolgen.
Die chronischen Entzündungen und das heftige Kratzen führen zu einer Verdickung und Vergröberung der Haut und begünstigen die Ausbildung von Infektionen.
Die organischen Ursachen der Neurodermitis sind weitgehend unbekannt, wenngleich die immunologischen Fehlsteuerungen und die allergischen Reaktionsformen im Detail beschrieben werden können.
Allergische Faktoren sind zentrale Auslöser, vor allem der Kontakt mit Hausstaub, bestimmten Nahrungsmitteln oder ähnlichen Stoffen.
Wie beim Asthma gibt es auch eine Form der Neurodermitis, bei der äußere Auslöser keine Rolle spielen, sondern bestimmte Faktoren im Organismus krankheitsauslösend wirken.
Bei etwa 30 bis 40
% der Fälle spielen psychosoziale Faktoren eine Rolle im Krankheitsverlauf, vor
allem in Hinblick auf den Juckreiz und das Kratzen.
Schuppenflechte
(Psoriasis vulgaris)
Die Schuppenflechte (Psoriasis vulgaris, vom Griechischen psora = Schuppung, Krätze) ist nach der Neurodermitis die zweithäufigste Hautkrankheit (bei rund 2 % der Bevölkerung).
Sie gilt allgemein als genetisch determinierte, familiär gehäuft auftretende Verhornungsstörung (gestörte Verhornung der Hautzellen); meist setzt sie sehr früh im Leben ein und verläuft chronisch.
Die Hornzellen wachsen schneller bzw. vermehrt, weil entweder die Haut äußerlich durch chemische Reize immunologisch verändert wurde oder weil innere Prozesse wie Infektionen ablaufen.
Der Hauterneuerungsprozess ist durch einen Angriff auf das Immunsystem massiv beschleunigt: Beim gesunden Menschen erneuert sich die Haut innerhalb von 26-27 Tagen, bei Menschen mit Schuppenflechte innerhalb von 6-7 Tagen.
Die betroffenen Hautareale sind stark durchblutet und gerötet, die Zellen der obersten Hautschicht gelangen etwa siebenmal schneller an die Hautoberfläche als bei normaler Haut, wo sie eine glänzende, silbrig-weiße Schuppenschicht bilden.
Die Haut ist im Allgemeinen trocken, häufig bilden sich schmerzhafte Risse oder Blasen. Bei der Hälfte sind auch die Fingernägel betroffen.
Typische Merkmale Kennzeichen sind also scharf umrissene oder weitflächige, nicht schmerzhafte Entzündungsherde an Armen, Beinen, Rumpf und behaartem Kopf, die von silbrig-weißen Schuppen an bedeckt sind.
Die geröteten und schuppenden Herde können sehr klein sein, meist sind sie aber münz- bis handtellergroß und treten oft symmetrisch an beiden Körperhälften auf, am häufigsten betroffen sind Ellenbogen, Kniescheiben und -streckseiten und Kopf.
Die Psoriasis zeigt sich in vereinzelten scharf
begrenzten Flächen oder weitflächig am ganzen Körper.
Die Ursachen dafür, dass die T-Lymphozyten, d.h. bestimmte Blutzellen, die dem Körper eigentlich die Abwehr von Krankheiten ermöglichen, plötzlich überaktiv werden und fehlgeleitet die körpereigenen Zellen der Oberhaupt angreifen, sind bislang unbekannt.
Krankheitsvoraussetzung
sind eine genetische Veranlagung und das Auftreten bestimmter auslösender
Faktoren wie Stoffwechselstörungen, hormonelle Faktoren, Hautverletzungen oder
-reizungen, grippale Infekte, Rauchen, Übergewicht, Alkoholkonsum, bestimmte
Medikamente, Ernährungsgewohnheiten, klimatische Einflüsse und psychischer
Stress.
Schubweise Verschlechterungen treten häufig im Herbst und im Frühjahr auf.
Symptomfreie
Intervalle können kürzer oder länger sein. Es ist wichtig, die Auslöser von
Schüben zu erkennen und zu vermeiden.
Akne (Akne
vulgaris)
Von Akne sind so gut wie alle Jugendlichen zeitweilig betroffen, unter der 25- bis 44-jährigen Bevölkerung sind es 12 % der Frauen und 3 % der Männer.
Akne besteht in einer Entzündung bzw. krankhaften Veränderung der Talgdrüsen, charakterisiert durch eine Behinderung des Talgabflusses (Verschluss des Talgdrüsenausführungsganges) bei gleichzeitig vermehrter Talgproduktion.
Akne weist eine genetische Komponente auf und tritt vor der Ausreifung der Talgdrüsen in der Pubertät nicht auf, weil deren Tätigkeit erst durch die männlichen Geschlechtshormone angeregt wird.
Die Symptomatik besteht in Mitessern, eitrig-entzündlichen Knötchen und teilweise ausgedehnten Abszessen, besonders im Gesicht und am Rücken, wobei eine narbige Verheilung erfolgt.
Neben
90 % der Jugendlichen sind vor allem Frauen Ende zwanzig mit steigender Tendenz
betroffen.
Kontaktekzem
(Kontaktdermatitis)
Das Kontaktekzem, das bei etwa 1 bis 2 % der Bevölkerung auftritt, ist eine Überempfindlichkeitsreaktion auf Metalle, Modeschmuck (z.B. Nickel), Kosmetika, Arzneimittel oder Chemikalien.
Es äußerst sich in nässenden Ekzemen, Bläschen, Entzündungen und Juckreiz an den Kontaktstellen mit dem Allergen, vor allem an den Händen und im Gesicht.
Die Hautentzündung führt zu einem chronischen
Verlauf und zur Verdickung der Haut.
Nesselsucht
(Urtikaria)
Die Quaddel- oder Nesselsucht besteht bei 1 bis 4 % der Bevölkerung und tritt im Laufe des Lebens bei 10 bis 15 % aller Menschen mindestens einmal im Leben auf.
Ihre Kennzeichen: flüchtige Quaddeln mit Hautrötung. Eigentlich handelt es sich um ein Ödem der Lederhaut, also um eine Flüssigkeitsansammlung.
Die Quaddeln jucken oder brennen sehr stark, vor allem am Rumpf.
Wegen der Hautschwellungen
in den tiefer liegenden Hautschichten kommt es eher zum Reiben oder Scheuern
als zum Kratzen, weshalb die Quaddeln trotz starken Juckreizes nie aufgekratzt
werden.
Herpes
Herpes simplex labialis und genitalis ist eine Virusinfektion im Mund- und Genitalbereich, die durch zuerst juckende, später schmerzende, mit Flüssigkeit gefüllte Bläschen charakterisiert ist.
Die Herpesbläschen tauchen oft in regelmäßigen oder unregelmäßigen Abständen immer wieder auf.
Vom ersten Juckreiz bis zum Abheilen vergehen etwa 8 bis 10 Tage. Die Übertragung erfolgt direkt durch Küssen oder den Geschlechtsverkehr.
Die meisten Menschen infizieren sich bereits in der Kindheit.
Über 90 % der Erwachsenen tragen das Herpes-Virus in sich, die
Bläschen treten gewöhnlich dann auf, wenn der Körper aus verschiedenen Gründen
unter starkem Stress steht und seine Abwehrkraft geschwächt ist.
Flache
Knötchenflechte (Lichen ruber planus)
Lichen ruber planus, die flache Knötchenflechte, ist eine relativ häufige, bei 1 % der Bevölkerung auftretende, schubartig verlaufende, chronisch-entzündliche Erkrankung der Haut und der Schleimhäute.
Typisch sind zahlreiche kleine, rötliche oder bräunliche Knötchen (Papeln), die an der Oberfläche eine weißliche netzartige Zeichnung aufweisen und im Bereich der Handgelenke, der Unterschenkel-, Knöchel- und Fußregion oder ausschlagartig am ganzen Körper auftreten.
Die Hautveränderungen sind mit einem unterschiedlich stark ausgeprägten Juckreiz verbunden.
Neben der Haut kann sich die Symptomatik auch im Bereich der
Schleimhäute (Mund oder Genitalbereich) ausbilden.
Weißfleckenkrankheit
(Vitiligo)
Vitiligo oder Weißfleckenkrankheit besteht im Verlust von Pigmenten, das heißt von Körperfarbstoffen.
Vor allem an den Händen, im Gesicht und am Rumpf entstehen weiße Hautflecken, sogar die Haare an den entsprechenden Hautzonen können weiß werden.
Das "scheckige" Aussehen kann zu erheblichen psychischen Beeinträchtigungen
führen.
Kollagenosen
Die Bezeichnung „Kollagenosen“ gilt als Oberbegriff für verschiedene Hauterkrankungen mit systematisierten Bindegewebsveränderungen.
Die bekanntesten Formen sind der Lupus erythematodes
mit charakteristischen Veränderungen an Haut, Gelenken und inneren Organen und
die Sklerodermie mit einem Befall von Gefäßen, Gelenken und einer Haut mit teigigen
oder knotigen Schwellungen, Pigmentverschiebungen, Verhärtungen und
absterbendem Gewebe.
Haar-Erkrankungen
Unter den Haar-Erkrankungen werden vor allem beim kreisrunden und beim diffusen Haarausfall – neben Vererbung und organischen Faktoren – psychosomatische Aspekte im Sinne einer länger dauernden emotionalen Belastung diskutiert.
Der kreisrunde Haarausfall (Alopecia areata), der bei 0,3 % der Bevölkerung auftritt, bezeichnet einen scharf begrenzten, kreisrunden Ausfall der Kopfhaare, teilweise auch der Körperbehaarung, oft gleichzeitig an mehreren Stellen.
Die Symptomatik kann sich spontan zurückbilden, später aber neuerlich auftreten.
Die Krankheit hängt mit Autoimmunprozessen zusammen, deren Ursachen noch unbekannt sind, kann aber durch länger dauernden Stress verstärkt werden.
Allgemein anerkannt sind die psychischen und sozialen Folgeprobleme, unter
denen viele Menschen bei frühzeitigem bzw. krankheits- oder behandlungsbedingtem
Haarausfall leiden.
Psychosomatische Konzepte
Psychologische
Faktoren
Psychologische Faktoren bei Hautkrankheiten können nur in Zusammenhang mit den organischen Ursachen diskutiert werden.
Die organischen Ursachen der meisten Hautkrankheiten beruhen im Wesentlichen auf immunologischen Mechanismen; diese sind wiederum die Folge einer erblich bedingten allergischen Reaktionsbereitschaft der Betroffenen.
Bei bestimmten chronisch-entzündlichen Hautkrankheiten wie etwa Neurodermitis, Urtikaria und Kontaktekzem bestehen Intoleranzreaktionen (Allergien), also eine erhöhte Sensibilisierung gegenüber Antigenen, die für den Körper normalerweise nicht schädlich sind.
Bei vielen Hautkrankheiten ergibt sich folgender Teufelskreis:
Zunächst werden verschiedene Gewebeschäden durch an sich heilende Prozesse in der Haut beseitigt, die dabei auftretenden entzündlichen Mechanismen lösen gleichzeitig aber auch die chronischen Hautveränderungen aus (etwa Erweiterung und gesteigerte Durchlässigkeit der Blutgefäße, Austritt von Gewebsflüssigkeit, Infiltration von Entzündungszellen).
Infektionen durch Übertragung spielen bei den Herpes-simplex-Viren die entscheidende Rolle.
Autoimmunmechanismen sind für andere dermatologische Störungen verantwortlich wie etwa den kreisrunden Haarausfall oder die Sklerodermie.
Viele der im Laufe von Jahrzehnten entwickelten Hypothesen über die Zusammenhänge von Haut und Seele mögen zwar auf den ersten Augenschein plausibel erscheinen, halten jedoch einer genaueren wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand.
Die in der Populärliteratur so selbstverständliche Verknüpfung von Hautkrankheiten und psychologischen Faktoren ist wissenschaftlich noch keineswegs so eindeutig erwiesen, wie dies oftmals hingestellt wird.
Bestimmte Persönlichkeitszüge wie erhöhte Ängstlichkeit oder Depressivität sind eher Folge als Ursache der Hauterkrankungen und können die weitere Krankheitsentwicklung ungünstig beeinflussen.
Es gibt weder typische
Persönlichkeitsmerkmale noch bestimmte Familienstrukturen, die die Entstehung
von Hauterkrankungen bewirken würden.
Die Betroffenen vermindern durch das Kratzen zwar kurzfristig den Juckreiz, weil sie auf diese Weise das Jucken überlagern, sie senken jedoch daraufhin die Juckreizschwelle durch die eingetretene Verwundung der Haut so stark, dass ein erneuter Juckreiz auftritt, den sie mit noch stärkerem Kratzen „behandeln“ – ein fataler Teufelskreis!
Kratzen führt zu Entzündungen, Entstellungen und zur Vergröberung der Haut, was die soziale Auffälligkeit erhöht. Kratzen kann nicht nur durch einen Juckreiz, sondern auch durch andere Umstände wie soziale Spannungssituationen, mentale Anspannung, Ärger, Langeweile, Warte- und Einschlafsituationen ausgelöst werden.
Häufig wird der Juckreiz beim Übergang von Anspannung zur Ruhe wahrgenommen, zahlreiche Hautkranke kratzen aber auch in der Nacht ohne bewusste Wahrnehmung. Kratzen ohne Juckreiz („Spannungskratzen“) ist Ausdruck einer angespannten emotionalen Befindlichkeit.
Als Auslöser gelten Emotionen wie Wut, Ärger oder Aufregung.
Psychologische Faktoren können Hauterkrankungen auslösen, aufrechterhalten und verschlimmern.
Von besonderer Bedeutung sind kritische Lebensereignisse, großer Stress und chronische Belastungsfaktoren in Verbindung mit genetisch-konstitutionellen Faktoren.
Bei Patienten mit Neurodermitis, Schuppenflechte, Nesselsucht, Herpes-Infektionen und kreisrundem Haarausfall wurden belastende und lebensverändernde Ereignisse vor Krankheitsausbruch oder vor einem Krankheitsschub gefunden.
Zusätzlich gingen bei Neurodermitis- und Nesselsucht-Patienten alltägliche Belastungen mit einer Verschlechterung der Hautsymptomatik, vor allem mit einem verstärkten Juckreiz, einher.
Psychischer Stress bewirkt eine intensive immunologische Reaktion.
Starke und anhaltende Belastungen führen nach neueren wissenschaftlichen Untersuchungen zu einer Störung der Immunzellen der Haut, die dann vermehrt Entzündungssubstanzen ausschütten.
Diese Störung wird einerseits durch die Ausschüttung von Stresshormonen in den Blutkreislauf verursacht, andererseits durch die Ausschüttung von Entzündungssubstanzen aus den Nervenenden in der Haut.
Bei chronisch-entzündlichen Hautkrankheiten führt Stress über verschiedene Mechanismen zu einer Fehlregulation des Immunsystems der Haut, insbesondere der Mastzellen. Grundsätzlich gilt bei vielen dermatologischen Erkrankungen unabhängig von den Ursachen: Durch eine stressbedingte Schwächung des Immunsystems heilen Hauterkrankungen schlecht.
Was krank machender Stress ist, kann je nach Mensch unterschiedlich sein: Ärger, Liebeskummer, Angst, Depression, Zeitdruck, familiäre oder berufliche Überlastung sind in gleicher Weise geeignet, das Immunsystem so zu schwächen, dass vermehrt Infektionskrankheiten, Herpesbläschen an den Lippen oder Hautausschläge auftreten.
Soziale Ängste und soziale Defizite können Hautkrankheiten dann verschlimmern, wenn es den Betroffenen nicht gelingt, sich anderen Menschen gegenüber durchzusetzen oder gehasste Aufgaben abzulehnen.
Sichtbare Hauterkrankungen und ständiger Juckreiz und daraus resultierendes Kratzen können das psychische und soziale Wohlbefinden sowie das körperliche Aussehen so schwer beeinträchtigen, dass daraus Angst, vermindertes Selbstwertgefühl, Depressionen und sozialer Rückzug resultieren.
Ein Teufelskreis, denn eine schwere Depression lässt die Haut dann noch dazu fahl und unattraktiv aussehen! Hautkranke fühlen sich oft hilflos den unberechenbaren und unkontrollierbaren Krankheitsverläufen ausgeliefert, leiden darunter und entwickeln eine ängstliche Erwartungshaltung mit ständiger innerer Anspannung.
Der krankheitsbedingte Stress kann dann die Hauterscheinungen zusätzlich verschlimmern.
Das negative Selbstwertgefühl und geringe Selbstvertrauen von Hautkranken zeigt sich möglicherweise auch in dem Umstand, dass unter jungen Menschen mit starker Akne die Arbeitslosenrate höher ist als unter gesunden Gleichaltrigen.
Gerade Jugendliche können durch Pickel oder Hautausschläge extrem verunsichert und in ihrem sozialen Status geschwächt sein, denn im Jugendalter ist das äußere Erscheinungsbild für das Selbstwertgefühl noch wichtiger als bei Älteren.
Bei der Neurodermitis werden von Fachleuten keine rein psychologischen Erklärungsmodelle mehr vertreten, wohl aber weiterhin in der populären Literatur.
Die häufigsten psychogenen Komponenten scheinen kritische Lebensereignisse, psychosozialer Stress und Beziehungsprobleme zu sein.
Bei Kindern könnte ein ungünstiges Familienklima eine Rolle spielen.
Als Krankheitsfolge treten oft Depressionen und Angststörungen auf.
Der Psychoanalytiker Alexander, der die Neurodermitis zu den klassischen psychosomatischen Störungen zählt, unterstellte den Betroffenen unterdrückte Aggressionen und interpretierte das Kratzen als Ausdruck von Selbstbestrafung bzw. Befriedigung masochistischer Impulse.
Die häufig vorgebrachte psychoanalytische Erklärung einer gestörten Mutter-Kind-Beziehung (vor allem einer Ablehnung durch die Mutter) ist aufgrund des Forschungsstandes nicht haltbar und diskriminiert viele sehr bemühte Mütter.
Bei der Schuppenflechte (Psoriasis vulgaris) können Stress und seelische Belastungen durch Unfall, Krieg, Tod von Angehörigen oder Prüfungsangst regelrechte Schübe auslösen.
Die Betroffenen haben aber auch ohne psychosoziale Belastungsfaktoren einen großen Leidensdruck – wegen der sehr auffälligen und entstellenden Hauterscheinungen.
Eine nicht gelungene Krankheitsbewältigung kann die Schuppenflechte so verschärfen, dass Schübe schneller und schwerer auftreten.
Bei der Akne vulgaris können Stress und ständige Hautmanipulationen („Ausdrücken“ der Pickel) eine Verschlechterung bewirken.
Die Pubertätsakne führt wegen des dadurch verminderten Selbstwertgefühls oft zu sozialphobischen und depressiven Reaktionen.
Bei der Nesselsucht (Urtikaria), insbesondere in der chronischen Form, scheinen Stressfaktoren eine Rolle als psychische Auslöser zu spielen; eine lang anhaltende Symptomatik kann zudem eine depressive Verstimmung begünstigen.
Bei einem Kontaktekzem bestehen öfter erhöhte Aggressionstendenzen sowie Depressionen oder Angststörungen.
Bei Herpes können emotionale Faktoren wie Stress und Ekel die Symptomatik verstärken, vermittelt durch eine herabgesetzte Immunreaktion.
Bei der flachen Knötchenflechte (Lichen ruber planus) wurden vereinzelt psychische Auslöser und deutliche Belastungen in der psychosozialen Verarbeitung beschrieben. Psychischer Stress kann einen Schub auslösen.
Bei der Weißfleckenkrankheit (Vitiligo) ist in knapp einem Drittel der Fälle Stress der Auslöser.
Die Kollagenosen Sklerodermie und Lupus erythematodes können zumindest in
bestimmten Fällen durch kritische Lebensereignisse beeinflusst werden und
führen oft zu Hoffnungslosigkeit, Depressionen, verstärkter Schmerzsymptomatik
und in Abhängigkeit von der Schwere der Erkrankung auch zu deutlichen
Einschränkungen der Lebensqualität.
Therapeutische
Aspekte
In der psychologisch-psychotherapeutischen Behandlung von Menschen mit Hautkrankheiten ist es zuerst einmal wichtig zu erkennen, welche Gefühle, Verhaltensweisen, Ereignisse und Umweltbedingungen vorliegen, die die Hauterkrankung mitauslösen, verschlechtern oder verbessern.
In der weiteren Therapie gibt es verschiedene Vorgangsweisen, die allerdings nicht spezifisch sind für Hautkrankheiten: Psychoedukation (Patientenschulung durch Vermittlung von Informationen über die Krankheit und deren Behandlung), Stressbewältigungstraining, Entspannungstechniken (Autogenes Training, Progressive Muskelentspannung, Atemtechniken), Biofeedbacktraining, Vorstellungsübungen (visuelle Vorstellungsbilder des Heilungsprozesses), Hypnose, Änderung der Denkmuster, Problemlösetraining und partner- bzw. familienorientierte Interventionen.
Durch Entspannungsverfahren und neue Sichtweisen lernen die Betroffenen, ihre Spannungszustände abzubauen, ihr Selbstwertgefühl anzuheben, ihren Körper zu akzeptieren und sich nicht mehr so extrem und einseitig auf den Hautzustand zu fixieren.
Soziale Defizite können durch Rollenspiele und ein soziales Kompetenztraining vermindert werden.
Insgesamt gesehen ist bei Hauterkrankungen therapeutische Bescheidenheit angebracht, da sie oft chronisch, unheilbar und multifaktoriell bedingt sind.
Es geht gewöhnlich „nur“ darum, die Beschwerden zu lindern, eine weitere Verschlechterung zu verhindern, das Selbstbewusstsein zu stärken und ängstlich-depressive Reaktionen zu vermeiden oder abzubauen.
