Dr. Hans Morschitzky
Klinischer Psychologe, Psychotherapeut
Verhaltenstherapie, Systemische Familientherapie
A-4040 Linz, Hauptstraße 77
Tel.: +43 732 778601 E-Mail: morschitzky@aon.at
Telefonische Anmeldung täglich 17:00 - 17:30 (ansonsten Anrufbeantworter)
Seite von https://panikattacken.at
Lesen Sie zum folgenden Text auch mein Buch über Agoraphobie, das Sie durch Anklicken des Titels sofort bei Amazon bestellen können:
Morschitzky, H. (2017). Wenn Platzangst das Leben einengt. Agoraphobie bewältigen. Ein Selbsthilfeprogramm. Ostfildern: Patmos Verlag. 213 Seiten.
Dieses Buch beschriebt die vielfältige Symptomatik der Agoraphobie und deren Ursachen und bietet ein umfassendes Selbsthilfeprogramm in 7 Schritten zur Überwindung der Agoraphobie, und zwar in Form einer Konfrontationstherapie nach vier verschiedenen Konzepten.
Expositionstherapie: Konfrontation mit Angstsituationen
Expositionstechniken: Konfrontationtherapie bei Agoraphobie
Zusammenfassung
Aufgrund neuerer lerntheoretischer Modelle (Inhibitionslernen nach M. Craske) und der „dritten Welle“ der Verhaltenstherapie (Akzeptanz- und Commitmenttherapie, Schematherapie u.a.) ergeben sich folgenreiche Veränderungen für die traditionelle Expositionstherapie.
Der Abfall von Angst durch Habituation ist keine Voraussetzung für erfolgreiches Lernen.
Die neueren Konzepte betonen das Neulernen von Verhaltensweisen und nicht die
Beseitigung von Angst-Konditionierungen als Voraussetzung für
Verhaltensänderungen sowie vor allem auch ein erfülltes Leben mit und trotz
etwas Angst und verzichten auf den kräfteraubenden Kampf gegen Angst, Furcht und
Panik.
Einleitung
Exposition ist die wiederholte systematische Konfrontation mit internen oder externen Reizen, die gefürchtet, vermeiden oder nur mit Angst ausgehalten werden, und zwar in dreifacher Form: in vivo (Realität), in sensu (Innenwelt: Vorstellung, Erinnerung) oder interozeptiv (Körpersensationen in Verbindung mit Emotionen).
Als Exposition gilt jede Form der
Unterbrechung von Vermeidungsverhalten nach außen (gegenüber von Situationen)
und nach innen (angesichts von Gedanken, Gefühlen und Körpersensationen), mit
dem Ziel, all das tun und erleben zu können, was durch Angst verhindert wird.
Die therapeutische Strategie der Exposition ohne jedes Vermeidungsverhalten hat die Verhaltenstherapie zur erfolgreichsten Behandlungsmethode bei Angststörungen gemacht.
Nach Michelle Craske (2015)
ist die traditionelle Expositionstherapie nicht so erfolgreich wie oft behauptet
wird. Sie nennt folgende Zahlen, bezogen auf alle Angststörungen:
30 %
verweigern die Expositionstherapie,
15-30 %
brechen die Expositionstherapie ab,
40-50 %
haben nach der Expositionstherapie keinen klinisch relevanten Behandlungserfolg,
19-62 %
erleben eine Rückkehr der behandlungsrelevanten Symptomatik.
In den letzten 15 Jahren haben sich in der Verhaltenstherapie bedeutsame Entwicklungen ergeben, die dazu führen, dass einer größeren Anzahl von Menschen mit Angststörungen anhaltend geholfen werden kann.
Auch die Frage nach den Wirkmechanismen der Exposition wird von der Forschung neu aufgerollt.
Zwei zentralen Annahmen der traditionellen Expositionstherapie sind trotz
40-jähriger Anwendung nicht ausreichend empirisch abgesichert und werden durch
neuere Konzepte und Studien eher in Zweifel gezogen als bestätigt:
1.
Die
Angstsituation darf erst nach dem Abfall der Angst verlassen werden.
Die Angst muss bei der Exposition ein Maximum erreichen, als Folge davon wird
rasch eine Habituation im Sinn eines dauerhaften Angstabfalls erreicht; die
Betroffenen erleben dadurch die Ungefährlichkeit von Angst und Panikattacken.
2.
Sicherheitsverhaltensweisen müssen von Anfang an aufgegeben werden.
