Dr. Hans Morschitzky

Klinischer und Gesundheitspsychologe

Psychotherapeut

Verhaltenstherapie und Systemische Familientherapie

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Posttraumatische Belastungsstörung – Ein Trauma bewirkt bleibende Angstzustände

 

 

Historische Aspekte der posttraumatischen Belastungsstörung

 

Über die Folgen traumatischer Erlebnisse (Kriegserfahrungen, Feuersbrunst u.a.) wurde seit der Antike immer wieder berichtet, z.B. beschrieb ein Zeuge des Londoner Großbrandes im Jahr 1666 sechs Monate später seine seit diesem Ereignis bestehende Schlafstörung mit nächtlichem Erwachen in Verbindung mit der Angst, neuerlich Opfer des Feuers zu werden.

Nach dem deutschen Psychiater Kraepelin, der 1899 verschiedene Symptome unter der Bezeichnung „Schreckneurose“ darstellte, handelt es sich dabei  

„um ein aus mannigfaltigen nervösen und psychischen Erscheinungen zusammengesetztes Krankheitsbild, welches sich in Folge von heftigen Gemüthserschütterungen, plötzlichem Schreck, großer Angst ausbildet und daher nach schweren Unfällen und Verletzungen, besonders nach Feuersbrünsten, Explosionen, Entgleisungen oder Zusammenstößen auf der Eisenbahn u. dergl. beobachtet wird.“

 

Bis in die 70er-Jahre wurden berufsunfähig gewordene Menschen mit traumatischen Erlebnissen als Rentenneurotiker abqualifiziert. Es wurde ihnen eine die Echtheit der berichteten Symptome abgesprochen und eine Simulationstendenz mit dem Wunsch nach finanzieller Entschädigung unterstellt („Kompensationsneurose“). 

Die bekanntesten historischen Vorläufer der posttraumatischen Belastungsstörung sind die „Unfallneurose“ als psychische Störung nach schweren Belastungen (z.B. nach den ersten Eisenbahnunfällen im 19. Jahrhundert) und die „Kriegsneurose“ („Frontneurose“, „Gefechtsneurose“, „Schützengrabenneurose“, „Granatenschock“) bei Teilnehmern am 1. oder 2. Weltkrieg. Die Erforschung psychischer Störungen infolge traumatischer Kriegs- oder Internierungserlebnisse erlahmte jeweils kurz nach den beiden Weltkriegen, obwohl dabei interessante Erkenntnisse gewonnen wurden.

Bei zurückgekehrten Kriegsteilnehmern wurde 1945 in den USA eine Gefechtsneurose mit folgenden Symptomen diagnostiziert: innere Unruhe, Aggressionen, Depressionen, Gedächtnisstörungen, Überaktivität des sympathischen Nervensystems, Konzentrationsstörungen, Alkoholismus, Alpträume, Phobien und Misstrauen.

In den 50er- und 60er-Jahren wurden die psychischen Folgen von Natur- und Industriekatastrophen (Brandkatastrophen, Gasexplosionen, Erdbeben, Tornados u.a.) zu erforschen begonnen. Seit den 70-er Jahren widmete man sich in den USA intensiv der Untersuchung von Opfern sexueller und nichtsexueller Gewalt.

Die Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung (engl. „posttraumatic stress disorder“) ergab sich aus den Untersuchungen an Vietnam-Kriegsteilnehmern in den USA. Sie wurde 1980 in das amerikanische Diagnoseschema DSM-III aufgenommen, u.a. auf Betreiben des Psychoanalytikers Horowitz. Die Störung findet sich auch im ICD-10 unter den „Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen“. „Posttraumatisch“ bezeichnet den Zustand nach einer schweren seelischen Verwundung („post“ = „danach“, „trauma“ = „seelische Verwundung“).

Im Laufe der Erforschung dieser Störung wurde klar, dass die psychischen Syndrome, an denen die Opfer von Vergewaltigungen, häuslicher Gewalt und Inzest litten, den Syndromen der Kriegsopfer entsprachen. Besonderen Anteil an dieser Entwicklung hatte der erstarkende Feminismus in den USA in den 70-er Jahren.