Ging es früher einseitig darum, mögliche psychische Auslösefaktoren herauszufinden, so steht gegenwärtig die verbesserte Krankheitsbewältigung immer stärker im Mittelpunkt der Behandlung.
Der psychologische Schwerpunkt hat sich also stärker von den psychosomatischen auf die somatopsychischen Aspekte verschoben, um die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern.
Weder schulmedizinische noch psychotherapeutische Verfahren können bei vielen Hautkrankheiten eine vollständige Heilung bewirken, sie können jedoch zur wesentlichen Besserung beitragen.
In der Therapie der Neurodermitis ist es zusätzlich von zentraler
Bedeutung, vorerst einmal das alles verschlimmernde Kratzen, Reiben oder
sonstige Manipulieren der Haut durch geeignete Strategien zu unterbinden, bevor
nach spezifischen psychologischen Belastungsfaktoren und deren besserer
Bewältigung gesucht wird.
Wenn Frauen spezifische Beschwerden haben
Chronische Unterleibsbeschwerden – kaum Linderung durch
Operationen
Frau Weber ist
35 Jahre alt, verheiratet, sie hat zwei Kinder und ist voll berufstätig als
Grafikerin in einer Werbeagentur. Seit fünf Jahren quälen sie chronische Unterleibsbeschwerden.
Die Schmerzen sind so schlimm, dass sie sich unbedingt eine Entfernung der
Gebärmutter wünscht, obwohl die Ärzte nach zweimaliger Bauchhöhlenuntersuchung
(Laparoskopie) keinen Organbefund ermitteln konnten. Sie ist felsenfest davon
überzeugt, dass alle Probleme durch eine Operation beseitigt werden könnten und
lehnt die Empfehlung zu einer Psychotherapie ab, weil sie nicht verrückt sei.
Frau Weber hat aber in Wahrheit zahlreiche psychosoziale Probleme: eine stressige
Arbeit, die sie ganz fordert; einen Mann, der seit sieben Jahren einen
erheblichen Alkoholmissbrauch betreibt und sie dann auch gelegentlich schlägt;
eine Mutter, die sich nach dem Tod des Vaters vor fünf Jahren ein häufigeres
Zusammensein wünscht; eine Tochter mit Schulproblemen und Kontakten zum
Drogenmilieu.
„Sei nicht so hysterisch“: Frauenbeschwerden und Psyche
Viele Beschwerden von Frauen wurden früher und werden manchmal sogar noch heute als „hysterisch“ bezeichnet, man könnte auch sagen: als „eingebildet“ abqualifiziert.
Die Bezeichnung „Hysterie“ wurde aus dem offiziellen Diagnoseschema entfernt, weil sie zu einer Diffamierung von Frauen seitens der Männer geworden ist.
Diese „Diagnose“ hat einen ganz bestimmten geschichtlichen Hintergrund.
„Hysterie“ geht auf das griechische Wort hystera = Gebärmutter zurück und galt früher als reine Frauenkrankheit.
Die alten Griechen und Römer betrachteten nämlich eine „ausgetrocknete“ bzw. eine im Körper auf der Suche nach einem Kind herumwandernde Gebärmutter als Ursache für bestimmte körperliche und psychische Auffälligkeiten bei Frauen.
Nach dem griechischen Ursprungswort hystera benannte Sigmund Freud eine ganze Gruppe nichtorganischer Störungen als „Hysterie“ oder „hysterische Neurose“ und sah ihre Ursache sehr einseitig in Sexualkonflikten.
Die Wechselwirkungen zwischen Körper, Psyche, sozialen, kulturellen und ökonomischen Lebensumständen äußern sich bei Frauen in der Vergangenheit und in der Gegenwart in spezifischer Weise.
Die weibliche Gesundheit ist zunächst in hohem Maße bestimmt durch den ungestörten oder gestörten Ablauf physiologischer Prozesse wie Pubertät, Menstruationszyklus, Schwangerschaft, Geburt, Wochenbettzeit und Klimakterium.
Vorübergehende Befindlichkeitsstörungen wie einige Tage vor der Menstruation oder in den Wechseljahren sind normale, nicht krankhafte Zustände und werden erst behandlungsbedürftig durch einen subjektiv sehr hohen Leidensdruck, durch die Verminderung der Aktivitäten und die Beeinträchtigung der sozialen oder beruflichen Funktionsfähigkeit.
Neben den körperlich-biologischen Besonderheiten, den Mechanismen der hormonellen Steuerung des weiblichen Körpers und der damit verbundenen Veränderungen im weiblichen Lebenszyklus können sich partnerschaftliche, familiäre, soziale und gesellschaftliche Umstände krankheitsbegünstigend auswirken.
Die Mehrfachbelastung durch Haushalt, Kinderbetreuung und gleichzeitige Berufstätigkeit stellt einen erheblichen Risikofaktor für einen vorübergehenden psychophysischen Erschöpfungszustand oder eine länger dauernde psychiatrische oder psychosomatische Störung dar – besonders dann, wenn die Unterstützung durch den Partner fehlt, wenn eine unbefriedigende Arbeitssituation oder ein ausgeprägter Perfektionismus („Ich muss überall perfekt sein – als Ehefrau, Mutter und Berufstätige“) vorliegt.
Wenn der zugegeben schwierige Spagat gelingt und sich Beruf und Familie gut und stressfrei vereinbaren lassen, wirkt sich das natürlich positiv auf die Gesundheit und das Selbstwertgefühl der Frau aus.
Grundsätzlich ist zu fordern: Bei der Erfassung des Gesundheitszustandes der erwachsenen Bevölkerung müssen geschlechtsspezifische Aspekte zukünftig umfassender als bisher beachtet werden.
Frauen klagen im Vergleich zu Männern in viel höherem Ausmaß über psychosomatische Beschwerden wie Schwindel, Kopfschmerzen oder Magen-Darm-Störungen, entwickeln zwei- bis dreimal häufiger psychische Erkrankungen wie Angststörungen und Depressionen und nehmen unter den Essstörungen einen Prozentanteil von 95 % ein.
Frauen suchen bei körperlichen und seelischen Beschwerden rascher und öfter einen Arzt auf, nehmen zweimal häufiger psychotrope Medikamente wie Beruhigungsmittel, Schlafmittel, Antidepressiva und Schmerzmittel (dabei wächst mit zunehmendem Alter der Anteil der Frauen in der jeweiligen Nutzergruppe) ein, sind länger krankgeschrieben, gehen viel eher in Psychotherapie und begeben sich in größerer Zahl in eine stationäre psychiatrische oder psychosomatische Behandlung.
Die beiden Geschlechter unterscheiden sich auch hinsichtlich der Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit: Frauen verfolgen eher ein ganzheitliches Konzept von Gesundheit, in dem das eigene Körpererleben und das Wohlbefinden unter Einbeziehung der gesamten Lebenssituation im Mittelpunkt steht, Männer dagegen definieren Gesundheit vor allem über die Abwesenheit von Krankheit und über ihre Leistungsfähigkeit.
Wegen ihres ganzheitlicheren Verständnisses von Krankheiten sprechen Frauen in den Arztpraxen auch viel eher als Männer psychosoziale Belastungssituationen als Hintergrund für chronische Schmerzen an, sodass sie in größerem Ausmaß Psychopharmaka erhalten als Männer, die dieselben Schmerzen angeben.
Geschlechtsspezifische Unterschiede finden sich auch in der Art der ärztlichen Diagnosen: Objektiv gleiche Symptome und Beschwerden werden bei Frauen eher psychosomatisch, bei Männern hingegen eher organisch diagnostiziert.
Gynäkologische Erkrankungen haben großen Einfluss auf die Lebensqualität von Frauen.
Zu den häufigsten Gesundheitsproblemen zählen die gutartigen Erkrankungen und Beschwerden der weiblichen Geschlechtsorgane.
Frauen werden am häufigsten wegen Entzündungen an Eierstöcken, Eileitern, Becken oder Zyklusstörungen krankgeschrieben.
Jede zehnte Frau ist von Brustkrebs betroffen – mit den bekannten einschneidenden Folgen für das weibliche Selbstbewusstsein. Bei Frauen ist Brustkrebs immer noch die häufigste Krebserkrankung.
Krankheitsbedingte Frühberentungen sind bei Frauen (1,2 %) häufiger als bei Männern (0,98 %).
Als Ursachen für Frühberentungen stehen psychische Störungen bei Frauen mit 23,7 % an erster Stelle (bei Männern 14 %); erst an zweiter Stelle folgen mit 15,8 % die Rückenleiden, die bei Männern mit 17,4 % an der Spitze stehen.
Am Beispiel der Wechseljahre kann man die früher übliche rein biologische Sichtweise dieses Lebensabschnitts den neueren, stärker psychosozial orientieren Denkweisen des weiblichen Lebenszyklus gegenüberstellen.
Das Klimakterium beginnt mit der Menopause (letzte spontane Periodenblutung, der mindestens ein Jahr lang keine Regelblutung mehr folgt).
Mit den hormonellen Veränderungen gehen verschiedene somatische und psychische Symptome einher: Hitzewallungen, kalte Schweißausbrüche, vaginale Trockenheit, Appetitsteigerung mit nachfolgendem Übergewicht, Spannungskopfschmerzen, Atemnot, Stressinkontinenz, Migräne, Schwindel, Schlafstörungen, reduziertes Selbstvertrauen, Konzentrationsstörungen.
Das Hauptsymptom sind Hitzewallungen mit Schweißausbrüchen, die bei 85 % der Frauen auftreten.
Als Folge des Östrogenmangels kommt es zu Schrumpfung und Trockenheit der Scheide.
Im Zuge dieser körperlichen Veränderungen treten häufig eine sexuelle Lustlosigkeit und/oder Schmerzen beim Verkehr auf.
Im Gegensatz zur früheren Pathologisierung der Wechseljahre durch die Medizin wird die hormonelle Umstellung heutzutage als natürliche Phase im Leben der Frau angesehen, die bei genügend Ressourcen gut bewältigbar ist.
Das Menopausen-Syndrom kann durch Veränderungen im sozialen Umfeld erheblich verstärkt werden.
Die häufige Annahme einer hormonell bedingten Depressionsneigung im Klimakterium („klimakterische Depression“) wird durch die Forschung nicht bestätigt, vielmehr sind es die sozialen Umbrüche (Auszug der Kinder, Verlust des Partners durch Scheidung oder Tod), die eine Depression begünstigen.
Das positive oder negative Erleben des weiblichen Körpers und der sexuellen Reaktionsabläufe ist stark geprägt von den Erfahrungen körperlicher und sexueller Gewalt im Elternhaus oder in der eigenen Familie.
18 % der 16- bis 60-jährigen Frauen erleben Übergriffe in der Familie, dreimal mehr Mädchen als Jungen sind von sexueller Gewalt betroffen.
Sexuelle und körperliche Gewalt führen häufig zu psychischen und psychosomatischen Störungen, was trotz des heutzutage besseren Wissens in der klinischen Praxis noch immer zu wenig beachtet wird.
Das gesellschaftlich vermittelte weibliche Schlankheitsideal, Erziehungsfaktoren und Identitätskonflikte vieler Frauen begünstigen Essstörungen, vor allem die weit verbreitete Bulimie (Ess-Brech-Sucht).
Rund 40 % der jungen Mädchen und Frauen
im Alter zwischen 14 und 19 Jahren fühlen sich zu dick – und damit buchstäblich
in ihrer Haut nicht wohl!
Ein unerfüllter Kinderwunsch oder eine ungewollte Schwangerschaft belasten auch heute noch viele Frauen, trotz der Möglichkeiten der modernen Medizin.
Unfruchtbarkeit ist bei fast jedem fünften Paar gegeben; sie löst oft eine erhebliche somatopsychische Folgesymptomatik aus, etwa sexuelle Lustlosigkeit oder depressive Verstimmung.
Eine nichtorganisch bedingte Unfruchtbarkeit kann bei Frauen mit einer stress- oder depressionsbedingten Erhöhung des Prolaktinspiegels zusammenhängen.
Die modernen Methoden der Reproduktionsmedizin sind zwar einerseits ein Segen, andererseits aber auch eine erhebliche psychische Belastung für beide Partner.
Eine nicht gelungene „künstliche Befruchtung“ bedeutet eine schwere Enttäuschung für jede Frau, deren Hoffnung auf ein Kind wenigstens über diesen Weg realisierbar schien.
Eine ungewollte
Schwangerschaft ist trotz der zahlreichen Möglichkeiten der Empfängnisverhütung
für viele Frauen auch heute noch ein relativ großes Risiko dar und wird
insbesondere dann zu einer erheblichen Belastung, wenn der Kindesvater einen
Schwangerschaftsabbruch gegen den Willen der Frau fordert, den sie dann zwar
durchführen lässt, hinterher aber nicht verkraftet.
Bei Fehlgeburten kommen auch bestimmte psychosoziale Faktoren als Ursache in Frage, vor allem Stress unterschiedlichster Art (in der Partnerschaft, in der Familie, im Beruf, in anderen Lebenssituationen) sowie mangelnde soziale Unterstützung vonseiten der Umwelt.
Eine Totgeburt stellt eine besondere Belastung für eine Frau dar, insbesondere dann, wenn keine ausreichende soziale Unterstützung vorhanden ist.
Betroffene Frauen reagieren auf eine Totgeburt oft nicht nur mit großer Traurigkeit, sondern mit starken Scham- und Schuldgefühlen, zweifeln generell an ihrer Fähigkeit, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen und bekommen mitunter Probleme mit ihrer Identität als Frau.
Die Macht der Psyche über den weiblichen Körper zeigt sich in zwei sehr erstaunlichen Phänomenen zur Thematik der Schwangerschaft.
Das extrem seltene Phänomen der Scheinschwangerschaft besteht in einer eingebildeten Gravidität bei unerfülltem Kinderwunsch und äußert sich durch die gleichen Anzeichen wie eine tatsächliche Schwangerschaft: Amenorrhö, Gewichtszunahme, absonderliche Appetitwünsche, Übelkeit am Morgen, Größenzunahme des Bauches (allerdings durch Blähungen, schlaffe Bauchdecke oder andere Faktoren), Vergrößerung der Brust mit Einschießen von Milch, ja sogar Wehen und scheinbare Kindsbewegungen.
Die psychologischen Hintergründe sind gewöhnlich einfühlbar: Es besteht entweder ein extrem starker Kinderwunsch, vor allem bei älteren Frauen, oder die schuldhafte Verarbeitung eines Schwangerschaftsabbruchs, der durch eine neuerliche Schwangerschaft gleichsam wieder gutgemacht werden soll.
Nicht selten verstärkt auch ein bestimmter psychosozialer und gesellschaftlicher Hintergrund den Wunsch nach einem Kind.
Der Begriff der verdrängten Schwangerschaft bezeichnet den höchst ungewöhnlichen Umstand, dass eine Frau eine bestehende Schwangerschaft überhaupt nicht wahrnimmt und im Extremfall erst durch die Geburt bewusst davon erfährt.
Die Mehrzahl der betroffenen Frauen hat dies durch Umdeutung der charakteristischen Schwangerschaftssymptome geschafft (z.B. im Sinne von funktionellen Magen-Darm-Störungen wie etwa Blähungen) oder hat menstruationsähnliche Blutungen als Beweis fehlender Schwangerschaft interpretiert.
Bei sehr jungen Müttern war oft die Überzeugung vorhanden, in diesem Alter noch nicht schwanger werden zu können.
Spezifische
Frauenbeschwerden treten nicht selten auch bei verschiedenen psychischen
Störungen auf, vor allem jedoch bei Depressionen mit folgenden typischen
Symptomen: Libidomangel, Frigidität, Scheidenausfluss, Austrocknung der
Vaginalschleimhaut, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, Genitalbeschwerden,
Menstruationsbeschwerden bis hin zum Aussetzen der Regel.
Psychosomatisch relevante gynäkologische Beschwerden
Funktionelle Störungen |
Nichtorganische Frauenbeschwerden: vaginaler Ausfluss chronische somatoforme Unterleibsbeschwerden sekundäre Amenorrhö |
Organisch fundierte Störungen |
Psychosomatisch relevante gynäkologische Erkrankungen und
Operationen: prämenstruelles Syndrom vorzeitige Wehentätigkeit und Frühgeburt Wochenbett-Störungen |
Funktionelle Störungen
Genitaler
Juckreiz
Genitaler Juckreiz ohne organische Ursachen kommt bei etwa 15 % der Frauen vor.
Er geht oft durch das Kratzen in einen brennenden Schmerz über, der vor allem nach dem Wasserlassen, Geschlechtsverkehr oder der Einführung von Tampons auftritt.
Die Juckreiz- und Schmerzsymptome können das Sexualleben erheblich beeinträchtigen.
Manchmal treten auch chronische Schmerzen im Bereich der äußeren Genitalien auf (Brennen, Stechen, Reißen, Gefühl von Wund-Sein).
Diese Symptome hängen ganz
allgemein mit emotionaler Anspannung zusammen.
Vaginaler
Ausfluss (Fluor vaginalis)
Der vaginale Ausfluss
besteht in einem übermäßigen Ausfluss von unterschiedlicher Farbe, Konsistenz
und Geruch. Bei Ausschluss organischer Ursachen spricht man von einem
psychogenen Ausfluss, der gewöhnlich durch die Aktivierung des sympathischen
Nervensystems als Folge von Belastungen entsteht.
Chronische
Unterleibsbeschwerden bei Frauen (Pelvipathie)
Bei etwa jeder zehnten Patientin in deutschen Frauenarztpraxen werden chronische Unterleibsschmerzen diagnostiziert.
Von chronischen Unterleibsbeschwerden sind vorwiegend Frauen zwischen dem 20. und dem 40. Lebensjahr betroffen, also Frauen im fortpflanzungsfähigen Alter.
Die Kennzeichen sind zyklusunabhängige Schmerzen in Unterleib und Becken, die durch organische Ursachen nicht (hinreichend) erklärbar sind. Akute Unterleibsbeschwerden gehen dagegen mit einer Gewebeschädigung einher, das heißt sie haben einen organischen Charakter.
Chronische Unterleibsbeschwerden ohne organischen Befund dauern mindestens sechs Monate an, treten plötzlich auf oder werden permanent mit schwankender Intensität wahrgenommen, haben als Leitsymptom drückende, ziehende oder stechende Schmerzen im Unterleibs- und Lendenwirbelbereich.
Sie bestehen aber meist aus recht diffusen Schmerzen ohne eindeutige Lokalisation (das heißt es gibt kein Schmerzzentrum) und können das gesamte kleine Becken oder nur einseitig den Bereich von Eierstock und Eileiter betreffen.
Manchmal strahlen sie auch bis in die Extremitäten aus und weisen Begleitsymptome auf, z.B. Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Schwindel, Kreislauflabilität, Durchblutungsstörungen (kalte Hände und Füße), Ausfluss, Durchfall, Verstopfung, Reizdarm, erschwerte und schmerzhafte Harnentleerung, Schmerzen in der Nähe von Operationsnarben, Veränderungen der Brustdrüsen, sexuelle Störungen wie Libidomangel und mangelnde genitale Befeuchtung.
Müdigkeit und andere psychovegetative Symptome stehen oft in Verbindung mit psychischen Störungen, vor allem mit Depressionen, Angstzuständen, posttraumatischen Belastungsstörungen und hypochondrischen Störungen.
Aus Erklärungsmangel werden die Schmerzen von Ärzten oft auf Verwachsungen im Bauchraum zurückgeführt. Frauen mit chronischen Unterleibsbeschwerden haben jedoch nicht mehr Verwachsungen und leiden auch unter keinen größeren Menstruationsbeschwerden als andere Frauen.
Eventuell nachgewiesene Organbefunde erklären nicht die ganze Schmerzsymptomatik.
Operationen können aufgrund des Placeboeffekts eine zeitweilige Besserung bringen, beseitigen die Beschwerden in der Regel jedoch nicht auf Dauer.
Die Ursachen und Zusammenhänge bei chronischen Unterleibsbeschwerden sind noch weitgehend unbekannt.
Die Betroffenen haben in der Vergangenheit oft körperliche Misshandlungen und sexuellen Missbrauch erlebt.
Chronische Stressfaktoren (Überforderung oder Verlusterlebnisse) spielen eine zentrale Rolle und beeinflussen die körperliche Befindlichkeit.
Nach neueren Untersuchungsbefunden besteht eine Störung im Stresshormonsystem, die – entgegen der Erwartung – durch einen erniedrigten Spiegel des Dauerstresshormons Kortisol charakterisiert ist.
Bei chronischen Unterleibsbeschwerden ohne Organbefund dürfte es sich also nach den bisher vorliegenden Befunden um eine stressbedingte Erkrankung (Überlastungssyndrom) handeln, ähnlich wie bei anderen Schmerzstörungen oder bei posttraumatischen Belastungsstörungen.
Die meisten Patientinnen haben einen großen Leidensdruck und häufig ein organisches Erklärungsmodell, sodass sie psychologischen Sichtweisen anfangs oft nur schwer zugänglich sind.
Die große psychosomatische Bedeutsamkeit des Krankheitsbildes ergibt sich aus folgenden Zahlen:
Unter 5000 Frauen in den USA ist die Symptomatik bei rund 16 % zu finden; 10 % der ambulanten Patientinnen suchen den Frauenarzt wegen Unterleibsbeschwerden auf; bis zu 40 % der Frauen mit Unterleibsschmerzen haben keine organische Grundlage; bis zu 90 % der laparoskopierten Patientinnen weisen keine organische Ursache auf; 20 % aller Laparoskopien und 12 % aller Gebärmutterentfernungen erfolgen wegen Unterleibsbeschwerden.
Oft wird nicht
nur unnötigerweise die Gebärmutter entfernt, sondern auch noch der Blinddarm,
gleichsam nach dem Motto „Was man nicht mehr hat, kann einem nicht mehr
wehtun“. Frauen mit chronischen Unterleibsbeschwerden wurden fast fünfmal so
oft operiert wie Frauen einer Kontrollgruppe.