Während der Exposition dürfen die Betroffenen aus der Angst machenden Situation
keinesfalls fliehen und in der Angstsituation keinerlei Sicherheitsstrategien
einsetzen (Medikament oder Handy in der Tasche, Begleitung durch
Vertrauenspersonen, diverse Tricks), weil die Angst dadurch langfristig
verstärkt wird, auch wenn sie kurzfristig reduziert wird.
Hoyer & Heinig (2015, S. 21) fassen die neueren Entwicklungen der
verhaltenstherapeutischen Behandlung von Angststörungen berichten:
„Misstrauen Sie dem, was Ihr Supervisor noch in der Ausbildung zur Angsttherapie
sagte! Das Prinzip ‚Angsttherapie kommt ohne Exposition nicht aus‘, gilt zwar
nach wie vor, aber im Hinblick auf die optimierte Umsetzung einer
Expositionstherapie gibt es wichtige neue Entwicklungen. Lediglich darauf zu
achten, dass Habituation eintritt, vermittelt die falsche Botschaft. Angst soll
nicht per se bekämpft werden, denn sie ist nicht gefährlich. Wichtiger ist es,
vielfältige neue Erfahrungen in angstauslösenden Situationen zu sammeln und zu
speichern (Inhibitionslernen) und eine neue Strategie im Umgang mit
Angstgefühlen zu erlernen (MKT, ACT).“
Aufgrund der Erkenntnisse zum Inhibitionslernen, wie es von Frau Michelle
Craske, Professorin für Psychologe und Psychiatrie an der Universität von
Kalifornien in Los Angeles seit Jahren erforscht wird, ergeben sich folgende
zentrale Aussagen zur Expositionstherapie:
Der Therapieerfolg ist völlig unabhängig davon, ob während der Exposition die Angst abfällt, gleich bleibt oder steigt!
Im Gegensatz zum bisherigen Verständnis muss Angst bei der Exposition überhaupt nicht abnehmen!
Es geht vielmehr um das Tolerieren-Können von Angst, während
durch die Exposition neue Lernerfahrungen gemacht werden – damit bestehen große
Ähnlichkeiten mit dem ACT-Konzept der Angstbehandlung.
Zusammenfassender Überblick
1.
Neuere lerntheoretische Entwicklungen
führen zu einer
wesentlichen Änderung in der Vorgangsweise bei der Expositionstherapie. Das
Konzept des Inhibitionslernens nach Michelle Craske (mehrere Artikel aus den
Jahren 2008–2015) ersetzt die bekannte, empirisch jedoch wenig abgesicherte
emotional processing theory von Foa &
Kozak sowie das eng damit verbundene Konzept der Habituation – mit
weitreichenden Folgen.
2.
Die sogenannte „dritte Welle“ der
Verhaltenstherapie (zumindest in Form der
Akzeptanz- und Commitmenttherapie) gilt seit kurzem bei Angststörungen als
empirisch nahezu gleich gut abgesichert wie die kognitiv-behaviorale Therapie.
Die Schematherapie nach Jeffrey Young
(bei uns u.a. durch die Bücher von E.
Roediger bekannt) kann erklären, warum die klassischen Expositionskonzepte bei
Menschen mit chronifizierter Angststörung nicht so gut wirken, sodass bei diesem
Personenkreis neben der Exposition ein spezielles Vorgehen erforderlich ist. Es
erfolgt in der Auseinandersetzung mit alten Mustern – negativen Schemata, die
aus der Kindheit stammen – eine korrigierende Neu-Erfahrung und damit ein
Ausstieg aus „alten Geschichten“.
Menschen mit Panikstörung sowie mit Agoraphobie erreichen hohe Werte im
Schemafragebogen im Bereich „Verletzbarkeit“, wo sich die Betroffenen u.a. durch
Katastrophen oder schlimme Ereignisse bedroht fühlen. Dahinter stecken natürlich
wiederum lebensgeschichtliche Erfahrungen, die durch die positiven Erfahrungen
einer Expositionstherapie noch nicht bewältigt sind.
3.
Das
Konzept der Emotionsregulierung
wird immer bedeutsamer und eine wichtige Ergänzung zur Expositionstherapie
darstellen, und zwar über den Rahmen der „dritten Welle“ der Verhaltenstherapie
hinausgehend, die – wie etwa die ACT – an sich bereits eine bestimmte Form des
Umgangs mit Emotionen vorschlägt. Die mangelhafte Fähigkeit zur
Emotionsregulierung ist ein zentraler Risikofaktor für die Entwicklung einer
emotionalen Störung wie einer Angststörung oder einer Depression. Menschen mit
Angststörungen können beispielsweise mit der Intensität und Generalisierung
ihrer Angst nicht umgehen, sodass sie zunehmend mit innerer und äußerer
Vermeidung reagieren. Menschen mit Angststörungen haben auch Defizite bezüglich
des Inhibitionslernens, sodass die Extinktion erschwert ist. Sie können ihre
Furcht angesichts bestimmter Reize mithilfe des präfrontalen Cortex nicht so gut
hemmen wie Gesunde; sie haben auch ein unzureichendes Diskriminationslernen,
sodass sie leichter ängstlich reagieren, und eine mangelhafte Fähigkeit zur
optimalen Speicherung und Abruffähigkeit von erfolgreichen
Expositionserfahrungen. Mit ständigen in-vivo-Expositionen allein sind diese
Probleme nicht lösbar.