Herman stellt in ihrem lesenswerten Buch „Die Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden“, das den Stand der Forschung und der Therapie mit Opfern häuslicher, sexueller und politischer Gewalt zusammenfasst, lapidar fest: „Weibliche Hysterie und männliche Kriegsneurose sind das gleiche.“

Sigmund Freud hatte bereits vor über 100 Jahren panikartige Symptome als Folge von frühkindlichem sexuellen Missbrauch und diesen wiederum als Ursache für die „Hysterie“ beschrieben, musste seine Feststellungen über einen real weit verbreiteten sexuellen Missbrauch innerhalb der Familie jedoch unter dem Druck der empörten Öffentlichkeit widerrufen und die realen traumatisierenden Erfahrungen zu sexuellen Wunschphantasien seiner „hysterischen“ Patientinnen erklären.

Die panikartigen Anfälle wie bei der 18-jährigen, vom Vater sexuell belästigten Katharina, deren Fall in den 1895 erschienenen „Studien zur Hysterie“ dargestellt ist, verstand Freud als typische angsthysterische Anfälle in Reaktion auf das erinnerte Trauma. 1896 veröffentlichte Freud 18 Fallstudien unter dem Titel „Zur Ätiologie der Hysterie“, wo er feststellte:  

„Ich stelle also die Behauptung auf, zugrunde jedes Falles von Hysterie befinden sich - durch die analytische Arbeit reproduzierbar, trotz des Dezennien umfassenden Zeitintervalls - ein oder mehrere Erlebnisse von vorzeitiger sexueller Erfahrung, die der frühesten Jugend angehören. Ich halte dies für eine wichtige Enthüllung...“  

Bereits ein Jahr später verwarf Freud insgeheim die Theorie vom Trauma als Ursache der Hysterie, wie aus seinen Briefen hervorgeht. Er war zu sehr beunruhigt über die Folgen seiner Erkenntnisse. Wenn seine Patientinnen die Wahrheit gesagt hatten und seine ursprüngliche Theorie stimmte, dann war aufgrund der Häufigkeit der „Hysterie“ auch die Häufigkeit von sexuellem Missbrauch als weit verbreitet anzusehen. Freuds Patientinnen stammten aus geachteten bürgerlichen Familien Wiens, und dort durften derartige Ereignisse einfach nicht vorkommen. Es kann nicht sein, was nicht sein darf.

Herman beschreibt den Standpunktwechsel von Freud folgendermaßen:  

„Aus den Trümmern seiner Theorie zur Entstehung der Hysterie durch frühe Traumatisierung schuf Freud die Psychoanalyse. Die maßgebliche psychologische Theorie des 20. Jahrhunderts basiert auf der Leugnung weiblicher Realität. Die Sexualität stand weiterhin im Mittelpunkt des Forschungsinteresses, doch das ausbeuterische soziale Umfeld, in dem sexuelle Beziehungen letztlich stattfinden, verschwand völlig aus dem Gesichtsfeld. Die Psychoanalyse beschäftigte sich von nun an mit dem inneren Wandel der Phantasien und Sehnsüchte, losgelöst von den realen Erfahrungen. Im Jahr 1910 war Freud dann zu dem Schluß gekommen, dass die Berichte seiner hysterischen Patientinnen über sexuellen Missbrauch in der Kindheit nicht der Wahrheit entsprachen, obwohl er nie eine klinische Dokumentation falscher Anklagen vorlegte: ‘Als ich dann doch erkennen musste, diese Verführungsszenen seien niemals vorgefallen, seien nur Phantasien, die meine Patienten erdichtet, die ich ihnen vielleicht selbst aufgedrängt hatte, war ich eine Zeitlang ratlos.’ “  

1920 sah Freud in „Jenseits des Lustprinzips“ eine traumatische Situation dann als gegeben an, wenn von außen so starke Erregungen auf das Ich einstürzen, dass der Reizschild durchbrochen werde. Das Ich werde dabei von Außenreizen überschwemmt und die bisher erreichte Anpassung werde massiv gestört. Der Betroffene versuche die Problematik durch die Regression zu einem früheren Abwehrmechanismus zu bewältigen, nämlich durch die zwanghafte Wiederholung der traumatischen Situation.  