Sekundäre
Amenorrhö
Unter einer sekundären Amenorrhö versteht man das vorübergehende, mindestens drei Monate andauernde Aussetzen der Monatsblutung bei normalem Körpergewicht und durchschnittlicher körperlicher Belastung.
Die sekundäre Amenorrhö kommt bei 1 bis 2 % der Frauen vor und kann durch folgende Umstände bedingt sein: extreme Belastungssituationen (Krieg, Vergewaltigung, extremer Leistungssport), psychosoziale Konfliktsituationen (Verlust von Geborgenheit, Sicherheit und Wärme, Entwurzelung, Ambivalenz gegenüber der eigenen Weiblichkeit) und schwere seelische Störungen (vor allem Essstörungen, Depressionen und Angststörungen). Stressfaktoren können zu einer funktionellen Störung des Hypothalamus führen und über hormonelle Vorgänge eine psychogene Amenorrhö auslösen.
Die viel seltenere
primäre Amenorrhö (keine Menstruation bis zum 18. Lebensjahr) ist nur bei einer
Minderheit psychogen bewirkt (z.B. bei einer ausgeprägten Magersucht) und weist
auf eine schwer gestörte psychosexuelle Entwicklung hin.
Dysmenorrhö
Die Dysmenorrhö bezeichnet eine äußerst schmerzhafte Regelblutung mit krampfartigen, ziehenden Unterleibsschmerzen, begleitet von Kopfschmerzen, Übelkeit, Rückenschmerzen und Reizbarkeit.
Die Schmerzen setzen meist einige Stunden vor der Regelblutung ein, nehmen an Intensität zu und klingen nach zwei bis drei Tagen ab.
Eine Dysmenorrhö beginnt meist in der Jugend oder im frühen Erwachsenenalter und hängt oft mit der beginnenden und noch inadäquaten Funktion der Eierstöcke zusammen.
Eine hormonell bedingte Veränderung der Schmerzempfindungsschwelle kann ebenfalls eine große Rolle spielen.
Die Symptome können durch psychische Konflikte (emotionale Probleme, Rollenprobleme als junge Frau, Depressivität und Ängstlichkeit leichteren Ausmaßes) und psychosoziale Belastungsfaktoren ungünstig beeinflusst werden.
Große Belastungen und seelische Spannungen können
über die Hypophyse als oberste Stelle der Hormonsteuerung den gesamten
hormonellen Regelkreis des weiblichen Zyklus durcheinander bringen.
Schwangerschaftserbrechen
Schwangerschaftserbrechen im ersten Schwangerschaftsdrittel kommt bei 50 bis 70 % aller Schwangeren vor und geht in schweren Fällen mit Gewichtsverlust, Austrocknung und Elektrolytstörung einher.
Bei verschiedenen Frauen kann die Symptomatik durch
psychische und psychosoziale Ursachen, insbesondere Stress, verstärkt werden.
Organische Störungen
Blutungs- und
Zyklusstörungen
Bei Blutungs- und
Zyklusstörungen ist das komplexe Zusammenspiel zwischen zentralem Nervensystem,
Hypothalamus, Hypophyse und Eierstöcken schwer gestört, wobei auch
psychosoziale Faktoren wie etwa Stress, Erschöpfung oder depressive
Verstimmungen eine Rolle spielen können.
Prämenstruelles
Syndrom
Das prämenstruelle Syndrom kommt bei 30 bis 40 % der Frauen vor, doch nur 2 bis 10 % leiden unter schweren Beeinträchtigungen.
Die Störung, bei der keine endokrinologischen Veränderungen, wohl aber genetische Komponenten nachweisbar sind, umfasst zahlreiche seelische und körperliche Beschwerden zwei bis zehn Tage vor der Menstruation:
ein schmerzhaftes Spannungsgefühl in den Brüsten, Bauchkrämpfe, Unwohlsein, Blähungen, Völlegefühl, verstärkte Ödemneigung durch Wassereinlagerung, Gewichtszunahme, gesteigerter Appetit, Kopfschmerzen, Kreuz- und Rückenschmerzen, Schwindel, Schlafstörung, Stimmungsschwankungen, Weinkrämpfe, Depressionen, Aggressivität und Angst.
Entgegen verschiedenen populären
psychoanalytischen Auffassungen (sexuelle oder Rollenprobleme als Ursache)
lassen sich keine spezifischen psychologischen Auslösefaktoren nachweisen,
dagegen bestehen häufig psychosoziale Folgeprobleme wie etwa Partnerprobleme
oder Einschränkungen der sozialen Aktivitäten.
Vorzeitige
Wehentätigkeit und Frühgeburt
Eine vorzeitige Wehentätigkeit und eine Frühgeburt können mit psychosozialen Faktoren wie etwa Stress im Beruf oder in der Familie, insbesondere jedoch mit Partnerproblemen in Verbindung stehen, vor allem wenn gleichzeitig vermehrtes Rauchen als Bewältigungsstrategie eingesetzt wurde.
Verschiedene Forschungsergebnisse
weisen auf deutliche Zusammenhänge zwischen einer Frühgeburt und der aktuellen
Lebenssituation bzw. der Stressverarbeitung hin.
Störungen im
Wochenbett
Im Wochenbett (die ersten sechs Wochen nach der Geburt) ergibt sich auch bei psychisch gesunden Frauen oft ein körperlich-emotionaler Schwächezustand, der durch emotionale Labilität, Weinkrämpfe, allgemeines Schwächegefühl und körperliche Erschöpfung charakterisiert ist.
Bei dafür anfälligen Frauen kann es zu einer
nachgeburtlichen Depression kommen.
Gynäkologische
Operationen
Psychosomatische („somatopsychische“) Aspekte sind auch bei gynäkologischen Operationen – besonders bei einer Krebserkrankung – bedeutsam.
Die Entfernung von symbolträchtigen und bedeutsamen Organen wie Brust, Gebärmutter oder Eierstöcken und eine Operation im Genitalbereich sind gewöhnlich mit erheblichen psychischen und psychosozialen Folgeproblemen verbunden.
Das Selbstwertgefühl, die weibliche Identität und Attraktivität werden schwer beeinträchtigt, auch Partnerschaft und Sexualität leiden häufig darunter.
Eine
Entfernung der Gebärmutter sollte daher nur bei Vorliegen einer klaren
medizinischen Indikation erfolgen.
Psychosomatische Konzepte
Psychologische
Faktoren
Psychische und soziale Probleme können Ursache oder Folge zahlreicher Frauenbeschwerden sein.
Die vielfältigen gesellschaftlich bestimmten Aufgaben von Frauen wie etwa Berufstätigkeit, Haushalt, Kindererziehung und Betreuung kranker oder pflegebedürftiger Angehöriger führen oft zu Rollenproblemen und Überlastungsreaktionen.
Sie äußern sich in zahlreichen psychischen und psychovegetativen Beschwerden, vor allem dann, wenn Frauen im Rahmen der geschlechtsspezifischen Sozialisation kein ausreichendes Selbstbewusstsein erlangt haben und ihren Selbstwert zu einseitig im Wert für andere sehen gelernt haben.
Zu Überforderung führt oft auch das Bestreben, in allen Bereichen die bestmögliche Leistung zu erbringen und trotz eines vorübergehenden beruflichen Ausstiegs wegen der Kinder eine ähnliche Karriere zu erreichen, wie dies Männern möglich ist.
Die im Vergleich zu Männern größere Rate an Frauen mit Angststörungen, Depressionen und somatoformen Störungen hängt nicht nur mit deren größerer biologisch-hormoneller Verwundbarkeit, sondern auch mit psychischen und sozialen Faktoren zusammen.
Frauen reagieren sensibler bei Problemen in der Partnerschaft und in der Familie und entwickeln in Zusammenhang damit eher als Männer psychische und psychosomatische Störungen.
Frauen haben aufgrund der Sozialisationsbedingungen und der soziokulturellen Gegebenheiten noch immer nicht die gleichen Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung und sozialen Durchsetzung wie Männer.
Auch ein unzureichendes weibliches Selbstwertgefühl macht anfällig für verschiedene psychische und psychosomatische Störungen.
Der übertrieben hohe
Stellenwert des äußeren Erscheinungsbildes von Frauen in unserer Gesellschaft
fördert körperliches Unwohlsein, wenn die Idealfigur eben nicht vorhanden ist
und trägt zur weiten Verbreitung der Essstörung Bulimie bei.
Therapeutische
Strategien
In der Psychotherapie bei Frauen mit psychosomatisch relevanten gynäkologischen Beschwerden wird noch deutlicher, was auch ganz allgemein für den Bereich der Psychosomatik gilt: Stabile Behandlungserfolge sind nur erreichbar, wenn die Therapie nicht rein auf die Symptome, sondern auf die ganze Person und deren psychosozialen Kontext ausgerichtet ist.
Je nach Situation stehen unterschiedliche Ziele im Mittelpunkt einer
psychologisch-psychotherapeutischen Behandlung: Stärkung des weiblichen
Selbstwertgefühls, positives Körpererleben, erfüllendes Sexualleben,
Überprüfung des Rollenverhaltens, bessere Abgrenzung gegenüber anderen
Personen, Bewältigung traumatischer Erfahrungen, Verbesserung der
Partnerbeziehung, Umgestaltung und Neuverteilung der verschiedenen Aufgaben in
Familie, Haushalt und Beruf, Verarbeitung krankheitsbedingt notwendiger
Operationen und sukzessiver Verlusterlebnisse von weiblichen Organen sowie
verschiedener körperlicher und hormoneller Veränderungen im Rahmen des
Lebenszyklus, Bewältigung emotionaler Krisen in Zusammenhang mit
Schwangerschaft, Geburt, Blutungs- und Zyklusstörungen, Unfruchtbarkeit,
künstlicher Befruchtung, Schwangerschaftsabbruch, Empfängnisverhütung und
erheblichen Abweichungen von den gesellschaftlich vermittelten Idealbildern
bezüglich Aussehen, Figur und Gewicht.
Wenn die Ohren dröhnen
Tinnitus – Disco im Ohr
Herr Kramer,
ein 47-jähriger technischer Angestellter, erleidet nach einer längeren
Stressphase einen Hörsturz. Sehr erschrocken bemerkt er am Morgen beim Aufstehen,
dass er auf dem linken Ohr fast nichts hört. Eine durchblutungsfördernde
Infusionstherapie im Krankenhaus bringt rasch eine Besserung. Zurück bleibt ein
sehr lästiger und quälender Tinnitus in Form eines zischenden, extrem lauten
Geräusches auf beiden Ohren. Er spürt einen großen Druck im Kopf, kann sich
nicht konzentrieren, vor allem unter vielen Menschen, meidet bald alle
Geräusche wie Musik, Veranstaltungen und Zusammensein mit Freunden. Herr Kramer
fühlt sich seinen dröhnenden Ohrgeräuschen hilflos ausgeliefert und wird im
Laufe der Zeit immer depressiver. Er hat Angst, bald durchzudrehen oder sich
etwas anzutun, wenn er es nicht mehr aushält. Mit Ausnahme seiner Frau fühlt er
sich von allen anderen Menschen unverstanden, vor allem wenn er zeitweise nicht
zur Arbeit geht oder anstelle des Großraumbüros ein Zimmer für sich allein
wünscht. Zwei weitere stationäre Aufenthalte in anderen Krankenhäusern, wo
Infusionen und Medikamente zur Durchblutungsförderung eingesetzt werden,
bringen keine Besserung. Schließlich setzt er nach zwei Jahren der Frustration
seine letzte Hoffnung auf die Kombination von Tinnitus-Retraining-Therapie bei
einem darauf spezialisierten HNO-Arzt und Verhaltenstherapie bei einem psychologischen
Psychotherapeuten.
„Sich taub stellen“: Ohren und Psyche
Über die Ohren bekommen wir alle relevanten Informationen aus der Umwelt. Die Schallwellen eines Tones oder Geräusches treffen über den äußeren Gehörgang auf das Trommelfell, das so in Schwingungen versetzt wird.
Diese werden auf die Gehörknöchelchen des Mittelohres und anschließend über eine Membran zum Innenohr übertragen.
Das Innenohr sieht aus wie eine Schnecke und ist mit Flüssigkeit gefüllt. Sie wird in Wellen versetzt und umspült die feinen Härchen der Sinneszellen, die ihrerseits jetzt einen elektrischen Impuls über den Hörnerv in die zuständigen Zentren des Gehirns weiterleiten.
Hier werden die Impulse erkannt und in eine bewusste Wahrnehmung übersetzt: Man hört das Schreien eines Kindes oder die Musik eines bekannten Stückes.
Wenn wir Geräusche zu leise oder fast unhörbar empfinden, leiden wir unter Schwerhörigkeit; wenn wir Geräusche zu laut erleben, leiden wir unter einer Gehörüberempfindlichkeit; wenn die Geräusche nicht von außen, sondern von innen, aus dem Ohr selbst, kommen, plagt uns ein sehr belastender Tinnitus.
Wir können uns an übermäßigen Lärm nicht gewöhnen, sondern langfristig gesehen nur Schaden nehmen, weil die empfindlichen Sinneshaarzellen dabei absterben.
Lärm wird anhand der Lautstärke in Dezibel (dB) gemessen. Ein Wert über 85 dB bei einer Einwirkzeit von acht Stunden täglich über mehrere Jahre hinweg gilt als gesundheitsschädlich.
Lärm bedeutet einen Dauerstress für unseren Körper, denn er hält ihn durch die Ausschüttung von Stresshormonen in ständiger Alarmbereitschaft. Herz und Kreislauf werden aktiviert, die Verdauungstätigkeit gehemmt, das Immunsystem beeinträchtigt.
Lärm stört den Schlaf und beeinträchtigt die geistige Leistungsfähigkeit, weil die Konzentrationsfähigkeit darunter leidet.
Schlimmstenfalls kann es zu Depressionen und Tinnitus (krankhaften Ohrgeräuschen) kommen. Besonders lärmempfindlich reagieren Schwangere, Kinder, alte Menschen und Kranke.
Viele Menschen benutzen Lärm als Droge; sie suchen geradezu die aufputschende Wirkung der Stresshormone und den Alarmzustand des Körpers.
Man kann aber auch Lärm machen, um Angst abzuwehren, beunruhigende Stille zu vermeiden oder das Selbstbewusstsein durch Lautstärke zu steigern.
Mit den Ohren stehen wir in Dauerkontakt mit der Umwelt; man kann die Augen verschließen, die Ohren aber nicht – außer mit technischen Hilfsmitteln.
Das Hören von Musik oder der Stimme eines geliebten Menschen löst Emotionen aus. Musik im Takt unseres Herzschlags wirkt beruhigend.
Die engen Zusammenhänge zwischen den Ohren und der Psyche bzw. dem zwischenmenschlichen Verhalten zeigen sich in vielen Redewendungen:
Wir sind ganz Ohr, haben für jemand ein offenes Ohr, schenken jemandem Gehör.
Wir möchten um Gehör bitten, zu Gehör kommen und etwas zu Gehör bringen.
Entweder finden wir leicht Gehör oder wir müssen uns erst Gehör verschaffen – oder wir sagen einfach: „Hören Sie!“.
Wir können die Ohren spitzen, nur mit halbem Ohr zuhören oder uns die Ohren zustopfen.
Mitunter sind wir auf einem Ohr taub oder lassen etwas zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinausgehen.
Manchmal vergeht uns Hören und Sehen und wir lassen die Ohren hängen.
Oft haben wir viel um die Ohren, liegt uns jemand in den Ohren und jammert uns geradezu die Ohren voll.
Subjektive Beeinträchtigungen im Gehörbereich kommen bei verschiedenen psychischen Erkrankungen vor, insbesondere bei Depressionen, Angststörungen und somatoformen Störungen.
Depressive klagen öfter über folgende Beschwerden:
Druckgefühl auf beiden Ohren, Ohrengeräusche (Klingeln, Sausen), Schmerzen, Geräuschempfindlichkeit,
Verminderung des Hörvermögens ohne organischen Befund, verstärkt bei
vorliegender Schwerhörigkeit.
Psychosomatisch relevante Ohrenbeschwerden
Funktionelle Störungen |
Dissoziative Störungen: |
Organisch fundierte Störungen |
Psychosomatisch relevante
Ohrerkrankungen: Drehschwindel Menière-Krankheit |
Dissoziative
Hörstörungen
Die sehr seltenen Phänomene der psychogenen Hörstörungen (dissoziative Taubheit oder Schwerhörigkeit) werden heute als dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen bezeichnet und zu den dissoziativen Störungen (Konversionsstörungen) gezählt; es liegt ein aktueller Konflikt als Auslöser vor.
Eine dissoziative Hörstörung kann auf einem oder beiden Ohren auftreten und äußert sich als teilweiser oder totaler Hörverlust.
Sie verhalten sich dabei völlig anders als Patienten mit organischer Hörverschlechterung: Sie fixieren im Gespräch nicht die Lippen des Gegenübers, wenden ihm nicht das gesunde Ohr zu und beginnen auch nicht, selbst lauter zu sprechen.
Die Störung kann
situativ variieren (Hörstörung in Test- und Beobachtungssituationen, fehlende
Beeinträchtigung in unbeobachteten und ungezwungenen Gesprächssituationen).
Organische Störungen
Tinnitus
Unter Tinnitus (vom Lateinischen tinnire = klingen) versteht man subjektive Ohrgeräusche ohne äußeres Schallereignis, die folgendermaßen beschrieben werden können: Pfeifen, Brausen, Zischen, Rauschen, Piepsen, Läuten, Knistern, Hämmern, Dröhnen, Klirren, Knacken, Surren, Summen oder Brummen in einem oder beiden Ohren oder im Kopf.
Die Lautstärke und die Lautzusammensetzung variieren, am häufigsten besteht ein hochfrequentes pfeifendes Geräusch.
Sehr quälend ist dabei das Gefühl, den Ohrgeräuschen hilflos ausgeliefert zu sein und nichts dagegen unternehmen zu können.
Erfahrungsgemäß wiegen die Auswirkungen für die Betroffenen oft schwerer als der Tinnitus selbst.
Immer mehr Menschen klagen über Tinnitus, derzeit leiden 4 % der Bevölkerung darunter, davon 1 % erheblich.
10 bis 15 % der Erwachsenen leiden gelegentlich, öfter oder dauerhaft unter störenden Ohrgeräuschen.
Etwa 0,5 % der Erwachsenen sind aufgrund von Ohrgeräuschen nicht mehr in der Lage, ein normales Leben zu führen.
Die Wahrscheinlichkeit, an Tinnitus zu erkranken, steigt mit dem Alter, obwohl die Symptomatik auch schon bei Kindern und Jugendlichen auftritt, bei denen das erhöhte Krankheitsrisiko mit hoher Lärmbelastung durch Disco und Walkman zusammenhängt.
Der Tinnitus kann akut oder chronisch sein, oft erfolgt eine Spontanremission.
Beim akuten Tinnitus, der weniger als drei Monate andauert, besteht eine Durchblutungsstörung des Innenohres.
Durch die gestörte Mikrozirkulation des Blutes bleibt der periphere Hörapparat sauerstoffmäßig unterversorgt und die inneren Haarzellen werden geschädigt. Abhilfe schaffen demgemäß durchblutungsfördernde Mittel.
Beim chronischen Tinnitus, das heißt bei Ohrgeräuschen, die bereits länger als drei Monate bestehen, ist eine derartige Infusionstherapie nicht mehr sinnvoll.
Hier spielt die Art der Verarbeitung des Tinnitus eine wesentlich größere Rolle. Wenn die Betroffenen damit gut zurechtkommen, spricht man von einem kompensierten Tinnitus.
Die übrigen Patienten mit einem so genannten dekompensierten Tinnitus benötigen neben der medizinischen Therapie eine Behandlung, in der auch die psychischen Verarbeitungsmuster und verschiedene psychosozialen Aspekte berücksichtigt werden müssen.
Die permanenten Ohrgeräusche, der Hörverlust im Hochtonbereich und die Übersensibilität gegenüber Geräuschen führen zu einem immensen Leidensdruck mit zahlreichen psychischen, psychosomatischen und sozialen Beeinträchtigungen:
Schlafstörungen, Depressivität, Hilflosigkeit und Kontrollverlust bezüglich des Tinnitus, Nervosität, Ängstlichkeit, allgemeine Reizbarkeit, ständige Anspannung, Konzentrationsstörungen, Spannungskopfschmerzen, Magenschmerzen, akustische Überflutung, Überforderung durch Stimmen und Geräusche unter vielen Menschen mit daraus resultierendem sozialen Rückzug.
Durch eine psychische Störung wie eine Depression oder eine Angststörung kann ein kompensierter und wenig beachteter Tinnitus akut dekompensieren.
Ein Tinnitus kommt oft auch bei Patienten mit somatoformen Störungen wie etwa anhaltenden somatoformen Schmerzstörungen vor.
80 % der Tinnitus-Patienten leiden auch unter einer Hörstörung, die auf einer Innenohrschwerhörigkeit beruht.
Viele der berichteten Beschwerden hängen dann nicht primär mit dem Tinnitus, sondern mit der begleitenden Hörstörung zusammen.
Das reduzierte Sprachverstehen besonders im Gespräch mit mehreren Personen verstärkt den sozialen Rückzug und könnte öfter durch ein Hörgerät verbessert werden.
Viele Tinnitus-Patienten leiden auch unter Verspannungen im Kiefergelenksbereich (bis hin zu nächtlichem Zähneknirschen) sowie im Hals-, Nacken- und Schulterbereich, sodass eine gezielte Entspannung der entsprechenden Muskulatur lindernd wirkt.
Bei einem dekompensierten Tinnitus erfolgt keine Gewöhnung, das heißt keine Toleranzentwicklung.
Die Aufmerksamkeit bleibt ständig auf die Geräusche gerichtet, die als bedrohlich interpretiert werden; das erklärt die ständige psychische und körperliche Anspannung.