4. Die virtuelle Expositionstherapie (VRET virtual reality exposure therapy) wird mittlerweile dort, wo sie von den finanziellen Voraussetzungen her möglich ist, immer häufiger durchaus recht erfolgreich eingesetzt, vor allem bei spezifischen Phobien (z.B. Flugangst, Höhenangst, Tierphobien), teilweise auch bei sozialer Phobie und bei Panikstörungen. Sie bringt aber bei Panikstörung mit Agoraphobie neben der Exposition in vivo bei gleichzeitiger kognitiver Therapie keinen zusätzlichen Behandlungseffekt (wenngleich sie auch bei dieser Störung durchaus wirksam ist).
5.
Eine
differenziertere Bewertung von Sicherheitssignalen und
Sicherheitsverhaltensweisen führt dazu,
dass nicht mehr von Anfang an der Verzicht auf alle Tricks und Hilfsmittel
gefordert wird.
Forschungsbefunde (von J. Rachman u.a.) haben ergeben: verschiedene Hilfsmittel
oder Sicherheitsverhaltensweisen wie Fluchtmöglichkeit gefährden nicht den
Therapieerfolg, sondern
sind zumindest anfangs durchaus sinnvoll: sie
vermindern die Verweigerungs- und Abbruchrate, erleichtern erste Erfolge,
fördern die eigenständige Exposition, führen zu längerer Exposition, ermöglichen
trotzdem eine kognitive Neubewertung und einen anhaltenden Therapierfolg und
sind gerade bei schwerer Angststörung effektiver als die konventionelle
Exposition. Ein anhaltender Therapieerfolg wird somit nicht durch den Verzicht
auf Sicherheitsstrategien von Anfang an, sondern durch das langsame
Ausschleichen im Rahmen der Expositionstherapie garantiert. Die weltweit größte
Studie zur Exposition bei Panikstörung mit Agoraphobie, durchgeführt als
Multi-Center-Studie in Deutschland, hat
ergeben: Bei schwerer Panikstörung mit Agoraphobie beschleunigt die anfängliche
Begleitung durch einen Therapeuten den Therapieerfolg, auch wenn
ein Therapeut als Sicherheitssignal anzusehen
ist – Hauptsache, es stellt sich bald ein erstes Erfolgserlebnis ein, als deren
Folge dann eine Exposition allein möglich ist. Ähnlich kann man auch den Umstand
eines anfänglichen Hilfsmittels (wie Handy oder Tranquilizer in der Tasche)
sehen.
6.
Neuere Entwicklungen außerhalb der Verhaltenstherapie
unterstreichen
die Bedeutung der neueren theoretischen
und therapeutischen Konzepte in der Verhaltenstherapie:
· neuere lernpsychologische Modelle ganz allgemein:
Ø
Forschungen zum Bereich des Extinktionslernens und
Umlernens (in Deutschland laufen dazu verschiedene Forschungsprojekte, und zwar
an den Universitäten in Bochum und Duisburg-Essen); diese haben eine große
Bedeutung nicht nur für Angststörungen, sondern beispielsweise auch für
posttraumatische Belastungsstörungen, Schmerzstörungen,
Abhängigkeitserkrankungen,
Essstörungen, für menschliche Zustände wie
Trauer nach Tod oder Verlust des Partners, aber auch für medizinische Bereiche
wie die Immunologie);
· neuere neurobiologische Modelle:
Ø
Inhibition der Amygdala
durch den ventromedialen präfrontalen Kortex, was die Grundlage für das
Extinktionslernen darstellt;
Ø
Speicherung von
Kontextinformationen im Hippocampus, was auch die Basis für ein erfolgreiches
Inhibitionslernen ist;
Ø
Bedeutung der Insel-Region
für die Interozeption, für die Wahrnehmung und die Sensibilität bezüglich
viszeraler Aktivitäten;
Ø
Bedeutung des dorsalen und
rostralen anterioren Cingulums für die Antizipation von CS und US;
· neuere pharmakologische Behandlungskonzepte:
Ø
bessere Speicherung des
Erfolgsgedächtnisses während der Exposition durch die Gabe von D-Cycloserin (ein
Tuberkulose-Mittel) und Kortisol;
Ø
Hemmung („Löschung“) des
Angstgedächtnisses durch Blutdruckmittel wie Propranolol (in Österreich Präparat
Inderal).