 

Symptomatik der posttraumatischen Belastungsstörung

 

Bei der posttraumatischen Belastungsstörung handelt es sich nach dem ICD-10 um eine verzögerte (protrahierte) Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes (kurz oder lang anhaltend), die bei fast jedem Menschen eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Die Betroffenen haben die Erfahrung von Todesbedrohung, Lebensgefahr oder starker Körperverletzung gemacht bzw. die Bedrohung der eigenen körperlichen Unversehrtheit oder einer anderen Person erlebt. Bei Kindern sind aufgrund des Entwicklungsstandes unangemessene sexuelle Erfahrungen inbegriffen.

Die frühere Annahme, dass die Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung nur bei Personen mit bereits prämorbider psychischer Auffälligkeit (z.B. mit emotionaler Labilität, neurotischen, affektiven oder schizophrenen Beeinträchtigungen) vorkommt, gilt allgemein als widerlegt, wenngleich die Ausprägung der Beeinträchtigung dadurch verschärft werden kann. Es besteht heute ein Konsens darüber, dass die Störung auch bei früher psychisch stabilen Personen auftreten kann, wenn sie außergewöhnlich belastenden Situationen ausgesetzt sind.

 Die Störung und dessen Ausmaß wird nicht allein durch das Trauma an sich definiert, sondern vielmehr auch durch die subjektive Reaktion darauf, die auf die unzureichende Verarbeitungsfähigkeit hinweist (z.B. intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen, bei Kindern oft chaotisches oder agitiertes Verhalten).

 Traumatisierend wirkt nicht nur die Bedrohung der körperlichen Integrität, sondern auch die Bedrohung der fundamental menschlichen Erfahrung, eine autonom handelnde und denkende Person zu sein. Das Sich-Aufgeben und der Verlust jeglicher Autonomie in der Zeit der traumatischen Erfahrung stellen nach neueren Erkenntnissen an vergewaltigten oder inhaftierten Menschen – unabhängig von der Lebensbedrohung – verschärfende Belastungsfaktoren dar, was zukünftig stärker berücksichtigt werden sollte.

Die Störung entwickelt sich charakteristischerweise nicht sofort nach dem traumatischen Erlebnis, wie dies bei einer akuten Belastungsreaktion oder einer Anpassungsstörung der Fall ist, sondern erst Wochen bis Monate später, doch selten später als 6 Monate nach dem Trauma.

Das wesentlichste Merkmal stellt das ungewollte Wiedererleben von Aspekten des Traumas dar. Es treten dieselben sinnlichen Eindrücke (z.B. bestimmte Bilder, Geräusche, Geschmacksempfindungen, Körperwahrnehmungen) sowie gefühlsmäßigen und körperlichen Reaktionsweisen auf wie zum Zeitpunkt der traumatischen Erfahrung.

Alles, was an das Trauma erinnert, wird als sehr belastend erlebt und deshalb gemieden. Bestimmte Gedanken, Bilder und Erinnerungen werden unterdrückt und verschiedene Situationen des Alltagslebens vermieden.

Die emotionale Befindlichkeit kann von Patient zu Patient sehr verschieden sein, ist jedoch gewöhnlich charakterisiert durch eine Mischung von panischer Angst, großer Traurigkeit, intensivem Ärger, emotionaler Taubheit und starken Schuldgefühlen, Selbstvorwürfen und Schamgefühlen. Es besteht eine ausgeprägte emotionale, kognitive und psychovegetative Übererregbarkeit.

Eine posttraumatische Belastungsstörung ist nach den neuen Diagnoseschemata durch drei zentrale Symptomgruppen charakterisiert:

1.  intrusives (aufdringliches) Wiedererleben,

2.  Vermeidung traumarelevanter Reize bzw. reduzierte emotionale Reagibilität,

3.  Übererregtheit (körperlich, emotional, kognitiv).

 

Nach den Forschungskriterien des ICD-10 ist eine posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) folgendermaßen definiert:

 

A.  Die Betroffenen sind einem kurz oder lang dauernden Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das nahezu bei jedem tief greifende Verzweiflung auslösen würde.

 

B.  Anhaltende Erinnerungen oder Wiedererleben der Belastung durch aufdringliche Nachhallerinnerungen (Flashbacks), lebendige Erinnerungen, sich wiederholende Träume oder durch innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen.

 

C.      Umstände, die der Belastung ähneln oder mit ihr im Zusammenhang stehen, werden tatsächlich oder möglichst vermieden. Dieses Verhalten bestand nicht vor dem belastenden Erlebnis.