Gerade hier setzen psychologische Therapiemaßnahmen an: Die störenden Ohrgeräusche sollen durch bestimmte Techniken zur Umlenkung der Aufmerksamkeit besser ertragen gelernt werden.
Tinnitus-Patienten mit hohen und
niedrigen Beeinträchtigungsgefühlen unterscheiden sich voneinander dadurch, wie
sie die Störung bewältigen und welche Strategien sie dabei anwenden.
Hörsturz
Unter Hörsturz versteht man eine akute, meist einseitige Hörminderung in der Gehörgangsschnecke, der knöchernen (Innenohr-)Schnecke im Schläfenbein.
Die Störung kommt bei etwa 20 von 100.000 Menschen vor und ist im Steigen begriffen.
Der Grad der Hörstörung reicht von leichter Hörminderung bis zur völligen Taubheit, die allerdings nur selten auftritt. Meist sind hohe und mittlere Frequenzen betroffen.
Ein Hörsturz erfolgt meistens bei völliger
Gesundheit aus heiterem Himmel, rund die Hälfte der Betroffenen bemerkt ihn
nach dem morgendlichen Erwachen.
Als häufigstes Begleitsymptom tritt bei 70 bis 80 % der Betroffenen ein belastender Tinnitus auf, daneben auch ein Druckgefühl im Ohr, Schwindel, Gleichgewichtsstörungen und Kopfschmerzen mit Übelkeit.
Die unmittelbaren Ursachen liegen wahrscheinlich in einer verminderten Durchblutung und infolgedessen in einer Sauerstoffunterversorgung der Sinneshaarzellen.
Ein
Hörsturz kann völlig ausheilen, während ein Tinnitus häufig chronifiziert.
Erhöhte
Lärmempfindlichkeit (Hyperakusis)
Die so genannte Hyperakusis bezeichnet den Umstand, dass Signale von bereits geringer Intensität als zu laut und/oder unangenehm wahrgenommen werden.
Die Betroffenen, die an sich ein normales Gehör aufweisen, erleben schon Geräusche wie das Rauschen einer Klimaanlage oder das Umblättern einer Zeitung, ja sogar ihre eigene Stimme als störend bis quälend.
Eine Hyperakusis tritt oft zusammen mit einem Tinnitus einseitig (43 %) oder beidseitig (53 %) auf, und zwar oft erst Wochen oder Monate nach dem akuten Tinnitus; sie kann aber auch ohne Tinnitus vorkommen.
Manchmal führt eine jahrelang bestehende Hyperakusis langsam zu einem Tinnitus.
Die Störung
ist auch beidseitig nach einem einseitigen Trauma wie einem Hörsturz möglich.
Schwerhörigkeit
Schwerhörigkeit ist die häufigste Berufskrankheit.
Jeder zweite Rentner leidet unter einer Hörminderung, 2 % der Schulkinder sind auf beiden Ohren schwerhörig.
Bedenklich ist vor allem der Anstieg von Gehörschäden in der jugendlichen Bevölkerung. 28 % aller 20-Jährigen leiden in Deutschland unter einem Hörverlust von mindestens 25 Dezibel, überwiegend bedingt durch laute Musik aus Walkman, CD-Player und Discolautsprechern.
Die Betroffenen leiden unter Nervosität,
Reizbarkeit, Unruhe, Kopfschmerzen, verminderter Belastbarkeit,
Kontaktschwierigkeiten, sozialem Rückzug und Vereinsamung, depressiver
Verstimmung und Verlust des Selbstvertrauens, manchmal auch unter paranoiden
Fehldeutungen.
Drehschwindel
Beim typischen
Vertigo mit Drehschwindel, dem so genannten peripher-vestibulären Schwindel
(wie er durch eine Innenohrlähmung bewirkt wird), berichten die Betroffenen
über eine Scheinbewegung der eigenen Person oder der Umwelt sowie von
vegetativen Beschwerden wie Übelkeit, Brechreiz, Blässe und kaltem Schweiß.
Menière-Krankheit
Bei der Menière-Krankheit kommt es zu Anfällen von plötzlich auftretendem Drehschwindel mit Übelkeit bis zum Erbrechen, die ohne erkennbaren Anlass zu jeder Tages- und Nachtzeit auftreten können.
Sie dauern minuten- bis stundenlang an und wiederholen sich in unterschiedlich großen Abständen.
Das Schwindelgefühl kann so stark ausgeprägt sein, dass der Patient nicht mehr allein stehen kann.
Zusätzlich besteht ein zeitweise auftretender Hörverlust, verbunden mit Tinnitus und einem Druckgefühl im betroffenen Ohr.
Der auftretende Tinnitus ist tieftonfrequent und wird während eines Anfalls stärker. Die Kankheitsursache liegt in einem Stau der Lymphflüssigkeit im Ohr mit der Folge eines steigenden Flüssigkeitspegels.
Entweder wird zu viel Flüssigkeit produziert oder zu wenig
abgebaut.
Psychosomatische Konzepte
Psychologische
Faktoren
Bei dissoziativen Hörstörungen meinen Psychoanalytiker: Unbewusst wollen die Betroffenen „etwas nicht hören“.
Beim Tinnitus können chronischer Stress und Depressionen als krankheitsauslösend oder -verstärkend angesehen werden, vor allem jedoch zeigen sich häufig psychische und psychosoziale Folgestörungen wie Hilflosigkeits- und Kontrollverlustgefühle, Depressionen, Schlafstörungen, Kommunikationsstörungen, sozialer Rückzug und Angstzustände.
Eine Arbeitsunfähigkeit resultiert oft aus der Konzentrationsstörung, der verwirrenden akustischen Reizüberflutung unter vielen Menschen und der Erschöpfung nach längerer äußerer Lärmbelästigung.
Ein Hörsturz wird oft durch chronische Überlastungen, aktuelle Konfliktsituationen und einen ständigen emotionalen Spannungszustand ausgelöst.
Häufig kommt zu einem Dauerstresszustand noch ein schicksalhaftes Ereignis (Unfall, Todesfall, Erkrankung) hinzu, das den Hörsturz begünstigt.
Die Zusammenhänge zwischen Hörsturz und Stress sind leicht nachvollziehbar: Bei Stress wird vermehrt das Stresshormon Kortisol ausgeschüttet, das die Blutgefäße verengt und die Fließeigenschaften des Bluts verschlechtert; das Blut wird dicker und kann sogar gerinnen.
In den kleinen Gefäßen des Innenohres kann es so zum Gefäßverschluss kommen – und damit zum Hörsturz, der nichts anderes als ein Infarkt des Innenohres ist.
Als Folge davon wird die Sauerstoffzufuhr zu den im Innenohr sitzenden, hoch empfindlichen Sinneszellen unterbrochen.
Die Menière-Krankheit führt im Laufe der Zeit zu
einer erheblichen psychosozialen Beeinträchtigung. Die Betroffenen ziehen sich
aus Angst vor einem Schwindelanfall in der Öffentlichkeit immer mehr zurück und
bekommen nicht selten Angststörungen und Depressionen.
Therapeutische
Strategien
Beim chronischen Tinnitus und bei der Menière-Krankheit stehen nicht die Heilung, sondern die Verbesserung der Lebensqualität und die Unterbrechung des Vermeidungsverhaltens (Vermeidung von Geräuschen, sozialen Kontakten und Aktivitäten) im Vordergrund der Therapie.
Für die psychologisch-psychotherapeutische Behandlung von Tinnitus ist die gegenwärtige Auffassung maßgeblich, dass es sich dabei letztlich um ein Geschehen im Gehirn und nicht im Ohr handelt.
Aus dieser Sicht sind psychologische Maßnahmen zum erfolgreicheren Umgang damit sowie zur besseren Bewältigung symptomverstärkender Stressfaktoren dringend notwendig und zwar vor allem bei der chronischen, bislang unheilbaren Variante der Störung.
Viele Experten sind der Meinung, dass es sich beim chronischen Tinnitus letztlich um eine somatoforme Störung handle, da eventuell vorhandene Organbefunde (leichte Lärmschädigung, Halswirbelsäulenverspannungen oder Gefäßverengungen) das Störungsausmaß nicht vollständig erklären können.
In der Therapie soll der eskalierende Teufelskreis von Aufmerksamkeitszuwendung, negativer Bewertung der Geräusche, verstärkter Stressreaktion und Tinnitus-Verschlimmerung unterbrochen werden.
Reine Entspannungsübungen sind bei Tinnitus wenig wirkungsvoll, hilfreicher sind dagegen so genannte multimodale Bewältigungsstrategien.
Sie führen zwar
nicht zur Beseitigung, wohl aber zur besseren Bewältigung der Symptomatik und
damit zu einer höheren Lebensqualität. Diese Strategien sind auch bei
Hyperakusis wirkungsvoll:
Beim Hörsturz können psychologische Stressbewältigungs- und Entspannnungstherapien dazu beitragen, einen neuerlichen Hörsturz zu vermeiden.
Eventuell bleibende Folgen des Hörsturzes können ein Tinnitus-Bewältigungstraining erforderlich machen.
Bei der Menière-Krankheit liegen die Ansatzpunkte
für eine psychosomatische Behandlung in den vorausgegangenen Stressphasen, in
einer meist sehr leistungsorientierten Persönlichkeitsstruktur und in der hohen
Erwartungsangst bezüglich eines nächsten Anfalls.
Herr Winter,
ein 39-jähriger Softwaretechniker in einer großen Firma, leidet seit einigen Monaten
unter einem ständigen Engegefühl im Hals, das man am besten als Zuschnüren der
Kehle beschreiben kann. Er glaubt oft, er könne beim Essen keinen größeren
Bissen schlucken, weil ihm dieser im Hals stecken bleiben würde. Tatsächlich
taucht dieser unangenehme Zustand aber ausschließlich beim Leerschlucken ohne
Essen auf. Nicht nur bei Tisch, sondern auch überall sonst ist Herr Winter
stets mit einer Flasche Mineralwasser zu sehen, weil er damit am schnellsten
seine Mundtrockenheit und sein Gefühl, ständig schlucken zu müssen, beseitigen
kann.
Nach einer organischen
Ausschlussdiagnostik wird in der Psychotherapie der relevante psychosoziale
Hintergrund bald offenbar: Herr Winter steht beruflich unter einem enormen
Stress; vor allem belastet ihn das Gefühl, am falschen Platz eingesetzt zu
sein. Vor einem Jahr wurde er von der Programmentwicklung in den technischen
Verkauf überstellt, wo er sich aber überhaupt nicht wohl fühlt. Er möchte am
liebsten kündigen, weil er sich unterqualifiziert fühlt, hat aber Angst davor,
anderswo nicht jenes Lohnniveau und jene Arbeitsplatzsicherheit zu erreichen,
wie er dies bisher gewohnt war.
„Etwas schnürt die Kehle zu“: Hals, Nase, Stimme und
Psyche
Die Nase ist das Organ des Geruchssinns und der Beginn der Atemwege.
Von allen Sinnesorganen ist der Geruchssinn stammesgeschichtlich der älteste.
Wir können die Augen schließen und die Ohren verstopfen, aber Gerüchen können wir uns nicht entziehen.
Weil wir atmen müssen, müssen wir auch riechen, was an guten und schlechten Düften in uns einströmt.
Die einströmende Luft passiert die Riechschleimhaut in der Nasenhöhle, wo Millionen von Sinneszellen auf feinen Härchen die Duftmoleküle einfangen und als elektrische Impulse an das Riechhirn weiterleiten.
Geruchsinformationen gelangen zuerst direkt in das limbische System des Gehirns und lösen dort unmittelbar Gefühlsreaktionen aus.
Gerüche bewirken stark gefühlsbetonte Sinneseindrücke; deren lust- oder unlustbetonter Charakter wird auch im Gesichtsausdruck und im Verhalten durch Schnüffeln, Naserümpfen u.ä. sichtbar.
Gerüche können anregen, beruhigen, erfrischen oder ekeln.
Bestimmte Körpergerüche wirken anziehend oder abstoßend, sind Auslöser für Sympathie oder Antipathie und beeinflussen damit erheblich unsere Sozialbeziehungen.
Frauen haben gewöhnlich, zumindest in der Schwangerschaft, einen empfindlicheren Geruchssinn als Männer.
Gerüche aktivieren nicht nur Emotionen, sondern auch Erinnerungen, sodass wir uns bei bestimmten Gerüchen sofort in bestimmte angenehme oder unangenehme Situationen zurückversetzt fühlen.
Seelische Probleme in Verbindung mit dem Geruchssinn ergeben sich am häufigsten als Folge traumatischer Erfahrungen, wo etwa ein Brandgeruch bei einem Unfall immer wieder ungewollt erinnert wird, wie dies bei der so genannten posttraumatischen Belastungsstörung der Fall ist.
Der Hals umfasst den Rachen, den Anfangsteil der Speiseröhre und den Kehlkopf mit dem obersten Abschnitt der Luftröhre.
Im Inneren des Kehlkopfes befinden sich die Stimmbänder. Der Kehlkopf und die Stimmbänder bilden den wichtigsten Teil des Sprechapparates.
Der Stimmapparat ist das komplizierteste motorische System des ganzen Körpers.
An der Entstehung unserer Stimme sind an die hundert Muskeln und mehrere Organe beteiligt: das Zwerchfell und die Lunge, der Kehlkopf mit den Stimmlippen in der Mitte sowie der Mund-, Nasen und Rachenraum.
Ein Ton entsteht dadurch, dass die Ausatemluft durch den Kehlkopf streicht und die Stimmlippen zum Schwingen bringt. Eine gesunde Stimme beruht auf dem optimalen Zusammenspiel von Atmung, regelmäßigem Schwingungsverhalten der Stimmlippen, Körperspannung, Körperhaltung und psychischer Befindlichkeit. Die Stimme als physikalisches Phänomen besteht aus 100 bis 1000 Schwingung der Stimmlippen pro Sekunde. Jeder Mensch besitzt eine einmalige Stimme und kann daher leicht identifiziert werden.
Die Stimme ist Ausdruck der Befindlichkeit des ganzen Menschen.
Die Stimme ist tiefer bei Entspannung, höher bei Anspannung, überschlägt sich bei Erregung und bebt bei hoher emotionaler Anspannung.
Freude äußert sich in einer gut modulierten, volltönenden Stimme, Trauer hingegen in einer brüchigen, eher monotonen Stimme.
Die Stimme einer Person ist das Barometer ihrer Stimmung.
Der Stimmklang eines Menschen ist ein Gradmesser dafür, wie sehr er aus seiner Mitte heraus spricht und singt oder ob er unter Druck steht und körperlich bzw. psychisch geschwächt ist.
Die Stimme ist das wichtigste Kontaktorgan zur Umwelt und ermöglicht Dialog und Beziehung.
Stimmstörungen sind primär Kommunikationsstörungen und kein isoliertes Problem des Kehlkopfes oder des Stimmapparates.
Seelische Belastungen können sich auf die Stimmbänder auswirken und dazu führen, dass das Zusammenspiel von Atmung, Stimme und Artikulation gestört wird.
Ständige Heiserkeit oder große Anstrengung beim Sprechen können Ausdruck tieferer persönlicher Probleme sein.
Unsere Befindlichkeit kommt in Redewendungen zum Ausdruck, die mit den Bereichen Hals, Nase und Stimme zu tun haben.
Mitunter sind wir hochnäsig, verschnupft oder stinkt uns etwas.
Wenn uns etwas nicht passt, rümpfen wir die Nase oder wir haben die Nase gestrichen voll.
Manchmal haben wir einen guten Riecher oder werden wir von anderen an der Nase herumgeführt.
Oft beschnuppern wir jemanden ausgiebig, können ihn aber gar nicht riechen. Wenn wir überall unsere Nase hineinstecken, können wir auch einmal auf die Nase fallen.
Anderen sehen wir etwas sofort an der Nasenspitze an – oder wir müssen es ihnen aus der Nase ziehen.
Manchmal haben wir einen Frosch oder Kloß im Hals, bleibt uns das Lachen, ein Wort oder ein Bissen im Hals stecken.
Dann wieder schreien wir uns den Hals aus, platzt uns der Kragen, bekommen wir einen dicken Hals oder hängt uns etwas zum Hals heraus.
Oft halsen wir uns etwas auf, das uns den Hals kosten kann, aber im letzten Moment ziehen wir unseren Hals aus der Schlinge.
Mitunter haben wir etwas auf dem Hals, das wir uns mühsam von Hals schaffen müssen, oder wir möchten uns jemanden vom Hals halten, der uns am liebsten um den Hals fallen würde.
Wir recken öfter den Hals und können den Hals nicht voll genug kriegen.
Wir sprechen öfter aus voller Kehle oder schreien uns die Kehle aus dem Hals, doch ab und zu schnürt es uns die Kehle zu.
Wir können jemandem in die falsche Kehle geraten oder jemandem das Messer an die Kehle ansetzen.
Manchmal verschlägt es uns die Sprache oder bleibt uns die Spucke weg.
Wir sprechen im Brustton der Überzeugung und wollen den Ton angeben.
Manchmal bringen wir keinen Ton heraus; wir können dann keinen einzigen Ton von uns geben.
Wir pflegen einen „guten Ton“ oder vergreifen uns manchmal im Ton. Der Ton macht die Musik!
Störungen in den Bereichen Hals, Nase und Stimme kommen auch bei verschiedenen psychischen Störungen vor.
Angstpatienten leiden häufig unter
einem Globusgefühl. Funktionelle Stimmstörungen findet man insbesondere bei
depressiven Patienten, die häufig eine sehr leise und kraftlose Stimme haben.
Psychosomatisch relevante Störungen in den Bereichen Nase, Hals
und Stimme
Funktionelle Störungen |
Nichtorganische Störungen: dissoziative Riechstörung vasomotorische Rhinopathie |
Organisch fundierte Störungen |
Psychosomatisch relevante Störung: |
Funktionelle Störungen
Somatoformes
Globusgefühl
Das nichtorganische Globusgefühl wurde bereits bei den somatoformen Oberbauchbeschwerden unter den funktionellen Störungen der Speiseröhre besprochen, wird jedoch auch hier erwähnt, weil es im HNO-Bereich eine der häufigsten Missempfindungen darstellt.
Im internationalen Diagnoseschema wird die Symptomatik zu den „sonstigen somatoformen Störungen“ gezählt, die nicht durch das autonome Nervensystem vermittelt werden und zudem auf bestimmte Systeme oder Körperteile begrenzt sind.
Unter einem Globus pharyngeus versteht man umgangssprachlich ein Zuschnüren der Kehle oder einen „Kloß im Hals“.
Genauer definiert ist es ein Fremdkörpergefühl im Rachen (pharynx = Schlund, Rachen), bedingt durch eine Verspannung der Schluck- und Halsmuskulatur.
Dabei gibt es auch enge Zusammenhänge mit einer reflektorisch hervorgerufenen Verspannung der Halswirbelsäule.
Neben dem Fremdkörpergefühl, das durch häufiges Schlucken oder Wassertrinken zu beseitigen versucht wird, bestehen weitere unangenehme Gefühle wie Kratzen, Brennen oder Schmerzen.
Häufig treten
derartige Missempfindungen im Rachen auch bei funktionellen Stimmstörungen auf,
vergleichbar einem Muskelkater nach übermäßiger Muskelanstrengung.
Dissoziative
Riechstörung
Die extrem
seltenen psychogenen Riechstörungen (Geruchlosigkeit oder
Geruchüberempfindlichkeit) werden als dissoziative Sensibilitäts- und
Empfindungsstörungen bezeichnet und den dissoziativen Störungen oder
Konversionsstörungen zugeordnet; hier gilt es, einen aktuellen Konflikt als
Auslöser herauszufinden.
Vasomotorische
Rhinopathie
Die wichtigste funktionelle Störung im Bereich der Nase ist die so genannte hyperreflektorische oder vasomotorische Rhinopathie, die durch unspezifische Reize ausgelöst wird.
Dabei wird wässriger Schleim (Rhinorrhö) abgesondert, oft verbunden mit einem krampfhaften Niesanfall, dazu kommt das Gefühl einer verstopften Nase und der verminderten Geruchsempfindung.
In ähnlicher Weise
kann eine regelmäßig verstopfte Nase mit ständigem Schniefen die Reaktion auf
emotionellen Stress sein, besonders wenn das Immunsystem aufgrund andauernder
Überforderung allgemein geschwächt ist.
Dissoziative
Stimmstörungen
Funktionelle Stimmstörungen sind nichtorganische Beeinträchtigungen der Stimme, die zu den dissoziativen Bewegungsstörungen zählen.
Sie beruhen auf einer mangelnden Koordination im Bewegungsablauf des Sprechapparats, die zu einer gestörten Funktion bei der Stimmgebung führen.
Stimmstörungen treten vor allem bei Menschen in „Sprechberufen“ wie etwa Lehrern, Kindergärtnerinnen oder Verkäuferinnen auf. Dissoziative Stimmstörungen können durch Erwartungsängste bezüglich des öffentlichen Versagens der Stimme verstärkt werden.
Andererseits kann aber auch eine organische Stimmstörung zu psychosozialen Problemen führen und Versagensängste in sozialen Situationen begünstigen.
Man unterscheidet dissoziative Aphonien und Dysphonien, die ohne Behandlung zu Veränderungen des Kehlkopfs führen können.
Eine dissoziative Aphonie ist der plötzliche Verlust der Stimme für einige Stunden bis mehrere Tage. Die Stimme ist völlig tonlos, der Betroffene kann nur noch flüstern. Die Störung kann immer wieder auftreten.
Funktionelle Dysphonien sind Stimmstörungen mit einer Veränderung des Klanges und der Leistungsfähigkeit der Stimme, aber ohne primär organische Veränderungen der Stimmlippen.
Die Betroffenen leiden unter Heiserkeit, Stimmschwäche, Räusperzwang, Missempfindungen wie Brennen, Trockenheit, Schmerzen, Druck- und Spannungsgefühlen. Emotionale Faktoren beeinträchtigen den Stimmeinsatz, die Klangfarbe und die Tonhöhe.