Die frühe Verhaltenstherapie hat in ihrer Polemik gegen spekulative psychoanalytische Erklärungsversuche betont, dass krankheitswertige Ängste nicht so sehr durch frühkindliche bzw. intrapsychische Ursachen bestimmt sind, sondern vielmehr durch die Art und Weise, wie die Betroffenen mit ihrer Angst, Furcht und Panik umgehen.
Wenn die negativen Folgewirkungen von Ängsten beseitigt sind, haben die Betroffenen wieder mehr Bewegungsfreiheit.
Sie können bereits angstfrei handeln, ohne dass sie zuerst die Vergangenheit
aufarbeiten müssen.
Aus diesem Verständnis heraus haben sich die Strategien der expositionsbasierten Interventionen entwickelt, von der Systematischen Desensibilisierung bis hin zum Flooding, also zur Reizüberflutung in vivo ohne Vermeidungsverhalten.
Bei
allen Expositionsverfahren geht es letztlich darum, das gelernte
Vermeidungsverhalten der Betroffenen zu unterbinden und neue Erfahrungen mit
sich und der Umwelt zu machen.
Exposition, sehr allgemein definiert als Sich-Einlassen auf gefürchtete Situationen und Befindlichkeiten oder als Konfrontation mit externen und internen Reizen bzw. Erfahrungen, war von den späten 1950er-Jahren an immer das primäre Ziel der Verhaltenstherapie.
Es ging und geht stets um ein Neu- und Umlernen menschlichen Verhaltens mit dem Ziel der Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten und damit auch der Verbesserung der Lebensqualität.
Die konkreten Vorgangsweisen haben sich jedoch im Laufe der Zeit stark
verändert, und zwar im Sinne einer wesentlichen Erweiterung der
Behandlungsmodelle.
Das Konzept der
Systematischen Desensibilisierung,
das von Joseph Wolpe von Südafrika ausgehend die frühe Verhaltenstherapie am
Ende der 1950er-Jahre sowie in den 1960er-Jahren dominiert hatte, beruht auf dem
Konzept der reziproken Hemmung nach dem Motto:
·
„Stelle dich deiner Angst
zuerst in der Vorstellung und dann in der Realität stufenweise unter
Bedingungen, die mit Angst als sympathikotoner Erregung unvereinbar sind.“
·
„Bewirke dazu vorher am
besten mithilfe der Progressiven Muskelentspannung eine Entspannung als
parasympathische Aktivität.“
Im Laufe der Jahre wurde klar: Entspannung ist zur Angstbewältigung nicht nötig,
sondern sogar schädlich, weil es sich dabei um ein Sicherheitsverhalten handelt.
Das Konzept der Exposition, das in den 1970er- und 1980er-Jahre entwickelt und verfeinert wurde, resultiert aus dem lerntheoretischen Erklärungsmodell der operanten Konditionierung.
Nach dem Lerngesetz der „negativen Verstärkung“
entwickelt sich bei Ängsten und Zwängen ein immer größeres Vermeidungsverhalten,
weil dadurch kurzfristig negative Konsequenzen verhindert oder gemildert werden
können.
Eine Exposition mit Reaktionsverhinderung
verzichtet auf symptomaufrechterhaltende Problemlösungsstrategien, wie etwa
Vermeiden, Flüchten, Beruhigen, Entspannen oder Kontrollieren. Den Betroffenen
werden zwei Botschaften vermittelt:
·
„Stelle dich deiner Angst
ohne Sicherheitsstrategien so lange, bis eine Gewöhnung einsetzt und du die
Erfahrung machst, dass du Angst aushalten kannst.“
·
„Flüchte nicht aus der
Angstsituation, weil dadurch die Angst langfristig verstärkt wird.“
Das Konzept der Exposition mit Reaktionsverhinderung wurde bekanntlich Anfang der 1970er-Jahre in London im Rahmen der Behandlung von Phobien und Zwängen entwickelt und ist untrennbar mit den Namen Victor Meyer, Isaac Marks und Stanley Rachman und deren Teams verbunden.
Exposition bzw. Konfrontation ohne Vermeidungsverhalten als zentrale
Behandlungsstrategie angesichts von aversiven Reizen hat den einzigartigen
Siegeszug der Verhaltenstherapie begründet und gilt nach wie vor als die
empirisch am besten abgesicherte Strategie in der ganzen Psychotherapie.