 

D.      Entweder 1. oder 2.

 

1.   Teilweise oder vollständige Unfähigkeit, einige wichtige Aspekte der Belastung zu erinnern.

2.   Anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung (nicht vorhanden vor der Belastung) mit zwei der folgenden Merkmale:

 

a.    Ein- und Durchschlafstörungen

b.    Reizbarkeit oder Wutausbrüche

c.    Konzentrationsschwierigkeiten

d.    Hypervigilanz

e.    erhöhte Schreckhaftigkeit

 

E.   Die Kriterien B, C und D. treten innerhalb von sechs Monaten nach dem Belastungsereignis oder nach Ende einer Belastungsperiode auf. (In einigen speziellen Fällen kann ein späterer Beginn berücksichtigt werden, dies sollte aber gesondert angegeben werden).

  

Man kann folgende Arten traumatischer Erfahrungen unterscheiden:

Individuelle Gewalt: ständige körperliche Misshandlung als Kind, einmalige oder mehrfache Vergewaltigung, als Kind ständiger Zeuge von Gewalt in der Familie, Verbrechen wie z.B. Banküberfall, Entführung, Geiselhaft, versuchter Raubmord, Körperverletzung, Misshandlung, Folterung, angedrohte Ermordung.

Kollektive Gewalt: Erfahrung von Krieg, Kampfhandlungen oder Terrorismus, Kriegsverwundung (Abschuss als Pilot, Explosion einer Granate), Aufenthalt im Luftschutzkeller bei Fliegeralarm, gewaltsame Entwurzelung (Verschleppung, Verfolgung, Vertreibung), unmenschliche Haftbedingungen (Konzentrationslager, politisch motivierte Haft), Aussteiger aus Sekten.

Naturkatastrophen: Großbrand, Blitzschlag, Überschwemmung, Dammbruch, Bergrutsch, Lawinenunglück, Erdbeben, Vulkanausbruch, Tornados.

Technikkatastrophen: Zeuge oder Beteiligter an einem schweren Autounfall, Eisenbahn-, Schiffs- oder Flugzeugunglück, Explosion, Arbeitsunfall, Chemieunfall.

Körperliche oder psychische Extrembelastungen: Giftgasunfall, schwere Verbrennungen oder Schmerzzustände, Gehirnblutung, überlebter Herzstillstand, schwerer allergischer Schock, Knochenmarkstransplantation, lebensbedrohliche Erkrankung.

 

Nach der Auftretenshäufigkeit kann man zwei Arten von Traumata unterscheiden:

1.    Einmalige traumatische Erfahrung: Überfall, Vergewaltigung, Unfall.

2.    Lange andauernde bzw. wiederholte traumatische Erfahrung: Krieg, jahrelanger sexueller Missbrauch, andauernde körperliche Misshandlung.

 

Menschen, die nicht nur ein seelisches Trauma erlitten haben, sondern auch körperlich verletzt wurden, erleben 5 mal so häufig eine posttraumatische Belastungsstörung wie Menschen, die „nur“ ein seelisches Trauma erlebt haben. In den USA sind traumatische Erfahrungen in folgender Häufigkeit anzutreffen:

 

Die Auswirkungen traumatischer Erfahrungen lassen sich über die offizielle Diagnostik hinausgehend folgendermaßen zusammenfassen:

 

Bei der posttraumatischen Belastungsstörung reichen Schrecken und Terror bis in die neuronalen Gehirnstrukturen hinein und bilden ein schwer löschbares „molekulares Angstgedächtnis“, dessen Grundlage nach Strian in mediobasalen Schläfenlappenstrukturen (Hippocampus und Amygdala) zu suchen ist. Diese Hirnregionen üben eine Kontrolle über die vegetativen und endokrinen Zentren von Hypothalamus und Hypophyse aus, was die oft nur mangelhafte Veränderbarkeit posttraumatischer Belastungsstörungen durch Pharmako- oder Psychotherapie erklärt.

Lerntheoretisch ausgedrückt, kommt es bei einer posttraumatischen Belastungsstörung trotz häufiger Konfrontation zu keiner Gewöhnung (Habituation). Erfolgreiche verhaltenstherapeutische Behandlungskonzepte bewirken während der angstaktivierenden Konfrontation mit den Ereignissen eine Neuformierung der Erinnerung durch Hinzufügung hilfreicher Elemente, z.B. andere Sichtweisen.