Es besteht ein enger Zusammenhang mit der individuellen Verarbeitung von Emotionen, inneren Konflikten, Überforderung und Aspekten der Stimmbelastung.
Die Symptome entwickeln sich oft schleichend, bei mehr als der Hälfte nach einem grippalen Infekt oder einer Infektion im Mund- und Halsbereich und wechseln situativ in Intensität und Ausprägung.
Oft bestehen auch psychische Symptome (Erschöpfungsgefühle, Niedergeschlagenheit, Müdigkeit und soziale Unsicherheit).
Man unterscheidet zwei Arten von Dysphonien: ein „Zuwenig“ und ein „Zuviel“ an Stimme.
Eine hypofunktionelle Dysphonie zeigt sich in einer leisen, gehauchten Stimme, einer geringen Modulation, nur oberflächlicher Atmung und ungenügendem Öffnen des Mundes und kommt häufig bei Menschen mit Erschöpfungszuständen und Depressionen vor.
Eine hyperfunktionelle Dysphonie weist folgende Merkmale auf:
zu laute, zu hohe, raue, mitunter kippende Stimme,
harte bis knarrende Stimmeinsätze, schlechte Vokalausformung, Neigung zur
Verkrampfung des Kehlkopfeinganges; die Stimme klingt gepresst, gequält,
stöhnend und ächzend, die Artikulation ist mühsam, die Atmung zu schnell. In beiden
Fällen sind Krafteinsatz und Stimmtechnik unökonomisch.
Organische Störungen
Allergische
Rhinopathie
Brennende Augen, laufende Nase und gereizte Bronchien sind die bekannten Symptome des so genannten „Heuschnupfens“.
An einer derartigen allergischen Rhinopathie, die man im Falle von chronischem Stress aufseiten der Betroffenen durchaus unter psychosomatischen Aspekten im engeren Sinne betrachten kann, leiden 10 bis 20 % der Bevölkerung.
Es handelt sich dabei um eine allergische Entzündung der Nasenschleimhaut (z.B. durch Pollen, Hausstaub oder Tierhaare) mit den Symptomen Juckreiz, Verstopfung der Nase, Fließschnupfen, Niesreiz, nasaler Stimme, Störungen des Geruchs- und Geschmacksempfindens, Entzündung der Nasennebenhöhlen und Abgeschlagenheit.
Heuschnupfen plagt immer mehr Menschen: Jeder fünfte
Erwachsene ist davon betroffen – die Tendenz ist stark steigend.
Psychosomatische Konzepte
Psychologische
Faktoren
Stress und psychosoziale Belastungsfaktoren gelten als Auslöser oder Verstärker von funktionellen sowie organischen Beeinträchtigungen im Bereich von Nase, Kehle und Stimme.
Ein somatoformes Globusgefühl kann Ausdruck von inneren Konflikten, Überforderung, Stress, Angst, Depressionen, Hilflosigkeits- und Ohnmachtsgefühlen sein.
Bei Aufregung und Stress trocknet der Hals aus, sodass die Betroffenen ständig Räuspern und Hüsteln müssen.
Durch diese ständige Aufmerksamkeitszuwendung auf den Halsbereich wird die Symptomatik unnötig verstärkt und fixiert.
Die Überreaktion der Nasenschleimhaut kann sowohl bei einer vasomotorischen Rhinopathie als auch bei einer allergischen Rhinopathie durch heftige Emotionen und Stress verstärkt werden, der das Immunsystem schwächt.
Bei Beziehungskonflikten, Ängsten und Depressionen genügen oft bereits wenige Pollen, um die Symptomatik auszulösen.
Dissoziative Stimmstörungen hängen oft mit inneren Anspannungen zusammen, mit psychischen Konflikten, sozialer Unsicherheit, Angst, depressiven Zuständen, Stress und Überforderung in der Familie oder im Beruf.
Ein weiterer Grund liegt im falschen Gebrauch der Stimme, vor allem in Sprechberufen wie Telefonistinnen, Verkäuferinnen oder Lehrern, sodass es zur Überforderung der Stimmbänder kommt.
Bei Menschen in Sprechberufen sowie bei Sängern und Schauspielern wird der psychosoziale Stress zusätzlich verstärkt durch die verständliche Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes.
Traumatisierende Erlebnisse wie Unfälle, sexuelle und körperliche Gewalt können zu einem totalen Verlust der Stimme führen – nach dem Motto „Ich will mit dieser Welt nicht mehr kommunizieren“.
Stimmstörungen können auch durch emotional bedingtes falsches
Atmen entstehen.
Therapeutische
Strategien
Beim Globusgefühl sowie bei Stimmstörungen sind Techniken zur richtigen Atmung sehr hilfreich, um vor allem die Entspannung in der Ausatmungsphase zu intensivieren.
Bei funktionellen Störungen der Nase können Atemtechniken die Atmung durch die Nase statt durch den Mund fördern, denn die Mundatmung gewährleistet keine adäquate Lufterwärmung und -befeuchtung.
Bei dissoziativen Geruchsstörungen können dadurch möglicherweise wieder Geruchsempfindungen angeregt werden.
Bei funktionellen Stimmstörungen ist vor allem auch eine logopädische Behandlung wichtig, wobei jedoch eine ganzheitliche Sichtweise in Hinblick auf die emotionale und psychosoziale Befindlichkeit von entscheidender Bedeutung ist.
Arbeit an der Stimme ist immer Arbeit an der ganzen Person.
Reine Laut- und Stimmübungen werden nicht den gewünschten Effekt erbringen.
Grundsätzlich
gilt: Vorrangig müssen die hinter den verschiedenen HNO-Symptomen stehenden
inneren Konflikte und äußeren Belastungssituationen erkannt und bewältigt
werden.
Wenn der Stress ins Auge geht
Verminderte Sehleistung – trüber Blick durch Verspannung
und Depression
Herr Maurer,
ein 37-jähriger technischer Angestellter, kann plötzlich seinen Beruf nicht
mehr ausüben, weil er seit zwei Monaten unter unerklärlichen Sehstörungen leidet.
Mehrere Augenärzte können keine körperlichen Ursachen für seine Doppelbilder,
den trüben Blick und das plötzlich eingeschränkte Gesichtsfeld finden. Seit einem
Jahr geht es seiner Firma sehr schlecht, sodass er die Kündigung befürchtet.
Große Probleme gibt es auch privat: Seine Frau droht mit der Scheidung, weil
sie während seiner häufigen Auslandsaufenthalte einen anderen Partner kennen
gelernt hat. Bei gleichzeitiger Berücksichtigung anderer Beschwerden wie
rascher Ermüdbarkeit, Lustlosigkeit, Appetitmangel, Durchschlaf- und
Konzentrationsstörung ergibt sich das Bild einer reaktiv-depressiven
Symptomatik.
„Die Augen vor etwas verschließen“: Augen und Psyche
Das Auge nimmt das Licht wie eine Kamera auf und leitet die durch die Linse gebeugten Lichtstrahlen zu einer empfindlichen Oberfläche, der Netzhaut.
Der Zustand der Linse (abgeflacht oder gewölbt) bestimmt die Art der Lichtbrechung und damit die Nah- oder Fernsicht.
Die Pupille ist die Öffnung in der Regenbogenhaut, die sich wie eine automatisch arbeitende Blende je nach Lichteinfall öffnet und schließt, das heißt sich erweitert oder verengt.
Hinter der Linse befindet sich der Augapfel, der mit einer durchsichtigen gallertartigen Substanz gefüllt ist, dem Glaskörper, an dessen Rückseite die Netzhaut liegt.
Die Netzhaut ist das natürliche Gegenstück zu einem fotografischen Film. Sie besteht aus drei Schichten von Nervenzellen mit Lichtrezeptoren an der Außenseite.
Die Nervenimpulse werden dann an das Gehirn zur Verarbeitung weitergeleitet. Rund 80 % aller Sinneseindrücke nehmen wir über die Augen wahr.
Zwischen den Augen und dem Gehirn besteht eine enge anatomische Verbindung, denn die Netzhaut und der Sehnerv sind – entwicklungsgeschichtlich gesehen – Teile des Gehirns, die in das Auge vorgelagert sind.
Dies macht es verständlich, dass Seheindrücke unmittelbar Gefühlsreaktionen auslösen wie etwa Weinen bei einem Film. Wenn wir die Augen schließen, bewegt sie das Gehirn unbewusst weiter.
Je mehr Erlebnisse wir im Unterbewusstsein verarbeiten, umso intensiver werden die Augenbewegungen.
Bei Angst und emotionaler Erregung bewirkt das sympathische Nervensystem eine Erweiterung der Pupillen, um mehr Licht durchzulassen; dadurch werden die Augen lichtempfindlicher und das Sehfeld erweitert.
Eine vergrößerte Pupille, vergleichbar einer größeren Blende beim Fotoapparat, verringert die Schärfentiefe und erhöht damit die Möglichkeit, unterschiedliche Entfernungen besser voneinander zu unterscheiden.
Dadurch können bedrohliche Objekte besser wahrgenommen werden.
Bei Stress, Aufregung oder Angst haben viele Menschen das Gefühl, nahe Dinge nicht gut zu sehen.
Dieses Phänomen wird durch das sympathische Nervensystem hervorgerufen: Die Augenlinsen werden bei Stress abgeflacht und besitzen infolgedessen eine geringere Brechkraft bzw. größere Brennweite.
Der Sinn dahinter ist: Bei Gefahr ist gute Fernsicht möglicherweise überlebensnotwendig; die Nahsicht ist jedoch beeinträchtigt, weil sie in dieser Situation nicht von so elementarer Bedeutung ist.
Augenprobleme treten heutzutage oft durch eine Tätigkeit am Computer auf.
Die dauernde Scharfstellung der Linse auf Nahsicht, die für die Arbeit am Bildschirm notwendig ist, bedeutet für die Augen eine große Anstrengung.
Bis zu 40 % der Beschäftigten klagen über müde, brennende oder tränende Augen während der Computerarbeit.
Gerötete Augen sind keine Erkrankung des Sehapparates, sondern Ausdruck der starken Beanspruchung durch den stundenlangen Blick auf den Monitor.
Die Augen haben zu wenig Tränenflüssigkeit oder die Zusammensetzung des Tränenfilms stimmt nicht mehr.
Es kommt zu trockenen Augen – rote Augen sind die Folge davon.
Ein Drittel der Internet-Surfer klagen über schlechter gewordene Sehleistung. 60 % von ihnen legten bis zu einer Dioptrie zu, 31 % bis zu drei und 9,5 % lagen sogar über diesem Wert.
In den Augen spiegelt sich, wie Goethe es so schön formuliert hat, „von außen die Welt und von innen der Mensch“.
Unsere Augen sind das „Fenster zur Außenwelt“: Mit den Augen erkennen wir die Welt, schaffen wir uns ein Bild von unserer Umwelt, treten wir in Kontakt mit anderen Menschen und stellen wir eine intensive Beziehung zu bestimmten Personen wie dem Partner her.
Das Auge ist also ein wichtiges Kommunikationsorgan.
Wer die Augen stets senkt, gilt als schüchtern oder selbstunsicher. Wer einen anderen so anschaut, dass sich dieser „durchbohrt“ fühlt, wird als zudringlich erlebt.
Unsere Augen bzw. unser Blick können warm, hart, offen, ausdruckslos, in sich gekehrt, gütig, durchdringend, bohrend, verschlingend, treuherzig, feurig, kühl, abweisend, verzweifelt, ängstlich, starr vor Schreck, weit aufgerissen vor Angst und Panik, verklärt, glänzend, strahlend oder glanzlos sein.
Wir können – im übertragenen Sinne – umsichtig, weitsichtig, kurzsichtig oder blind sein.
In unserem Blick können andere Menschen unsere Gefühle und Stimmungen ablesen – die Augen sind ein Spiegel unserer Seele; sie bringen auch unsere „Sichtweisen“ im umfassendsten Sinn zum Ausdruck.
Diese Aspekte spiegeln sich in zahlreichen Redewendungen wider:
Ein Blick sagt mehr als tausend Worte, ganz Auge und Ohr sein, etwas ins Auge fassen, sich etwas vor Augen halten, mit etwas liebäugeln, der Wahrheit ins Auge sehen, die Augen vor etwas verschließen, etwas kann ins Auge gehen, den eigenen Augen nicht trauen, etwas springt ins Auge, ein Auge zudrücken, etwas mit einem lachenden und einem weinenden Auge sehen, mit einem blauen Auge davon kommen, mit offenen Augen durch die Welt gehen, etwas mit neuen oder anderen Augen sehen, etwas ist eine Augenwischerei, Scheuklappen aufsetzen, etwas hüten wie den eigenen Augapfel, etwas aufs Auge gedrückt bekommen, Sand in die Augen streuen, ein Dorn im Auge sein.
Es war Liebe auf den ersten Blick, etwas ist aus den Augen, aus dem Sinn. Wir sagen auch, jemand ist mit Blindheit geschlagen, wenn er etwas nicht sieht oder nicht sehen will.
Im Bereich der psychischen Störungen treten vor allem bei Depressionen
folgende Augenprobleme auf: angebliche Kurzsichtigkeit, Klagen über falsche oder
nicht ausreichende Sehkorrekturen, chronische Entzündung der vorderen
Augenabschnitte, schlechtes Sehen ohne objektiven Befund, Lichtempfindlichkeit,
Doppelbilder.
Psychosomatisch relevante Augenprobleme
Funktionelle Störungen |
Dissoziative Sehstörungen: Verschwommensehen Gesichtsfeldausfälle |
Organisch fundierte Störungen |
Psychosomatisch relevante
Augenerkrankungen: Uveitis |
Was die Seele stresst, kann auch das Auge trüben.
Die Augen sind das Kommunikationsorgan schlechthin; psychosoziale Probleme können sich daher in Form einer Sehstörung ausdrücken.
Die funktionellen oder psychogenen, nunmehr dissoziativ genannten Sehstörungen bestehen in einem Verlust oder Teilverlust des Sehvermögens oder im Gegenteil, nämlich in einer visuellen Überempfindlichkeit.
Es handelt sich um Konversionsstörungen mit spezifischen psychischen Auslösern (bestimmten Konfliktsituationen oder großen Belastungen) und einem bestimmten Symbolgehalt.
Dissoziative Sehstörungen äußern sich häufig im Verlust der Sehschärfe eines oder beider Augen, in der Abnahme der Tiefenschärfe, im Wahrnehmen von Doppelbildern, in Gesichtsfeldausfällen, im Verschwommensehen oder „Tunnelsehen“ (röhrenförmiges Sehen), in Nachtblindheit, in einer erhöhten Blendungsempfindlichkeit oder im gestörten Farbensehen.
In sehr seltenen Fällen besteht eine ein- oder beidseitige Blindheit, eine völlige Blindheit ist jedoch extrem selten.
Typisch sind auch Störungen der Konvergenzreaktion, das heißt des Nahsehens, sowie manchmal auch Konvergenzspasmen, die keine Einstellung der Sehfähigkeit auf nah und fern ermöglichen.
Eine funktionelle Muskelverspannung im Augenbereich verstärkt oft das Gefühl der Sehunschärfe oder des Doppeltsehens.
Trotz der Klagen über den Sehverlust können sich die Betroffenen oft überraschend gut orientieren und bewegen.
Die Störung tritt oft plötzlich
auf und steht mit bestimmten psychischen oder psychosozialen Problemen in
Verbindung.
Organische Störungen
Organisch
bedingte Sehstörungen mit psychischen und psychosozialen Komponenten sind
häufiger als bisher angenommen wurde. Zumindest bei einigen Augenkrankheiten
wird immer wieder auf psychosomatische Aspekte hingewiesen, obwohl dazu noch
keine ausreichenden wissenschaftlichen Befunde vorliegen. Sogar Kurzsichtigkeit
bis zu eineinhalb Dioptrien kann mit seelischen Belastungen zusammenhängen,
eine eitrige Bindehautentzündung kann auf eine schlechte allgemeine Immunlage
hinweisen.
Glaukom
Glaukom (Grüner Star) ist eine chronische Augenkrankheit.
Dabei ist der Augeninnendruck überhöht – die Folgen: Der im Auge liegende Glaskörper wird auf die Netzhaut gedrückt und der empfindliche Sehnerv gequetscht.
Zudem beeinträchtigt der erhöhte Druck auch die Blutversorgung des Sehnervs – dann drohen ihm irreparable Schäden bis zur Erblindung.
Neben der
Senkung des erhöhten Augeninnendruckes ist von den Behandlern auch auf eine
Verbesserung der Durchblutung des hinteren Augenabschnittes zu achten, da diese
bei einem Teil der Betroffenen deutlich vermindert ist.
Uveitis
Uveitis leitet sich von Uvea (Netzhaut) ab; diese umfasst die Regenbogenhaut, den so genannten Strahlenkörper und die Aderhaut.
Bei der Uveitis sind all diese Bereiche entzündet, oft auf beiden Augen.
Die häufigsten Beschwerden bei einer plötzlich auftretenden Erkrankung sind:
starke Augenrötung, vermehrter Tränenfluss,
gesteigertes Blendempfinden, Verschwommensehen, stechende Augenschmerzen. Bei
chronischer Symptomatik treten eine allmähliche Sehverschlechterung und ein
immer dichter werdender Schleier auf.
Retinopathia
centralis serosa
Diese nichtentzündliche Netzhauterkrankung vorwiegend im mittleren Lebensalter besteht in einer Schwellung des Netzhautzentrums.
Es kommt zu einer Flüssigkeitsansammlung unter der Netzhaut im Bereich des schärfsten Sehens.
Nachweisbar ist ein Defekt in einer bestimmten Netzhautschicht, dem Pigmentepithel, durch den die Flüssigkeit sickert.
Oft bessert sich die Sehschärfe von alleine.
Heteropathie
Heteropathie ist eine Neigung zum Schielen, also eine vorübergehende Abweichung von der Normalstellung der Augen.
In bestimmten Situationen mit geminderter Fusionskraft (Ermüdung,
fieberhafter Erkrankung, Nervosität, Alkoholeinfluss) zeigen sich auch weitere
Symptome wie Kopf- und Augenschmerzen, Brennen und insbesondere Doppeltsehen.
Psychosomatische Konzepte
Psychologische
Faktoren
Menschen mit dissoziativen Sehstörungen wollen laut Psychoanalyse „etwas nicht sehen“.
Dissoziative Sehstörungen drücken gewöhnlich eine massive Überforderung aus oder spiegeln ein Problem wider, das mit einer aktuellen oder schon länger andauernden Krisensituation in Verbindung steht.
Das Sehen im Alltagsleben wird heutzutage durch die zahlreichen, visuell anstrengenden Tätigkeiten beeinträchtigt, z.B. ständiges Arbeiten am Computer, stundenlanges Fernsehen, Autofahren oder Arbeiten unter dem Mikroskop.
Nichtorganische Augenprobleme hängen häufig mit Stress im weitesten Sinne zusammen.
Mindestens eine von drei Beschwerden über Augendruck (Kopfschmerzen, trockene Bindehaut, generelle Augenbelastungen) entsteht nach einer Untersuchung bei Bankangestellten durch psychosoziale Belastungen am Arbeitsplatz.
Ein großer Teil der häufigsten Beschwerden über Augenbelastungen (gereizte Netzhaut, wunde, juckende und „schwere“ Augen, verminderte Sehschärfe und Doppelsichtigkeit während und nach der Arbeit) ist psychischen Ursprungs und beruht weniger auf physischen Ursachen.
Manchmal handelt es sich bei psychogenen Augenstörungen um die Folgen einer extrem traumatisierenden Lebenssituation wie etwa Kriegserlebnissen.
So resultierte eine anhaltende Erblindung bei einer Gruppe schwer Traumatisierter aus dem Umstand, dass diese überaus lange und intensiv geweint hatten.
Organische Funktionen des Auges wie Sehschärfe, Beweglichkeit des Augapfels, Farbensehen und Gesichtsfeldwahrnehmung unterliegen Schwankungen, die durch die psychische Befindlichkeit bestimmt sind.
Organische Sehstörungen hängen oft mit lang andauerndem Stress oder schwer verkraftbaren Lebensveränderungen wie Scheidung, Tod des Partners oder beruflichen Fehlschlägen zusammen – der Stress bewirkt einen erhöhten Augeninnendruck, Muskelverspannungen und in der Folge eine Durchblutungsstörung des Auges.
Nach neueren Erkenntnissen kann Dauerstress sogar zum Glaukom führen.
Glaukom-Patienten reagieren sehr empfindlich auf jede Form von Stress.
Bei der Uveitis lassen sich mehrheitlich keine organischen Ursachen finden, sodass von einer Autoimmunerkrankung auszugehen ist, die durch Stress und belastende Lebensumstände verstärkt wird.
Eine nichtentzündliche Netzhauterkrankung
(Retinopathia centralis serosa) ist häufig bedingt durch psychischen,
insbesondere beruflichen Stress.
Therapeutische
Aspekte
Für dissoziative Sehstörungen gibt es – wohl aufgrund der Seltenheit – kein bewährtes Standardprogramm, es ist stets der konkrete Einzelfall zu beachten, der ein individuelles Vorgehen erfordert.
Ein reines Entspannungstraining wird kaum den gewünschten Erfolg bringen, weshalb eine psychologisch-psychotherapeutische Behandlung zur Beseitigung der zugrunde liegenden Konflikte notwendig ist.
Bei Überanstrengung und Übermüdung der Augen, etwa durch stundenlange Computerarbeit, kann ein Sehtraining hilfreich sein.
Dadurch lässt sich die Anspannung vor allem des inneren Augenmuskels, des Ziliarmuskels, vermindern. Bei den vielerorts angepriesenen Sehtrainings mit dem Ziel, Kurzsichtigkeit zu reduzieren, ist Vorsicht angebracht. Eine anatomisch bedingte Fehlsichtigkeit lässt sich nicht so einfach wegtrainieren.
Bei organischen Sehstörungen mit psychischen und psychosozialen Komponenten sollte unbedingt das Stressausmaß gesenkt werden.
Nach neuen Erkenntnissen kann durch Autogenes Training oder Hypnose der Augeninnendruck (Glaukom) gesenkt werden.
Bei Sehstörungen, die zur Erblindung führen, kann wegen der psychischen und psychosozialen Folgeerscheinungen wie etwa Depressionen, Berufsunfähigkeit oder soziale Isolierung eine psychologisch-psychotherapeutische Unterstützung sinnvoll sein, um eine bessere Krankheitsbewältigung zu erreichen.
Wenn die Zähne knirschen oder schmerzen
Bruxismus – der nächtliche Horror
Julia, eine 17-jährige Schülerin, knirscht seit einigen Jahren in der Nacht
so heftig mit den Zähnen, dass die oberen Frontzähne bereits ganz abgeschliffen
sind. Ihre Zähne mahlen nachts aufeinander wie Mühlsteine, am Morgen ist sie
ganz erschöpft und klagt über Kopfschmerzen. Sie selbst bemerkt im Schlaf
nichts davon – im Gegensatz zu ihrer jüngeren Schwester, die davon regelmäßig
wach wird. Auch tagsüber presst Julia ihre Zähne oft unabsichtlich und
unbemerkt so fest aneinander, dass sie Schmerzen im Bereich der Kaumuskulatur
bekommt. Eine Aufbiss-Schiene als Schutz für die Zähne in der Nacht verhindert
zwar das Ärgste, löst aber nicht das Grundproblem der chronischen Verspannung
bis in den Schlaf hinein. Bei jeder Art von Stress – etwa vor Prüfungen – und
seelischen Problemen wie etwa Liebeskummer wird das Knirschen ärger. Schließlich
lässt sich Julia von der Sinnhaftigkeit einer
psychologisch-psychotherapeutischen Behandlung überzeugen und beginnt, sich mit
den Problemen „dahinter“ auseinander zu setzen.
„Sich die Zähne ausbeißen“: Zähne und Psyche
Die Mundhöhle ist der Ort verschiedener Tätigkeiten wie Kauen, Beißen, Saugen oder Schlucken.
Die Zähne haben eine Werkzeugfunktion, indem sie die Kau- und Sprachfähigkeit ermöglichen, können aber auch als Waffe verwendet und als Schmuck gesehen werden.
Der Mund und die Zähne sind zentrale Bereiche für die Wahrnehmung und den Ausdruck von Emotionen.
Die Affekte können mimisch ausgedrückt werden durch Lächeln und attraktiv-sympathisches Zähne-Zeigen, durch aggressives Zähne-Zeigen, Zähne-Knirschen, Kiefer-Zusammenpressen oder Lippen-Beißen.
Der Mund-, Wangen- und Zahnbereich ist von einem dichten Nervengeflecht durchzogen, das Schmerz als hilfreiches Warnsignal ermöglichen soll, gleichzeitig ist damit aber auch eine besondere Schmerzempfindlichkeit gegeben.
Zwischen dem Kauapparat und der Seele bestehen engere Beziehungen, als allgemein angenommen wird.
Bei Stress beißen viele Menschen buchstäblich die Zähne zusammen.
Der Zusammenhang zwischen den Zähnen und der emotionalen Befindlichkeit kommt in zahlreichen Redewendungen zum Ausdruck:
mit den Zähnen knirschen oder klappern, jemandem die Zähne zeigen, jemandem auf den Zahn fühlen, jemand zum Fressen gern haben, die Zähne zusammenbeißen, sich durchbeißen, sich die Zähne ausbeißen, sich in etwas verbeißen, verbissen an etwas arbeiten, an Problemen herumkauen, an etwas schwer zu knabbern haben, etwas mit Zähnen und Klauen verteidigen, auf Granit beißen, etwas zähneknirschend ertragen, auf dem Zahnfleisch gehen, in den sauren Apfel beißen.
Statt des Mottos „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ sollten wir diesen Spruch beherzigen: „Lächeln ist die eleganteste Art, seinem Gegner die Zähne zu zeigen“.
Zahnprobleme können auch bei psychischen Erkrankungen auftreten, am häufigsten bei Depressionen und Angststörungen, da die Betroffenen im Kieferbereich meist chronisch verspannt sind.
Depressive haben trotz unauffälliger Befunde oft Zahnschmerzen oder klagen über einen schlecht sitzenden Zahnersatz trotz mehrfach überprüfter Prothese.
Zahnprobleme können auch im Rahmen einer Dysmorphophobie „erfunden“ werden und zwar im Sinne einer vermeintlichen Entstellung durch hässliche Zähne.
Psychiatrische Patienten haben auch gehäuft parodontale Entzündungen, Karies, Prothesenunverträglichkeit und weiter unten beschriebene Parafunktionsschmerzsyndrome.
Bei Kindern und Jugendlichen hat anhaltendes Daumenlutschen zur Spannungsreduktion im Laufe der Zeit erhebliche kieferorthopädische Probleme zur Folge.
Bei einer notwendigen Zahnregulierung ergibt sich noch eine weitere Gefahr: Durch eine Zahnspange werden die Zähne etwas nach hinten gedrückt, durch ständiges Lutschen am Daumen und an den Fingern dagegen nach vorn gezogen, sodass die Zähne wackelig werden können, wenn das Daumenlutschen nicht beendet wird.
Ein bedeutsamer psychischer Aspekt bei der Zahnbehandlung ist die weit verbreitete Angst vor dem Zahnarzt, die in leichterer bis mittlerer Form bei 75 % der Bevölkerung zu finden ist.
Die krankhafte Form wird heute richtigerweise Zahnbehandlungsangst (Oralophobie) genannt.
Rund 15 % der Bevölkerung leiden darunter und gehen deshalb nur unter großen Ängsten oder überhaupt nicht zum Zahnarzt.
Es ergibt sich ein Teufelskreis: Aus Angst vor
Schmerzen werden alle zahnärztlichen Kontrollen gemieden, was im Laufe der Zeit
zu kaputten Zähnen und damit erst recht zu großen Problemen und schlimmen
Schmerzen führt.
Psychosomatisch relevante Zahnprobleme
Funktionelle Störungen |
Nichtorganische Störungen: dentale Parafunktionen: Bruxismus (Zähneknirschen)Amalgam bezogene Beschwerden |
Organisch fundierte Störungen |
Psychosomatisch relevante Zahnerkrankungen: |
Funktionelle Störungen
Bruxismus
Die nichtorganischen Funktionsstörungen im Mund- und Kieferbereich werden dentale Parafunktionen genannt.
Es handelt sich dabei um Phänomene wie Knirschen, Mahlen und Pressen mit den Zähnen, Einsaugen der Wangen zwischen die Zähne und Drücken der Zunge gegen die eigenen Zähne oder Teile des Zahnersatzes.
Ein entspannter Mensch hat täglich normalerweise maximal 10 Minuten pro Tag Zahnkontakt, bei Stress erhöht sich dieser um ein Vielfaches.
Langfristig kommt es zu erheblichen Beeinträchtigungen, die oft erst
später, wenn Schmerzen auftreten, zur Behandlung führen:
Zähneknirschen ist die bekannteste Form der Parafunktionen. Darunter versteht man eine Überschussaktivität des Kausystems, die sich als unwillkürliches Knirschen und Pressen der Zahnreihen zu nicht funktionellen Zwecken vorwiegend in der Nacht äußert.
Bruxismus kann in extremen Konzentrationsphasen auch am Tag auftreten und ist dann vor allem durch das Aufeinanderpressen des Kiefers gekennzeichnet.
Nächtlicher Bruxismus besteht meist in Knirschen und Mahlen, zum Teil mit Press-Episoden. 8 % der Bevölkerung leiden mindestens einmal pro Woche unter Bruxismus, rund die Hälfte davon knirscht auch in der Nacht.
Etwa 80 % sind Frauen. Bruxismus ist – bedingt durch das stressreiche Leben – stark im Ansteigen begriffen; immer mehr Menschen zwischen 20 und 40 Jahren haben so stark abgewetzte Zähne, wie man dies eigentlich erst bei wesentlich Älteren erwarten würde.
Die Betroffenen bemerken das Ausmaß ihrer Verspannung und ihres Zähneknirschens oft gar nicht, denn sie führen ihre innere Anspannung gewöhnlich während des Schlafes durch das Knirschen ab (pro Stunde etwa eine Minute).
So ist es auch ganz verständlich, dass im Falle einer nächtlichen Aufbiss-Schiene (eines Zahnaufsatzes aus Kunststoff) zumindest vorübergehend tagsüber mehr Unruhe und Anspannung auftritt.
Die chronische Muskelverspannung führt zu langfristig erhöhten, unphysiologischen Zahnkontakten und massivem Druck auf die Zähne (z.B. besteht bis zu 40 Minuten lang ein Druck von bis zu 70 Kilo und starken Schmerzen im Kieferbereich).
Die Betroffenen setzen ihre Zähne und ihr Kausystem einem
enormen Druck aus. Dieser Druck auf die Zahnreihen kann bei Frauen bis zu 300
Kilo, bei Männern bis zu 400 Kilo erreichen.
Myoarthropathie
Die häufigste somatoforme Form des Gesichtsschmerzes ist eine chronische Myoarthropathie des Kausystems, eine Störung, die ihren Ursprung in einer verspannten Kaumuskulatur (Myopathie), seltener in den Kiefergelenken (Arthropathie) oder in beiden (Myoarthropathie) hat.
Eine Myoarthropathie umfasst mindestens drei der folgenden Symptome: Gelenkgeräusche bei Kieferbewegung, limitierte oder ruckartige Kieferbewegung, Schmerz bei der Kieferfunktion, Kiefersperre beim Öffnen, Zusammenpressen der Zähne, Bruxismus oder andere orale Parafunktionen (Zungen-, Lippen- oder Wangenbeißen oder -pressen).
Die Störung wird auch temporomandibuläres Schmerzsyndrom oder craniomandibuläres Dysfunktionssyndrom genannt (die letztere Bezeichnung ist mittlerweile international anerkannt).
Es bestehen andauernde Schmerzen im Bereich der Kau- und Gesichtsmuskulatur (Mund, Zähne, Kiefergelenke) und der umliegenden Gesichtspartien (Kaumuskulatur, Schläfenmuskulatur, Augenbereich), die bis in die seitlichen Nackenregionen und in den Kopfbereich ausstrahlen können.
Nicht selten findet man Muskelverspannungen und Druckpunkte bei den beidseitigen Kaumuskeln, Knacken im Kiefergelenk und Beeinträchtigungen der Unterkiefer-Beweglichkeit.
Daneben geben die Betroffenen noch folgende Symptome an: schwindlige Benommenheit, depressive Verstimmung, Ängste, Bruxismus (insbesondere nächtliches Zähneknirschen), Muskelkrämpfe bis in die Wirbelsäule und die Schulter-Arm-Region.
Diese Schmerzen sind keine blitzartig einschießende, einseitig auftretende Trigeminusneuralgie, wie oft gemeint wird, sondern beständige oder zumindest wellenförmig anhaltende und oft beidseitig auftretende Schmerzen im ganzen Gesicht, auch außerhalb des Versorgungsbereichs des Trigeminusnervs.
Das Beschwerdebild der Myoarthropathie
in der Zahnmedizin ist im HNO-Bereich als orofaziales
Schmerz-Dysfunktions-Syndrom oder atypischer Gesichtsschmerz bekannt, beruht
aber auf anderen Ursachen, wenngleich dieselben Begriffe oft auch im Bereich
der Zahnmedizin verwendet werden.
Mundschleimhautbrennen
Brennen auf der Mundschleimhaut, der Zunge oder im Gaumen tritt meistens bei älteren weiblichen Personen auf, die oft Prothesenträgerinnen sind.
Die Symptome schwanken im Tagesverlauf: Sie sind am Morgen nur schwach vorhanden und abends gewöhnlich am stärksten und führen dann auch zu einer Schlafstörung.
Zusätzliche Beschwerden sind oft Mundtrockenheit und Missempfindungen wie Kribbeln, Jucken, Stechen oder Wundsein.
Sie schwanken in ihrer Intensität und in ihrer Lokalisation und entsprechen nicht dem Versorgungsgebiet bestimmter Nerven, das heißt es lassen sich keine organischen Faktoren dafür finden.
Als Ursache gelten unspezifische psychogene Faktoren wie etwa Depressionen und alltäglicher Stress.
Wenn nach
Ausschluss organischer Ursachen ein einwöchiger Verzicht auf die Prothese keine
Linderung des Mundschleimhautbrennens bringt, sind rein zahnärztliche
Behandlungschancen gleich Null.
Amalgam
bezogene Beschwerden
Amalgam bezogene Beschwerden werden von Fachleuten heute als umweltbezogene Beschwerden bezeichnet und zu den somatoformen Störungen gezählt.
Die Betroffenen sehen dies nicht so und erklären sich ihre Zahnprobleme oder andere unspezifische Körperbeschwerden mit schädlichen Amalgam-Zahnfüllungen.
Die dabei freigesetzte Quecksilber-Konzentration ist jedoch so gering, dass diese nicht als Ursache der angegebenen Beschwerden in Frage kommt.
Vor bestimmten zahnärztlichen
Eingriffen oder bei ständigem Bedürfnis nach zahnmedizinischen Behandlungen
trotz gesunder Zähne sollte daher öfter als bisher von Ärzten und Betroffenen
die Möglichkeit psychischer Störungen in Betracht gezogen werden.
Organische Störungen
Zahnbetterkrankungen
Nichtentzündliche Zahnbetterkrankungen (Parodontitis), die den Kieferknochen zerstören, stellen ein zunehmendes Problem dar.
Das erste Symptom ist meist Zahnfleischbluten.
Eine anfängliche Zahnfleischentzündung, hervorgerufen durch Bakterien im Zahnbelag, weitet sich vom weichen Gewebe auf den ganzen Zahnhalteapparat, also auch auf den Kieferknochen, aus und führt im schlimmsten Fall über die Rückbildung des Knochens zuerst zum Wackeln und schließlich zum Ausfall der Zähne.
Der Körper wehrt sich gegen die Eindringlinge, entwickelt dabei aber eine Überreaktion mit fatalen Folgen: Ein großer Teil der Gewebeschädigungen wird nicht von den Bakterien, sondern von der Reaktion des Immunsystems hervorgerufen.
Beachtliche 40 % der erwachsenen Deutschen weisen eine leichte Paradontitis auf, meist ohne es zu ahnen.
Diese Zahnerkrankung ist damit weiter verbreitet als Karies. Bereits 15 % aller 30-Jährigen leiden an einer derart aggressiven Form der Zahnfleischentzündung, dass ihnen ein Zahnausfall droht.
Bei Menschen aus Entwicklungsländern ist das Zahnumfeld dagegen deutlich besser.
Eine wichtige Aufgabe der Gesundheitserziehung ist es, auf die Bedeutung der Ernährung und der richtigen Zahnpflege hinzuweisen.
Karies fördernde
Süßigkeiten und unregelmäßiges Zähneputzen führen über kurz oder lang zu
Zahnschäden.
Prothesenprobleme
Zahnverlust, Prothesen und Prothesenunverträglichkeit können das psychische Befinden erheblich beeinträchtigen.
Menschen mit einer Prothesenunverträglichkeit (alte und neue Prothese werden als nicht richtig sitzend abgelehnt) wandern – analog zu somatoformen Patienten – von Zahnarzt zu Zahnarzt; sie suchen anfangs gewöhnlich eine rein dentale Lösung, ohne sich mit den häufig vorhandenen psychischen oder psychosozialen Hintergründen beschäftigen zu wollen.
Das Phänomen der psychogenen Prothesenunverträglichkeit bedeutet, dass der Zahnersatz aus seelischen Gründen nicht sitzen will.
Die künstlichen Zähne machen immer wieder zumindest unbewusst auf den schmerzhaft erlebten Verlust der echten Zähne aufmerksam und weisen damit auf die mit dem Alter abnehmende Unversehrtheit des Körpers hin.
Manchmal steht auch die nicht verarbeitete Angst dahinter,
entstellt zu sein.
Psychosomatische Konzepte
Psychologische
Faktoren
Die psychologischen Aspekte in der Zahnmedizin sind vielfältiger als allgemein bekannt ist und sollten in Zukunft ernster genommen werden.
Verspannungen im Mund- und Gesichtsbereich beruhen auf einer hohen emotionalen Anspannung, bedingt durch psychoreaktive Faktoren und Stress im Beruf und in der Familie.
Ohne Beseitigung der dahinter stehenden psychischen Probleme werden beim Bruxismus nach den zahnmedizinisch notwendigen Maßnahmen wie Aufbiss-Schienen oder Kronen bald neuerliche Schäden und Schmerzen auftreten.
Neben allgemeinen psychosozialen Belastungsfaktoren müssen in bestimmten Fällen auch so genannte Konversionsphänomene beachtet werden, vor allem konkrete Probleme im zwischenmenschlichen Bereich: Massive Wut über den Partner kann zu einer schmerzhaften Kieferverspannung führen.
Pressen, Knirschen und Zungenpressen haben kurzfristig durchaus positive Konsequenzen: Eine innere Anspannung kann dadurch zwar abgeführt werden, ähnlich wie manche Menschen durch Kratzen, Ritzen oder Einschneiden der Haut eine kurzfristige Erleichterung erleben, die Langzeitfolgen sind jedoch verhängnisvoll und das Grundproblem wird nicht gelöst.
Stress, psychosoziale Belastungen und emotionale Spannung wie etwa anhaltender Ärger, Angstzustände oder Depressionen sind auch der Hintergrund für eine Myoarthropathie.
Vor allem die Unterdrückung von Gefühlen führt zu einer Affektspannung, die sich auf die Muskeln überträgt.
Emotional bedingte Muskelverspannungen des Kauapparates stehen oft in Verbindung mit kämpferischem oder aggressionsgehemmtem Verhalten, individueller Überforderung und psychosozialen Belastungsfaktoren. Druck macht Druck!
Zahnbetterkrankungen können nach neuen Erkenntnissen mit chronischem Stress zusammenhängen, der die körperliche Widerstandskraft gegenüber Infektionen über ein geschwächtes Immunsystem mindert.
Einerseits vernachlässigen viele Menschen bei anhaltenden psychischen Belastungen ihre Mundhygiene, andererseits sinkt in Stresssituationen die Menge schützender Immunfaktoren im Speichel, sodass sich die Bakterien leichter vermehren können.
Prüfungszeiten, Jobkrisen oder
Alltagsstress können regelrechte Parodontitis-Schübe auslösen.
Therapeutische Strategien
Es ist von zentraler Bedeutung, dass die Betroffenen das Ausmaß ihrer Verspannung im Kiefer- und Gesichtsbereich wahrnehmen lernen und in Zusammenhang mit ihren inneren Anspannungen und äußeren Belastungen sehen können.
Als psychologische Interventionen bei psychisch mitbedingten Zahn- und Kieferproblemen sind neben einem problemzentrierten Vorgehen (Hilfestellungen bei der Bewältigung der psychosozialen Belastungssituationen und emotionalen Anspannungen) unbedingt auch symptomspezifische Maßnahmen in Form verschiedener Entspannungstechniken anzuraten.
Bei gleichzeitig vorhandener Depression ist eine psychotherapeutische und/oder pharmakotherapeutische Behandlung angezeigt.
Oft reicht bereits eine
umfassende Aufklärung des Patienten über die Körper-Seele-Zusammenhänge im Zahn-
und Kieferbereich, um ihn angesichts fehlender Organbefunde von weiteren
zahnärztlichen Behandlungsmaßnahmen abzubringen.
Wenn die Bewegung gestört ist
Schwankschwindel – ständige Angst vor dem Umfallen
„Den Halt verlieren“: Bewegung und Psyche
Die Gelenke sind die beweglichen Verbindungen, die es unseren Knochen ermöglichen, sich gegeneinander zu bewegen.
Die Gelenkknorpel überziehen die Knochenenden und können sowohl Unebenheiten der Gelenkflächen ausgleichen als auch Stöße auf Grund ihrer Verformbarkeit auffangen.
Unser Knochengerüst wird durch Bänder zusammengehalten: bindegewebsartige Verbindungen von Knochen zu Knochen, die helfen, das Gelenk zu stabilisieren. Sehnen sind Verbindungsgewebe zwischen Muskeln und Knochen und haben die Aufgabe, die Kraft der Muskulatur auf das Skelett zu übertragen.
Mithilfe der Anspannung der Muskeln, die vom vegetativen Nervensystem gesteuert werden, bewegen wir unser Körpergerüst in den Gelenken.
Die Wirbelsäule ist bei der Haltung und Bewegung des Körpers von zentraler Bedeutung: Aufrechtes Stehen etwa ist die Leistung der Wirbelsäule und des komplizierten Muskelwerks, das an ihr ansetzt. Letztlich sind alle Muskeln der Gliedmaßen und des Rumpfes auf irgendeine Art mit der Wirbelsäule verbunden.
Die übereinander liegenden Wirbel sind so geformt, dass sie als knöcherner Ring ein Loch umschließen, in dem das Rückenmark und die von ihm ausgehenden Nerven geschützt vom Gehirn nach unten verlaufen können.
Kleine Gelenke verbinden die Wirbel miteinander, sodass sie gegeneinander beweglich sind.
Zwischen den Wirbeln liegen die Bandscheiben als Stoßdämpfer. Sie haben eine feste Schale, einen gallertartigen Kern und sind nicht durchblutet.
Die normalen Belastungen des Tages drücken den weichen Kern zusammen, weshalb man am Abend bis zu zwei Zentimeter kleiner sein kann als am Morgen.