Die Betroffenen erhielten bislang meist eine Diagnose, die mit den Folgen dieser Störung zusammenhängt (z.B. reaktive Depression, Alkoholmissbrauch, Verhaltensstörung, dissoziative Störung). Die posttraumatische Belastungsstörung erfährt seit einigen Jahren auch im deutschen Sprachraum zunehmende Beachtung.

Neben dem bereits erwähnten Buch von Herman und dem von Saigh herausgegebenen Werk „Posttraumatische Belastungsstörung“ sind das von Maerker herausgegebene Buch „Therapie der posttraumatischen Belastungsstörungen“ und das allgemein verständliche Buch von Ehlers „Posttraumatische Belastungsstörung“ sehr zu empfehlen. Diese Bücher bieten einen Überblick über Erscheinungsbild, Diagnostik, Erklärungsmodelle und Therapie dieser Störungen und beschreiben das therapeutische Vorgehen bei speziellen Traumagruppen.

 

 

Epidemiologie, Verlauf und Folgen der posttraumatischen Belastungsstörung

 

Die Störung kann nach der Dauer der Symptome in drei Formen auftreten:

 

Der Verlauf einer posttraumatischen Belastungsstörung ist wechselhaft, in der Mehrzahl der Fälle ist jedoch eine Heilung möglich, oft allerdings erst nach Jahren. Die Störung beginnt gewöhnlich innerhalb der ersten drei Monate nach dem Trauma, kann aber auch Monate oder sogar Jahre später auftreten. Die Symptome halten unterschiedlich lange an. Bei der Hälfte der Fälle verschwinden die Symptome innerhalb von 3 Monaten.

Die Störung kann einen derart chronischen Verlauf nehmen, dass es zu einer tiefgreifenden Veränderung der Persönlichkeitsstruktur kommt. Diese ist nicht durch eine verstärkte Ausprägung primärer Persönlichkeitszüge charakterisiert, sondern durch das Auftreten neuer Symptome, die vorher nicht bestanden haben (feindliche und misstrauische Haltung der Welt gegenüber, sozialer Rückzug, Entfremdung, Gefühl der Leere oder Hoffnungslosigkeit, chronische Nervosität wie bei ständiger Bedrohung). Man spricht dann nach dem ICD-10 von einer „andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung“.

Bei Kriegsteilnehmern oder Überlebenden aus Vernichtungslagern traten die traumatischen Bilder („Holocaust“-Erfahrungen) auch nach vier Jahrzehnten unverändert lebendig und belastend auf, wie Nachuntersuchungen ergaben.

Berichte über jahrelange psychische Störungen gibt es auch über die Opfer von Flugzeugentführungen (z.B. über die Passagiere des 1977 nach Mogadischu entführten deutschen Flugzeugs, die durch den Einsatz der deutschen Antiterrortruppe befreit wurden) oder über die Opfer von Geiselnahmen, die mit dem Tod bedroht wurden.

Beispielhaft sollen die Folgen einer Technikkatastrophe angeführt werden. Bei einer Flugschau in Ramstein in der Pfalz stießen 1988 zwei Flugzeuge einer italienischen Kunstflugstaffel zusammen, ein explodierender Düsenjäger stürzte in die Zuschauermenge, tötete 70 Menschen und verwundete weitere 450 Menschen. Vom Schock des Absturzes haben sich viele Überlebende jahrelang nicht vollständig erholt. Tiefflieger eines nahegelegenen US-Stützpunkts lösten später erneut Panikattacken aus. Psychisch unauffällige Menschen litten plötzlich unter Alpträumen, Schlafstörungen, Reizbarkeit, Konzentrationsstörung, Lustlosigkeit, Heißhunger oder Appetitverlust.

Eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt sich nicht allein aufgrund der objektiven, sondern vielmehr aufgrund der subjektiv wahrgenommenen Bedrohlichkeit eines Traumas. Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung besteht ein erhöhtes Risiko für Panikstörung, Agoraphobie, Zwangsstörung, soziale Phobie, spezifische Phobie, Depression, Somatisierungsstörung und Medikamentenmissbrauch.

Über 90% der Vergewaltigungsopfer entwickeln eine Angst davor, alleine zu sein oder alleine auszugehen während der Dunkelheit, während der Nacht oder alleine zu schlafen. Aus dem Bedürfnis nach Sicherheit zu Hause entstehen nicht selten Kontrollzwänge bezüglich verschlossener Türen und Fenster.

Das Bewusstsein der persönlichen Unverletzlichkeit wurde bei vielen Frauen durch die Erfahrung einer Vergewaltigung auf Monate oder Jahre hin zerstört. Vergewaltigungsopfer tendieren stärker zu Rückzugsverhalten als Kriegsveteranen.

Eine repräsentative Studie an 1500 Vergewaltigungsopfern fand bei 35% eine posttraumatische Belastungsstörung. Bei den Opfern einer versuchten Vergewaltigung war der Anteil 14%.

Von 1600 repräsentativ ausgewählten Vietnam-Kriegsveteranen wiesen fast ein Viertel der Männer, die an einer akuten posttraumatischen Belastungsstörung litten, gleichzeitig auch eine Alkoholabhängigkeit bzw. einen Alkoholmissbrauch auf, während dies bei Vietnam-Kriegsveteranen ohne posttraumatische Belastungsstörung nur auf 10% zutraf. Mehr als einer von 20 männlichen Vietnam-Kriegsveteranen mit posttraumatischer Belastungsstörung hatte ein Drogenproblem (Missbrauch oder Abhängigkeit).

Lebenszeitbezogen erfüllten von den Männern mit einer akuten posttraumatischen Belastungsstörung fast drei Viertel die Kriterien für Alkoholmissbrauch/-abhängigkeit und 10% die Kriterien für Drogenmissbrauch/-abhängigkeit. Bei 2009 landesweit untersuchten amerikanischen Frauen, die Opfer eines Gewaltverbrechens geworden waren, hatten die Opfer mit posttraumatischer Belastungsstörung ein 3,2-fach erhöhtes Risiko einer Alkoholproblematik und ein 3,4-fach erhöhtes Risiko einer ernsthaften Drogenproblematik im Vergleich zu Opfern ohne posttraumatische Belastungsstörung.

Grundsätzlich ist bei den in Behandlung stehenden Personen die Doppeldiagnose von posttraumatischer Belastungsstörung und Substanzmissbrauch viel eher gegeben als in der Allgemeinbevölkerung.  

Durch eine spezielle Befragung von 72% der umfangreichen amerikanischen Stichprobe im Rahmen der NCS-Studie konnten erstmals repräsentative Daten zur posttraumatischen Belastungsstörung gewonnen werden (N = 5877).

7,8% der amerikanischen Bevölkerung leiden im Laufe ihres Lebens unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, innerhalb des letzten Monats trifft dies auf 2,3% der Bevölkerung zu. Aufgrund einer detaillierteren Nachbefragung einer kleinen Gruppe Betroffener durch Experten (die nationale Untersuchung erfolgte durch trainierte Interviewer) ergibt sich der Eindruck, dass der tatsächliche Prozentwert sogar noch etwas höher anzusetzen ist. Die Daten lassen sich jedoch nicht so einfach auf Europa übertragen (z.B. größere Gewalthäufigkeit und Bewaffnung in den USA).

Eine posttraumatische Belastungsstörung war lebenszeitbezogen bei 10,4% der Frauen und 5,0% der Männer festzustellen, d.h. bei Frauen doppelt so häufig wie bei Männern. Von den Befragten berichteten 51,2% der Männer und 60,7% der Frauen von mindestens einem traumatischen Erlebnis in ihrem Leben.

Bei Frauen handelte es sich dabei um folgende Ereignisse: Feuerkatastrophe (15,2%), Zeuge eines Unglücks wie Verletzung oder Tötung eines anderen (14,5%), lebensbedrohlicher Unfall (13,8%), Schock (12,4%), sexuelle Belästigung (12,3%), Vergewaltigung (9,2%), körperliche Attackierung (6,9%), Bedrohung mit der Waffe (6,8%), körperliche Misshandlung (4,8%), Vernachlässigung in der Kindheit (3,4%), anderes Trauma (2,7%).