Ein guter Kontakt zum Boden, eine gute Standfestigkeit sowie das allgemeine Geschick, mit der Schwerkraft zurechtzukommen, wird in der Psychotherapie häufig als „geerdet sein“ bezeichnet.
In unserer Beziehung zum Boden zeigt sich im übertragenen Sinn, wie gut unsere Beziehung zur Realität ist und wie sehr wir uns in unsere sozialen Beziehungen eingebettet fühlen.
Zahlreiche Redewendungen weisen auf die Körper-Seele-Zusammenhänge im Bereich der Bewegung hin:
starr werden vor Schreck, sich wie gelähmt fühlen, völlig verkrampft sein, nicht auf eigenen Füßen stehen können, vor lauter Angst wackelige Beine bekommen, jemandem fährt der Schreck in die Beine, die Glieder sind starr vor Schreck, es schlottern einem die Knie, in die Knie gehen, wieder auf die Beine kommen, weiche Knie bekommen, einen schweren Stand haben, auf schwachen Beinen stehen, den Boden unter den Füßen verlieren, jemandem auf die Beine helfen, das Gleichgewicht verlieren, den Halt verlieren, niedergebeugt sein, immer auf dem Sprung sein, kein Rückgrat haben, sich gerade noch aufrecht halten, vor jemandem buckeln.
Bewegungs- und Gleichgewichtsstörungen treten auch bei verschiedenen psychischen Erkrankungen auf. Depressive Patienten können motorisch stark gehemmt und völlig kraftlos sein, einen schleppenden Gang aufweisen oder körperlich total erstarrt sein.
Bei körperlicher und seelischer Energielosigkeit ist Schwindel ein häufig beklagtes Symptom.
Dieser Schwindel zeigt sich als Leere oder Nebel im Kopf, als eine Art Schleier über Wahrnehmung und Denken, als Benommenheit oder Unsicherheit beim Gehen.
Bei einer Depression mit ausgeprägten körperlichen Symptomen kann Schwindel das ständig beklagte Hauptsymptom sein.
Schwindel tritt auch im Rahmen einer Neurasthenie auf, das heißt bei einer „nervösen Erschöpfung“.
Zahlreiche Angstpatienten mit starker Verspannung haben Angst umzufallen und klagen ständig über Schwindel, sodass sich daraus oft eine Platzangst (Agoraphobie) entwickelt.
Psychosomatisch relevante Bewegungsstörungen
Funktionelle Störungen |
Dissoziative und
somatoforme Störungen: |
Organisch fundierte Störungen |
Neurologisch begründete Störungen: Epilepsie andere wie Dystonien, Myoklonien oder Multiple Sklerose |
Funktionelle Störungen
Im aktuellen Diagnoseschema sind folgende
Codierungen für nichtorganische Störungen der Bewegung vorgesehen:
Dissoziative Bewegungsstörungen
Dissoziative Gang- und Standstörungen beruhen auf einer psychisch bedingten Schwäche oder Lähmung eines oder beider Beine (seltener auf Koordinationsstörungen oder bewegungsabhängigen Schmerzen ohne Lähmung) und äußern sich in einem bizarren Gang oder in der Unfähigkeit, ohne Hilfe zu stehen oder zu gehen.
Weitere Kennzeichen sind: kraftaufwändige Bewegungsmuster und Haltungen; auffällige und übertriebene Verlangsamung des Bewegungsablaufs („Zeitlupentempo“); „Fast-Ausrutschen“ beim Gehen; kleinschrittiges, breitbeiniges, übervorsichtiges Vorwärtstasten und Gehen wie auf Eis; Rudern der Arme; plötzliche Ausfallschritte; plötzliches Einknicken im Kniebereich ohne Hinfallen; Halt-Suchen am Begleiter; kurz dauerndes Schwanken beim Gehen und Stehen; zunehmende Schwankbewegungen aus einem ursprünglich sicheren Stand beim Augenschließen und Ausstrecken der Hände und anschließende Besserung bei entsprechender Ablenkung.
Bei ungewohnten Bewegungen (z.B. Rückwärtslaufen) und im Liegen ist von all dem nichts zu bemerken, es besteht ein normaler Bewegungsablauf.
Die Störung geht oft einher mit einer psychomotorischen Ausdruckssymptomatik, z.B. bizarrer Handhaltung, Gestikulieren mit den Armen, Griff zum Bein, leidendem oder angestrengtem Gesicht, Stöhnen oder Hyperventilation.
Typisch sind auch ein stark wechselnder Verlauf sowie eine deutliche Beschwerdeminderung unter Ablenkung.
Bei dissoziativen Gang- und Standstörungen zeigt sich oft keine Besserung mehr, wenn die Symptome vor der stationären Aufnahme bereits länger als 4 Monate bestanden haben.
Konversionsstörungen weisen gewöhnlich eine rasche Remission
auf (stationär oft innerhalb von 2 bis 3 Wochen) oder sie neigen zur Chronifizierung.
Dissoziative Lähmungen können das ganze Spektrum neurologischer Schädigungen nachahmen und zeigen sich in Querschnitts-, Ganzkörper- oder Halbseitenlähmungen.
Die Lähmung kann partiell, mit schwachen oder langsamen Bewegungen oder vollständig sein. Manchmal tritt sie zusammen mit einem Zittern oder Schütteln der betroffenen Extremitäten auf.
Menschen mit
dissoziativen Lähmungen entwickeln die Symptomatik entsprechend ihren
laienhaften medizinischen Vorstellungen, haben meist normale Muskelreflexe und
keinen Muskelschwund, bewegen bei Ablenkung die angeblich gelähmten Muskeln und
haben auch im Schlaf und bei Routinetätigkeiten keine Lähmungserscheinungen.
Dissoziative
Krampfanfälle
Dissoziative Krampfanfälle sind nichtepileptische Anfälle mit plötzlichen und unerwarteten krampfartigen Bewegungen ohne Bewusstseinsverlust; die Anfälle können sich aber auch allmählich entwickeln.
Typischerweise sind EEG und Herz-Kreislauf-Werte während des Anfalls normal. Die Art der Anfälle kann recht unterschiedlich sein.
Sie können alle Ausdrucksformen zwischen „Bewegungssturm“ und „Totstellreflex“ annehmen. Wenn die Betroffenen einen dissoziativen Krampfanfall bekommen, ähnelt dieser verschiedenen Formen epileptischer Anfälle; es fehlen jedoch Kriterien wie Zungenbiss, Harnlassen, Bluterguss oder Verletzungen aufgrund eines Sturzes.
Darüber hinaus werden typischerweise schmerzhafte Stellungen während des Anfalls meistens vermieden.
Anstelle des Bewusstseinsverlusts tritt ein erstarrter oder tranceähnlicher Zustand auf.
Die Betroffenen können aber auch langsam zu Boden sinken, ohne sich zu verletzen. Sie können dabei nicht auf äußere Reize reagieren, obwohl sie nicht bewusstlos sind.
Die Anfälle ereignen sich bevorzugt vor Publikum und meist in vertrauter Umgebung, gewöhnlich tagsüber, kaum in der Nacht.
Der Verlauf ist oft szenisch-dramatisch.
Ein Anfall dauert mit durchschnittlich über zwei Minuten gewöhnlich viel länger als ein epileptischer Anfall und tritt auch häufiger auf, nicht selten mehrfach pro Tag.
Nach dem eigentlichen Anfall besteht oft noch über einen gewissen Zeitraum ein veränderter Zustand: Der Gesichtsausdruck wirkt dramatisch, die Pupillen sind erweitert, die Augen sind auf den Boden gerichtet, Lautäußerungen können vorkommen.
Dissoziative Anfälle können auch in Verbindung mit epileptischen Anfällen auftreten.
Drei Viertel der Betroffenen sind Frauen, meist im Alter
zwischen 15 und 35 Jahren, die oft daneben noch andere psychische Störungen
(Depressionen, Selbstmordgefährdung, Persönlichkeitsstörungen, somatoforme
Störungen) haben.
Sonstige
somatoforme Störungen
Psychogener Schwindel
Schwindel gehört zu den häufigsten Beschwerden des Menschen und zählt neben Kopf- und Rückenschmerzen zu den häufigsten Anlässen, warum der Arzt aufgesucht wird.
38 % der Deutschen (32 % der Männer und 44 % der Frauen) leiden unter geringem, mittlerem oder starkem Schwindel, bei 8 % ist der Schwindel krankheitswertig.
Nach Schätzungen klagen beinahe 20 % aller Patienten bei ganz unterschiedlichen Erkrankungen über Schwindel. Schwindel ist keine Krankheit, sondern ein Symptom, das viele Ursachen haben kann.
Eine organische Abklärung ist daher unbedingt nötig.
Eine umfassende Schwindelabklärung besteht in einer ohrenärztlichen, augenärztlichen, internistischen, neurologischen und psychiatrischen Begutachtung.
Der verspannungsbedingte Schwindel ist als Schwankschwindel bekannt.
Schwindel ist schlicht ein Warnzeichen, ein Hinweis auf das bedrohte Gleichgewicht.
Er mahnt zur Vorsicht und besseren Körperkontrolle, um den Organismus vor Schaden durch einen Sturz zu bewahren. Schwindel entsteht aus widersprüchlichen Sinneswahrnehmungen über die Lage des Körpers im Raum.
Das Gleichgewichtszentrum im Hirnstamm verarbeitet alle eintreffenden Informationen und löst dann einen Schwindel als Alarmsignal aus, wenn diese nicht zusammenpassen.
Beteiligt daran sind das vestibuläre System (das Gleichgewichtsorgan im Ohr), das visuelle System (die Augen) und das sensible System (die Körperwahrnehmung).
Das Wort „Schwindel“ hat eine mehrfache Bedeutung. Im angloamerikanischen Raum werden dafür auch zwei Wörter verwendet: vertigo (abgeleitet vom Lateinischen vertere = drehen) als Ausdruck für den Drehschwindel und dizziness als Bezeichnung für Benommenheit.
Neben dem drohenden Verlust des Gleichgewichts werden durch den Schwindel-Begriff also auch psychische Zustände zum Ausdruck gebracht: Angst, fassungsloses Entsetzen, Verwirrtheit, Leeregefühl im Kopf, verminderte Aufmerksamkeit und Konzentration.
Das deutsche Wort „Schwindel“ kommt vom Mittelhochdeutschen swintilon (bewusstlos werden) und bezieht sich auf das Schwinden der Sinne, die körperliche Schwäche und das Taumeln als Ausdruck der Gleichgewichtsstörung.
Die klassische Schwindelbeschwerde des Schülers in Goethes „Faust“ lautet: „Mir wird von alledem ganz dumm, als ginge mir ein Mühlrad im Kopf herum.“
Neben vielen organisch bedingten Schwindelformen kommt der psychogene Schwindel mit rund der Hälfte der Fälle zahlenmäßig viel häufiger vor, oft in Verbindung mit einer psychischen Störung wie einer Angststörung (Agoraphobie mit oder ohne Panikstörung). Angst, Depressionen, Stress und nervöse Erschöpfung („Neurasthenie“) können den Körper richtig ins Schwanken bringen, sodass einem schwindlig wird.
Warum Schwindel eng mit Angstgefühlen oder Depressionen zusammenhängt, erklärt sich aus der engen Verknüpfung der Zentren der Raumorientierung mit dem limbischen System im Gehirn, das als Sitz der Gefühle gilt.
Der Angstschwindel ist ein eher diffuser Schwindel, häufig erlebt als Benommenheit, Leere im Kopf, Ohnmachtsangst, Unsicherheit beim Gehen oder Stehen, mangelnde Standfestigkeit, Schwanken des Bodens, der Umwelt oder des eigenen Körpers, Schweben wie auf Wolken.
Die Betroffenen fühlen sich benommen und wie betrunken – schwankend, „nicht geerdet“, ohne Halt und Verankerung im Boden. Es handelt sich dabei um einen Schwankschwindel als Folge einer chronischen muskulären Verspannung – nicht um einen Schwindel in Zusammenhang mit Störungen des Blutdrucks, des Innenohrs oder der Augen.
Die Anwesenheit einer vertrauten Person, Sitzen oder Liegen bewirkt oft eine Besserung, Kopfbewegungen können dagegen die Zustände verstärken.
Viele Menschen mit Platzangst (Agoraphobie) spüren in bestimmten Situationen nicht so sehr ihre Angst und die anderen Symptome, sondern leiden subjektiv oft nur unter ihrer Schwindelsymptomatik und fürchten sich primär vor dieser.
Schwindelpatienten neigen häufig zu übertriebener und ängstlicher Selbstbeobachtung: Völlig normale Vorgänge wie feine Körperschwankungen oder unwillkürliche Kopfbewegungen werden sofort als beängstigend wahrgenommen.
Bei Menschen mit Angststörungen lassen sich zwei relativ gut abgrenzbare
Schwindel-Syndrome unterscheiden:
Ein Tremor (Zittern) ist eine rhythmische Bewegung als Folge einer starken Muskelanspannung.
Neben dem essenziellen Tremor und dem Parkinson-Tremor gibt es auch einen psychogenen Tremor.
Ein übertriebenes Zittern oder Schütteln kann bei einer oder mehreren Extremitäten oder am ganzen Körper auftreten, am häufigsten jedoch beim dominanten Arm, und besteht sowohl in Ruhe als auch bei Bewegung.
Das früher so genannte „hysterische“ Zittern trat in der Vergangenheit nicht nur bei Frauen auf, sondern z.B. auch bei vielen Soldaten des 1. Weltkriegs.
Ein psychogener Tremor ist bei folgenden Zeichen zu vermuten:
plötzlicher, meist beidseitiger Beginn, rasche und vollständige Beseitigung der Störung, zu Beginn oft maximale funktionelle Behinderung und später ein statischer oder wechselhafter Verlauf, ungewöhnliche Kombination von Ruhe- und Aktionstremorformen, Zunahme des Zitterns bei Aufmerksamkeit, Abnahme von Stärke und Häufigkeit des Zitterns bei Ablenkung, Vorhandensein anderer Konversionsstörungen wie psychogene Gangstörung, Zeichen einer „Koaktivierung“ (beim passiven Durchbewegen der Extremität erfolgt eine willkürliche Aktivierung entgegengesetzter Muskelgruppen).
Eine
muskuläre Vorspannung der Hände und Arme bereits vor dem Ergreifen und Halten
eines Glases ist ein typisches Merkmal und drückt die allgemeine Verspannung in
sozialen Situationen aus.
Somatoforme
Muskelzuckungen (psychogene Myoklonien)
Darunter versteht man unwillkürliche, plötzlich auftretende, kurz dauernde Muskelzuckungen, die von anderen wahrgenommen werden können.
Es bestehen ruckartige Bewegungen als Folge von Muskelkontraktionen oder Spannungsverlusten in einzelnen Muskelgruppen oder ganzen Arm- und Beinbereichen.
Sie können auch
im Gesicht oder Augenbereich auftreten. Bei zahlreichen Betroffenen tritt die
Symptomatik bevorzugt in Ruhe auf, nimmt bei Bewegung zu und bei Ablenkung ab.
Somatoforme
Muskelkrämpfe (psychogene Dystonien)
Es handelt sich dabei um Verkrampfungen der willkürlichen Muskulatur, die zu einer Fehlstellung etwa des Kopfes, der Schultern oder der Arme führen.
Typische Beispiele dafür sind der psychogene Schiefhals und der psychogene Schreibkrampf.
Im Gegensatz zu organischen Dystonien ist die Diagnose dann
wahrscheinlich, wenn eine Besserung bei Ablenkung oder Entspannung eintritt und
wenn gleichzeitig auch ein wechselhaftes Erscheinungsbild in Verbindung mit
anderen psychischen oder psychosomatischen Beeinträchtigungen auftritt.
Organische Störungen
Bewegungsstörungen sind Erkrankungen des zentralen Nervensystems, die entweder mit unwillkürlichen Bewegungen (Hyperkinesen) oder mit Störungen des willkürlichen Bewegungsablaufs (z.B. erschwerte Durchführung von Bewegungen, Akinese) einhergehen.
Bei neurologisch bedingten Bewegungsstörungen können wegen der für alle sichtbaren und daher als diskriminierend erlebten Bewegungsstörungen auch psychosoziale Folgeprobleme auftreten.
Die häufigste hyperkinetische Störung ist eindeutig der Tremor (Zittern), der zahlreiche organische Ursachen haben kann.
Die bekanntesten Formen sind: essenzieller Tremor, Parkinson-Tremor, dystoner Tremor (als Folge von Muskelkrämpfen) und „restless legs“ (ständige Unruhe der Beine).
Der essenzielle Tremor kommt bei 1 % der Bevölkerung typischerweise beim Halten und/oder Bewegungen vor; er ist nicht durch psychischen oder sozialen Stress verursacht, denn er kommt auch in der sicheren und entspannenden Umgebung zu Hause vor, führt aber bei 20 bis 40 % wegen der Auffälligkeit in der Öffentlichkeit zu psychosozialen Folgeproblemen wie Ängsten, Depressionen und manchmal auch Alkoholmissbrauch.
Weitere Beeinträchtigungen der Bewegung zeigen sich in Form von Myoklonus-Syndromen (Muskelzuckungen), Dystonien (Muskelkrämpfen wie etwa Schreibkrampf, Schiefhals oder Augenlidkrampf), spastischen Bewegungsstörungen und Ataxien (Störungen des geordneten Ablaufs und der Koordination von Muskelbewegungen).
Sie können auch im Rahmen bestimmter neurologischer Erkrankungen auftreten wie etwa bei Multipler Sklerose oder Chorea Huntington; gefürchtet sind vor allem auch die relativ häufigen Bewegungsstörungen nach einem Schlaganfall. Bekannt sind die zahlreichen Formen von organisch bedingtem Schwindel als Ausdruck einer Gleichgewichtsstörung.
Bei einer Epilepsie, die bei 0,5
% der Bevölkerung vorkommt (4 bis 5 % aller Menschen erleben im Laufe ihres
Lebens einen epileptischen Anfall), sind folgende psychosomatische Aspekte
bedeutsam:
Psychosomatische Konzepte
Psychologische
Faktoren
Psychische und soziale Faktoren können unseren körperlichen Halt und unsere Bewegungsfähigkeit erheblich beeinträchtigen.
Psychogene Bewegungsstörungen hängen oft mit psychosozialen Belastungssituationen, psychischem Stress und allgemeiner Überlastung zusammen.
Massive Konflikte, die der Betroffene mit sich selbst oder in seiner sozialen Umwelt austrägt, führen zu einer derartigen inneren Anspannung, dass sich diese in Form von Bewegungsstörungen äußern kann.
Menschen mit dissoziativen Krampfanfällen haben in der Kindheit oft körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlebt, die im Laufe des weiteren Lebens nicht verarbeitet wurde.
Bei rund 40 % der psychogenen Anfallspatienten findet man in der Vorgeschichte einen sexuellen Missbrauch.
Massive Vernachlässigung als Kind kann ebenfalls gegeben sein.
Bei Menschen mit Schwankschwindel zeigen sich auffällig oft Angst, Verunsicherung oder Depression.
Aktuelle oder schwelende Konflikte sowie psychosoziale Stressfaktoren (partnerschaftliche oder berufliche Konflikte, Trennungen, Verlusterlebnisse, existenzielle Erschütterungen) lösen dann in bestimmten Situationen recht unangenehme Schwindelattacken aus, die sich die Patienten anfangs überhaupt nicht erklären können.
Als Vermeidungsreaktion derartiger Schwindelzustände entwickelt sich häufig eine Agoraphobie mit der Angst umzufallen, wenn man allein unterwegs ist.
Das Hauptproblem sind jedoch nicht die agoraphobischen Situationen, sondern die aktuellen Lebensumstände, die den Betroffenen buchstäblich „den Boden unter den Füßen“ wegziehen.
Ein Schwankschwindel kommt gehäuft bei Menschen vor, die perfektionistisch sehr hohe Ansprüche an sich selbst stellen und alles im Griff haben möchten.
Ein phobischer Attackenschwindel tritt oft in Situationen auf, die als unangenehm erlebt werden oder Panikattacken auslösen können.
Im Laufe der Zeit kann sich ein Vermeidungsverhalten entwickeln: Situationen, in denen man nicht "alles unter Kontrolle" haben kann, werden immer mehr gemieden.
Epilepsien können in bestimmten Fällen durch psychosoziale Faktoren ausgelöst oder ungünstig beeinflusst werden.
Als emotionale Auslöser gelten auch Erinnerungen an traumatisierende Ereignisse oder die Vorwegnahme bevorstehender Konfliktsituationen in der Fantasie.
Eine Reihe von Erkrankungen der Wirbelsäule wie Bandscheibenvorfall, Ischias oder Hexenschuss betrifft vor allem leistungsorientierte Männer zwischen 25 und 45 Jahren.
Im Grunde sind aber all
jene Menschen gefährdet, denen der Wechsel zwischen An- und Entspannung schwer
fällt.
Therapeutische Strategien
Die Gruppe der Bewegungsstörungen umfasst derartig unterschiedliche Krankheitsbilder, dass keine allgemein gültigen Behandlungsprinzipien angeführt werden können.
Die therapeutische Vorgangsweise hängt von der Art der jeweiligen Störung ab. Wichtig ist aber immer ein mehrdimensionales Behandlungskonzept: Neben der Bewältigung der psychischen und sozialen Probleme ist in jenen Fällen mit bereits chronifizierter Symptomatik auch auf ein übungsorientiertes Vorgehen zu achten, das heißt auf gleichzeitig einsetzende physiotherapeutische, körpertherapeutische und verhaltenstherapeutisch-konfrontative Behandlungsmaßnahmen.
Bei körperlich-dissoziativen Störungen müssen unbedingt die Ursachen erkannt und beseitigt werden.
Meist handelt es sich um starke innere oder äußere Konfliktsituationen, die nicht bewältigbar erscheinen, sodass sich die Symptomatik als vorläufiger Problemlösungsversuch entwickelt hat.
Bei dissoziativen Gangstörungen und Krampfanfällen sollen die Betroffenen ihre inneren Konflikte und äußeren Belastungen bewusst wahrnehmen und bewältigen lernen.
Bei psychogenem Schwindel müssen die Betroffenen ermutigt werden, ihr Vermeidungsverhalten durch eine sukzessive Konfrontation mit allen Schwindel auslösenden Situationen zu bewältigen, um der Gefahr einer lebenseinengenden Agoraphobie zu begegnen.
Gleichzeitig müssen auch die Ursachen wie familiäre und berufliche Überlastungen oder perfektionistische Leistungsansprüche beseitigt werden.
Bei neurologisch bedingten Störungen der Bewegung geht es meist um die bessere Bewältigung der psychischen und sozialen Folgen der jeweiligen Krankheit, in bestimmten Fällen wie etwa epileptischen Anfällen oder Dystonien mit psychogener Überlagerung aber auch darum, krankheitsverstärkende Faktoren zu beseitigen; bei schubhaft verlaufenden Krankheiten wie der Multiplen Sklerose kann durch besseren Umgang mit Stress möglicherweise der nächste Schub abgefangen werden.
Bei einer Epilepsie mit psychogener Überlagerung müssen die krankheitsverschärfenden Faktoren analysiert und beseitigt werden; eine ausschließlich medikamentöse oder operative Behandlung wäre ein Kunstfehler.
Bei den so genannten „therapieresistenten Epilepsien“ sind vor
hirnchirurgischen Maßnahmen auch nichtorganische Aspekte zu bedenken und
entsprechende Behandlungsmaßnahmen zusätzlich einzuleiten.
Wenn Schmerzen den Körper plagen
Chronische Rückenschmerzen – das Kreuz mit dem Kreuz
Herr Steiner, ein 49-jähriger Elektroinstallateur, leidet seit vier Jahren
beinahe täglich unter starken Rückenschmerzen. Aufgetaucht waren sie bald nach
seinem Wechsel in die fremde Baubranche, wo er plötzlich ungewohnten
körperlichen Belastungen ausgesetzt war. Dennoch bleibt er seinem neuen Beruf
treu, weil er hier zumindest nicht mehr so viel Angst vor einer Kündigung haben
muss wie bei seinem früheren Arbeitgeber. Bei einer umfassenden körperlichen
Untersuchung wird zwar eine leichte degenerative Veränderung der Wirbelsäule
festgestellt – zu leicht aber als Rechtfertigung für die zahlreichen
Krankenstände, die Herr Steiner wegen seiner Schmerzen seit einiger Zeit in
Anspruch nimmt. Aber nicht genug: Herr Steiner überträgt sein übertriebenes
Schonverhalten auch auf den Freizeitbereich, um die gefürchteten Schmerzen zu
vermeiden. Der ehemals sehr sportliche Mann hat seine zahlreichen
Freizeitaktivitäten und seine umfangreichen Sozialkontakte fast völlig
aufgegeben und lässt sich von seiner Frau betreuen, als wäre er schwer
behindert. Hinzu kommt ein regelrechter Schmerzmittelmissbrauch, vor allem auch
von opiathaltigen Präparaten, kombiniert mit starken Schlafmitteln, da er sonst
nicht ein- und durchschlafen könnte. Seine Frau wird erst aufgeschreckt, als er
sechs Monate lang wegen seiner Schmerzen nicht mehr zur Arbeit geht, in der
Folge davon gekündigt wird, ein Kuraufenthalt erfolglos bleibt und ein
Rentenantrag wegen Arbeitsunfähigkeit abgelehnt wird. Herr Steiner wird in
Folge schwer depressiv, was die Schmerzen in bisher nicht gekanntem Ausmaß
verstärkt. Er erhält von seinem Hausarzt ein Antidepressivum und die
Empfehlung, eine psychosomatische Klinik aufzusuchen.
„Das schmerzt mich sehr“: Schmerzen und Psyche
Akute Schmerzen sind ein kaum ignorierbares Warnsignal, dass mit unserem Körper vorübergehend oder dauerhaft etwas nicht in Ordnung ist.
Der Schmerz ist ein ungeliebter, aber unbedingt erforderlicher Bote. Ohne Schmerzwahrnehmung wäre der Körper ständig lebensgefährlich bedroht.
Das Schmerzempfinden entsteht durch die Erregung bestimmter schmerzleitender Nervenbahnen, die zur sinnlichen Erfahrung des Schmerzes führen.
Das Schmerzerleben kann, muss aber nicht mit einer organischen Ursache (Gewebeschädigung) verbunden sein. Schmerzen können Ausdruck einer organisch bedingten Störung, einer seelischen Kränkung oder einer sozialen Beziehungsstörung sein.
In der Fachwelt gilt folgende Schmerzdefinition: Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potenzieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird.
Schmerz ist demnach nicht einfach nur ein bloßes Sinnesphänomen oder eine reine Reizwahrnehmung, sondern weist auch eine gefühlsmäßige Komponente auf.
Diese Definition berücksichtigt bewusst auch Schmerzen ohne organische Ursachen.
Die früher übliche Unterscheidung in organisch bedingte und „psychogene“ Schmerzen wurde von den Fachleuten zugunsten eines multidimensionalen Schmerzkonzepts aufgegeben, weil Schmerzen immer eine körperliche und eine psychische Komponente haben, sie ist aber in der klinischen Praxis noch häufig anzutreffen.
Man unterscheidet zwischen akuten und chronischen Schmerzen.
Akute Schmerzen dauern gewöhnlich nur relativ kurz an (Sekunden bis maximal Wochen). Sie haben eine Signal- und Warnfunktion, indem sie den Körper auf eine drohende oder bereits eingetretene Gewebeschädigung hinweisen und den Organismus vor weiteren Schäden schützen. Die Schmerzen sind in der Regel auf den Ort der Schädigung begrenzt, sodass der Arzt aus der Lokalisation und der Qualität des Schmerzes auf die zugrunde liegende Ursache schließen kann. Das Schmerzausmaß steht gewöhnlich in direktem Zusammenhang mit der Intensität des auslösenden Reizes (oft ist dieser Zusammenhang jedoch gar nicht so eng). Die Beseitigung der Ursache führt meist zur Erholung des Körpers und zum Verschwinden der Schmerzen.
Chronische Schmerzen sind Schmerzzustände, die – je nach Definition – drei bzw. sechs Monate nach Beginn einer akuten Schmerzepisode noch immer andauern (z.B. Rückenschmerzen, rheumatische Schmerzen) oder immer wiederkehren (z.B. Migräne und Spannungskopfschmerzen). Menschen mit chronischen Schmerzen werden oft nur unzureichend behandelt; ihr Krankheitsverhalten ist stark schmerzbezogen, und sie klagen häufig über psychische, soziale und berufliche Beeinträchtigungen (Leistungsminderung, Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit, Funktionsbehinderungen der Feinmotorik). Oft weisen sie auch eine reaktiv-depressive Symptomatik auf, die wiederum das Schmerzerleben verstärkt. Die Schmerzen sind umso chronischer, je mehr sie das Erleben und Verhalten des Betroffenen bestimmen. Im Gegensatz zu akuten Schmerzen besteht häufig kein eindeutiger und enger Zusammenhang zwischen der Gewebe- oder Organschädigung und der erlebten Schmerzintensität. Die Ursache des Schmerzes liegt weniger am Ort des Schmerzes als vielmehr im Gehirn, wo der Schmerz verarbeitet wird und sich eine Eigendynamik entwickelt hat. Bei chronischen Schmerzen ist der Schutz- und Warncharakter der Symptomatik verloren gegangen. Es entwickelt sich im Laufe der Zeit ein eigenständiges Krankheitssyndrom, abgekoppelt von spezifischen organischen Ursachen oder Auslösern, die meist gar nicht mehr eruierbar sind. Beim Übergang von einer akuten zu einer chronischen Symptomatik sind Lernprozesse wirksam, die zur Verstärkung der Krankenrolle führen. Bei der Behandlung chronischer Schmerzen steht daher nicht mehr die Beseitigung der Schmerzursache, sondern die Veränderung des Schmerzerlebens im Sinn eines anderen Umgangs mit den Schmerzen im Vordergrund.
Chronische Schmerzen werden durch krankhafte Veränderungen der Schmerzverarbeitung im Nervensystem verursacht oder verstärkt.
Zum Verständnis
chronischer Schmerzen muss man drei Körpersysteme beachten:
Zum Verständnis chronischer Schmerzen ist auch der Begriff des Schmerzgedächtnisses von zentraler Bedeutung.
Das Schmerzgedächtnis ist ein wesentlicher Faktor für die Entstehung einer Schmerzstörung.
Menschen mit häufigen Schmerzen werden im Laufe der Zeit dem Schmerz gegenüber nicht unsensibler, sondern reagieren im Gegenteil immer empfindlicher auf Schmerzen.
Wiederholte starke Schmerzreize können die Übertragung von Schmerzinformationen vom peripheren auf das Zentralnervensystem anhaltend verstärken.
Die ständige Wiederholung starker Schmerzsignale verändert dauerhaft die Funktion und den Aufbau ganz bestimmter Nervenzellen im Rückenmark.
Diese werden nach einer länger dauernden Übererregung überempfindlich und reagieren bereits auf schwache Impulse in Schmerzfasern mit starken Erregungen; sie erinnern sich an die früheren akuten Schmerzreize und erzeugen ständig Schmerzsignale, ohne dass ein Auslöser dafür vorliegt.
Als Folge davon werden selbst leichte Reize (z. B. Berührung, Wärme oder Dehnung) plötzlich als Schmerz empfunden.
Dieser Lernvorgang ist die Grundlage des Schmerzgedächtnisses.
Allein die Vorstellung von Schmerzen kann schon zu neuerlichen Schmerzen führen.
Vor allem postoperative Schmerzen hinterlassen ausgeprägte Spuren.
Unzureichend behandelte bzw. behandelbare Schmerzen hinterlassen ebenfalls Gedächtnisspuren im Zentralnervensystem, die die Schmerzempfindlichkeit erhöhen.
Ein weiterer Faktor zur Chronifizierung von Schmerzen ist Angst, die von einem bestimmten Gehirnbereich (Mandelkern) gesteuert wird.
Durch diese Angst prägt sich jede neue Schmerzempfindung besonders tief in das Gehirn ein.
Über das Schmerzgedächtnis wird dann bei jeder neuen Schmerzattacke auch die damit verbundene Angst erinnert. So entsteht ein verhängnisvoller Angst-Schmerz-Teufelskreis.
Wenn sich das Schmerzgedächtnis einmal entwickelt hat, kann es mit den derzeit vorhandenen Medikamenten nicht gelöscht werden.
Doch für die Zukunft besteht Hoffnung: Auf der Basis der neuen neurobiologischen Konzepte über das Schmerzgedächtnis können vielleicht einmal wirksamere Medikamente zur Behandlung chronischer Schmerzen entwickelt werden.
Man kann vier Komponenten des
Schmerzes unterscheiden:
Nach einer anderen
Einteilung kann man den Schmerz ebenfalls auf vier Ebenen beschreiben:
Schmerzen gehören zu den häufigsten körperlichen Beschwerden: 60 bis 80 % der Bevölkerung haben im Laufe eines Jahres einmal oder mehrmals Schmerzen unterschiedlichen Schweregrades.
Chronische Schmerzen stellen ein völlig unterschätztes Problem dar und finden nicht jene Beachtung, die aufgrund der weltweiten Verbreitung nötig wäre.
Nach einer weltweiten Untersuchung klagen durchschnittlich 22 % der Hausarzt-Patienten über chronische Schmerzen, wobei die Werte je nach Land unterschiedlich sind.
Nach einer umfangreichen Erhebung in 16 europäischen Ländern leidet knapp jeder fünfte Erwachsene (19%) unter chronischen Schmerzen, im Durchschnitt seit sieben Jahren.
In Deutschland trifft dies auf 17 %, in Österreich auf 21 % und in der Schweiz auf 16 % zu.
Immer mehr Beachtung wird in der Schmerzbehandlung den psychologischen Komponenten geschenkt: Nach eher konservativen Schätzungen von Fachleuten dürften bei rund 40 % der Patienten psychologische Faktoren bei der Entstehung, Auslösung und Aufrechterhaltung der Schmerzen eine bedeutsame Rolle spielen.
Schmerzen wurden in den letzten Jahrhunderten als Begleiterscheinung körperlicher Erkrankungen angesehen und nicht als eigenständiges Krankheitsbild.
Seit den 60er Jahren werden Schmerzen in der Folge einiger bahnbrechender Arbeiten zur Schmerzverarbeitung in den USA immer stärker als eigenständiges Phänomen betrachtet, intensiver untersucht und erforscht.
Der Begriff der „Schmerzstörung“ in den modernen Diagnoseschemata trägt dieser Entwicklung Rechnung.
Von einer Schmerzstörung spricht man dann, wenn der Schmerz vom Symptom zur Krankheit geworden ist, das heißt seine Warnfunktion verloren und sich verselbstständigt hat.
Alle Schmerzen entstehen letztendlich im Kopf, nämlich erst nach der Verarbeitung der Schmerzimpulse durch unser Gehirn.
Diese Sichtweise ist die Basis der modernen psychologischen Schmerzbewältigungstherapie, wo es darum geht, das Schmerzerleben modifizieren zu lernen.
Zahlreiche Redewendungen zu den verschiedenen Organbereichen verdeutlichen den engen Körper-Seele-Zusammenhang bei schmerzhaften Verspannungen.
Kopf: etwas bereitet mir Kopfschmerzen, mir raucht oder dröhnt der Kopf, mir brummt der Schädel, ich zerbreche mir den Kopf, ich habe den Kopf zum Bersten voll.
Rücken: sein Kreuz tragen, alles wird auf meinem Rücken ausgetragen, vom Schicksal oder vor Gram gebeugt sein.
Nacken: die Angst im Nacken, den Nacken steif halten.
Verspannungsbedingte Schmerzen kommen auch bei verschiedenen psychischen Störungen vor, insbesondere bei Menschen mit Depressionen und generalisierten Angststörungen.
Die Betroffenen klagen oft über Verspannungen im Schulter- und Armbereich sowie über Nacken-, Kreuz-, Gelenk- und Muskelschmerzen.
Viele psychosomatisch relevante Schmerzen wurden bereits bei den verschiedenen Organbereichen beschrieben, z.B. chronische Magen- oder Darmschmerzen, Enddarmschmerzen, Schmerzen beim Harnlassen und Stuhlgang, Kieferschmerzen oder schmerzhafte Menstruation und chronische Unterleibsschmerzen bei Frauen.
Psychosomatisch relevante Schmerzstörungen
Funktionelle Störungen |
Anhaltende somatoforme
Schmerzstörung
|
Organisch fundierte Störungen |
Kopfschmerzen
(Spannungskopfschmerzen, Migräne) Fibromyalgie Tumorschmerzen |
Funktionelle Störungen
Anhaltende
somatoforme Schmerzstörung
Im aktuellen
Diagnoseschema werden die früher als „psychogene Schmerzen“ (Psychalgie)
bezeichneten nichtorganisch bedingten Schmerzen als anhaltende somatoforme
Schmerzstörung ausgewiesen und folgendermaßen charakterisiert:
Die Störung neigt zur Chronifizierung, wenn keine Behandlung im Sinne des biopsychosozialen Krankheitsverständnisses erfolgt, weshalb möglichst rasch nach der organmedizinischen Abklärung eine Intervention im Rahmen eines multiprofessionellen Behandlungsansatzes erfolgen sollte.
Die mögliche Schwierigkeit dabei ist: Die Betroffenen haben sich oft sehr lange Zeit mangels besseren Wissens an ein organmedizinisch orientiertes Erklärungsmodell geklammert, das anfangs oft auch von Ärzten durch bestimmte Diagnosen und Behandlungsversuche unterstützt wurde, weshalb sie weiterhin dementsprechende medizinische Hilfestellungen erwarten („Ich hab’s im Körper und nicht im Kopf, ich bin ja nicht verrückt.“).
Schmerzen kommen häufig auch bei anderen somatoformen Störungen wie der Somatisierungsstörung und der somatoformen autonomen Funktionsstörung (z.B. bei einer Reizdarmsymptomatik) vor, diese sind jedoch im Vergleich zu den anderen Symptomen nicht so anhaltend und vorrangig wie bei einer somatoformen Schmerzstörung.
Eine Schmerzstörung tritt oft auch zusammen mit anderen psychischen Störungen auf (Depressionen, Angststörungen, Schlafstörungen). Depressive haben ein vierfach erhöhtes Risiko für Nacken- und Rückenbeschwerden; bereits bestehende Schmerzen werden durch eine Depression verstärkt.
Chronische Schmerzen stehen häufig in Verbindung mit Depressionen, akute Schmerzen dagegen eher mit Angststörungen.
Viele Patienten mit einer somatoformen Schmerzstörung weisen in der Vorgeschichte oft auch verschiedene funktionelle Beschwerden auf, z.B. Magen-Darm-Beschwerden, herz- und atmungsbezogene Symptome. Bei Hausärzten wird der Anteil an somatoformen Schmerzpatienten auf 5 bis 7 % geschätzt.
Die Analyse der Lebensgeschichte (biographische Anamnese) ist das wichtigste Mittel zum Nachweis einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung und ermöglicht in vielen Fällen eine Abgrenzung zu primär organisch bedingten Schmerzen.
Viele Betroffene haben im Laufe ihres Lebens körperliche und/oder sexuelle Gewalt oder fundamentale Vernachlässigung als Kind erlebt.
Bei Frauen mit sexuellen Missbrauchserfahrungen in der Kindheit ist die Schmerzschwelle herabgesetzt, sodass oft anhaltende Schmerzen im Unterleib auftreten.
Nachgewiesene biographische Belastungsfaktoren wie Krisensituationen (z.B. Verlusterlebnisse durch Trennung oder Tod), chronischer Stress oder berufliche, partnerschaftliche oder familiäre Probleme ermöglichen in 80 bis 90 % der Fälle eine Abgrenzung zu primär organisch bedingten Schmerzstörungen, wenngleich stets auch eine umfassende organische Untersuchung erforderlich ist.
Häufig können Paar- und Familiengespräche den klinischen Eindruck und damit die Diagnose absichern.
Ein Punkt wird in der Praxis oft zu wenig bedacht: Bei der Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung muss zwischen den auslösenden emotionalen und psychosozialen Stressfaktoren und den erst sekundär durch den Krankheitsverlauf entstandenen psychischen Problemen unterschieden werden!
Menschen
mit einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung unterscheiden sich von Patienten
mit organisch bedingten Schmerzen gewöhnlich in folgender Weise:
Somatoforme Schmerzsyndrome sind weniger durch typische Symptommuster charakterisiert als vielmehr durch eine bestimmte Erlebnisverarbeitung körperlicher Vorgänge („Leiden“) und durch ein ungünstiges Krankheitsverhalten der Betroffenen („abnormes Krankheitsverhalten“).
Bei einer psychologischen oder psychotherapeutischen Intervention sollten daher stärker die psychosozialen Beeinträchtigungen als die Symptomintensität oder die diagnostische Zuordnung im Vordergrund stehen.
Bei einer Schmerzstörung ergeben sich typische Folgeprobleme:
Fernbleiben von der Arbeit bzw. Schule, lange Krankenstandszeiten, Arbeitslosigkeit, Frühpensionierung, übermäßiger Medikamentenkonsum, Missbrauch von Tranquilizern oder Schmerzmitteln, häufige Inanspruchnahme medizinischer Einrichtungen, sozialer Rückzug, Partnerprobleme, Einschränkungen der Freizeitaktivitäten bis hin zur völligen Inaktivität, Reduktion jeder körperlichen Betätigung, depressive Zustände, hohe Kosten durch schul- oder alternativmedizinische Maßnahmen in der Hoffnung auf völlige Beseitigung der Schmerzen.
Als Folge der Schmerzen erhalten die Betroffenen oft auch eine intensive persönliche oder medizinische Betreuung oder Zuwendung. Dies wird auch „sekundärer Krankheitsgewinn“ genannt.
Schmerzstörungen können zwar bei jeder Altersgruppe auftreten, finden sich jedoch besonders häufig im 4. und 5. Lebensjahrzehnt.
Ausgeprägte geschlechtsspezifische Unterschiede sind nicht bekannt. Bestimmte Faktoren ergeben bei einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung oft einen ungünstigen Verlauf: Arbeitslosigkeit zu Beginn der Schmerzbehandlung, laufende oder abgeschlossene Anträge auf eine Berufsunfähigkeitspension, Entschädigungsverfahren, jahrelanger chronischer Schmerzverlauf vor Therapiebeginn, Tendenz zur Somatisierung, psychiatrische Zusatzdiagnosen (z.B. Depression).
Als typische somatoforme Schmerzstörungen gelten folgende anhaltende
Beschwerden:
Organische Störungen
Primär organisch bedingte Schmerzstörungen mit psychosomatischer Relevanz sind nach dem gültigen Diagnoseschema mit einer Doppeldiagnose zu versehen und zwar mit der Bezeichnung der organischen Störung und der Zweitdiagnose „Psychologische Faktoren und Verhaltenseinflüsse bei (z.B. Migräne, Lumboischialgie oder Kreuzschmerz)“.
In der klinischen Praxis werden viele Schmerzstörungen mit vorwiegend organischen Ursachen dennoch als „anhaltende somatoforme Schmerzstörung“ diagnostiziert, weil zum einen die organischen Faktoren eben nicht ausreichen, das Beschwerdebild vollständig zu erklären und weil zum anderen das Wort „Schmerzstörung“ leider in keiner anderen diagnostischen Kategorie aufscheint.
Das Konzept der Schmerzstörung im relativ neuen internationalen Diagnoseschema ist leider zu undifferenziert und bereits veraltet, denn es beruht auf der längst überholten Unterscheidung von rein psychischen und rein organischen Schmerzen.