Bei Männern waren folgende traumatische Erfahrungen gegeben: Zeuge eines Unglücks wie Verletzung oder Tötung eines anderen (35,6%), lebensbedrohlicher Unfall (25,0%), Bedrohung mit der Waffe (19,0%), Feuerkatastrophe (18,9%), Schock (11,4%), körperliche Attackierung (11,1%), Kampfeinsatz (6,4%), körperliche Misshandlung (3,2%), sexuelle Belästigung (2,8%), Vernachlässigung in der Kindheit (2,1%), Vergewaltigung (0,7%), anderes Trauma ( 2,2%).

Das Trauma, das am häufigsten zu einer posttraumatischen Belastungsstörung führte, war bei Frauen und Männern die Vergewaltigung, und zwar bei 55,5% der Betroffenen. (Eine deutsche Studie an 14-24jährigen ergab mit 50% eine ähnliche Rate). Bei Frauen folgten weiters körperliche Misshandlung, Bedrohung mit der Waffe, sexuelle Belästigung, körperliche Attackierung und Vernachlässigung in der Kindheit, bei Männern insbesondere Kampferfahrung, körperliche Misshandlung, Vernachlässigung in der Kindheit, sexuelle Belästigung, Unfall und Schockerlebnis.

Von den Frauen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung gaben 29,9% Vergewaltigung und 19,1% sexuelle Belästigung als Auslöser der Störung an. Dies entspricht der Hälfte der Betroffenen. Von den Männern mit einer posttraumatischen Belastungsstörung gaben 28,8% Kampferfahrung und 24,3% das Erlebnis des Unglücks (Verletzung oder Tötung) eines anderen Menschen als Trauma auslösend an.

Die posttraumatische Belastungsstörung dauerte bei denen, die professionelle Hilfe suchten, durchschnittlich 36 Monate, bei den anderen durchschnittlich 64 Monate. Dies weist auf die Wirksamkeit von Hilfsangeboten hin. Bei etwas mehr als einem Drittel der Betroffenen blieb die Störung über viele Jahre unverändert bestehen, und zwar sowohl bei jenen, die Hilfe suchten, als auch bei jenen, die keine Hilfe suchten.

Untersuchungen an vergewaltigten Frauen sowie an Kriegsteilnehmern haben ergeben, dass der Schweregrad des Stressors, d.h. die Stärke der Traumatisierung (große Brutalität), zu einer stärkeren posttraumatischen Belastungsstörung führte.

Die Störung ist oft besonders schwer und lang andauernd, wenn das Trauma nicht durch Katastrophen, sondern durch Menschen verursacht wurde, weil dabei gezielt eine Erniedrigung und Zerstörung des Selbstwertgefühls der Betroffenen angestrebt wurde (z.B. Terror, Folterung, Vergewaltigung durch mehrere Männer) bzw. durch die Beseitigung aller kommunikativen Strukturen eine totale soziale Isolierung geschaffen wurde (z.B. mehrjähriges Festhalten einer Geisel in einem finsteren Keller).

 

Die posttraumatische Belastungsstörung ist um so ausgeprägter,

 

Bestimmte Persönlichkeitsfaktoren oder psychische Erkrankungen, die bereits vor dem schrecklichen Erlebnis gegeben waren, können die Schwelle für die Entwicklung dieses Syndroms senken und seinen Verlauf verstärken, sind aber weder nötig noch ausreichend, um das Auftreten der Störung zu erklären. Belastende Umstände vor der Traumatisierung haben einen Einfluss auf die Überwindung des Traumas.

Die Wahrscheinlichkeit der Entstehung und langen Dauer einer posttraumatischen Belastungsstörung wird erhöht durch das Vorhandensein ausgeprägter moralischer Konflikte, eine bereits vor dem Trauma gegebene Beeinträchtigung durch eine Depression oder Angststörung sowie das Unverständnis der sozialen Umwelt.

Frauen entwickelten nach einer Vergewaltigung eher bzw. in stärkerem Ausmaß eine posttraumatische Belastungsstörung, wenn sie bereits vorher unter Depressionen, Ängsten, emotionalen Belastungen, Verlusterfahrungen (Tod eines nahen Angehörigen außer dem Ehepartner) und sexuellen Misshandlungen gelitten hatten. Frauen, die weniger unter den Folgen der Vergewaltigung litten, hatten im letzten Jahr davor weniger Veränderungen zu bewältigen.