Während der Begriff des Floodings bereits 1969 und
1971 von Isaak Marks verwendet wurde, wurde der Begriff
Exposition
(exposure) erstmals im Jahr 1975 von Isaac Marks et al. erwähnt in einem Artikel
über Zwangsstörungen, in dem er aufgrund der Literaturzusammenfassung die reine
Konfrontation mit aversiven Reizen als genauso wirksam aufgezeigt hatte wie die
damals populäre Methode der Systematischen Desensibilisierung.
Ausgehend von der Behandlung bei Angst- und Zwangsstörungen wurde die Methode
der Exposition mit Reaktionsverhinderung in modifizierter Form seither bei
zahlreichen anderen psychischen Störungen eingesetzt, wie etwa posttraumatischer
Belastungsstörung, Hypochondrie, Dysmorphophobie, Substanzabhängigkeit oder
Essstörungen.
Das vier-Felder-Schema
auf der Grundlage der beiden Dimensionen
Stimulustyp
(Vorstellung oder Realität) und
Intensität
des therapeutischen Vorgehens (graduiert oder massiert) ist nach wie vor aktuell
bei der Auswahl des therapeutischen Vorgehens:
Intensität der Konfrontation |
In der Vorstellung (in sensu) |
In der Realität (in vivo) |
Graduiert
(allmählich, gestuft) |
Systematische Desensibilisierung
(Annähern unter Entspannung) |
Angstbewältigungstraining
(Habituationstraining) |
Massiert
(plötzlich und intensiv) |
Implosion
(Bewältigen durch Übertreiben) |
Flooding
(Reizüberflutung) |
Es werden zwei zentrale Botschaften vermittelt:
1. „Analysiere und ändere deine Denkmuster und die Angst verliert ihren Schrecken.“
Der frühere Streit zwischen lerntheoretisch und kognitiv orientierten
Verhaltenstherapeuten kann als überholt angesehen werden, weil sich deren
Vertreter in drei Punkten einig sind:
Egal, ob Veränderung primär am Verhalten oder am
Denken ansetzt, es steht mittlerweile fest, dass psychische und psychosomatische
Störungen primär Störungen der
Emotionsverarbeitung
und der
Emotionsregulierung
sind. Jede mentale oder reale Überflutung angesichts externer oder interner
Reize bewirkt eine massive Aktivierung von Emotionen. Sie ist mehr als eine
sichtbare Verhaltensreaktion und mehr als der Ausdruck falscher Denkmuster.
Die zunehmende Erkenntnis der psychobiologischen Fundierung von Angst, wie sie von LeDoux und anderen Forschern aufgezeigt wurde, bedeutet, dass belastende Ängste nicht nur die Folge falscher Lernprozesse oder dysfunktionaler Denkmuster sind.
Das empfehlenswerte Lehrbuch „Cognitive
Therapy of Anxiety Disorders: Science and Practice“ von D.A. Clark & A.T. Beck
(2011) zeigt auf, dass auch kognitive Verhaltenstherapeuten in ihrem Vorgehen
biologische Faktoren und expositionsbasierte Interventionen berücksichtigen.
Es herrscht auch weitgehende Einigung darüber, dass vor einer
Expositionstherapie eine umfassende Diagnostik mit funktionaler Diagnostik der
Angst sowie eine ausführliche Psychoedukation und kognitive Vorbereitung auf die
Exposition erfolgen muss (vgl. Neudeck, 2015).
Die klassische Konfrontationstherapie beruht auf der emotional processing theory von Foa & Kozak (1986).
Bei Angststörungen bestehe eine verzerrte Furchtstruktur, indem überzogen starke Angstreaktionen abgebildet oder harmlose Reize fälschlich mit Gefahr assoziiert seien.
Demnach müsse in einer Angstsituation durch Exposition die Furchtstruktur (das assoziative Angst-Netzwerk) maximal aktiviert werden, um gleichzeitig korrigierende Erfahrungen zu machen, die mit der bestehenden Furchtstruktur nicht vereinbar seien.
Es besteht das Ziel der Habituation (Gewöhnung) als
Folge einer massiven Angstaktivierung; dadurch seien anhaltende Therapieerfolge
erreichbar. Aufgrund der neueren Erkenntnisse hat Frau Foa ihre Theorie
mittlerweile modifiziert.
Trotz der Plausibilität und der weiten Verbreitung in der Praxis hat sich dieses Konzept zur Erklärung der Erfolge einer Expositionstherapie nicht ausreichend bewährt.
Es hat zudem m.E. in der Öffentlichkeit das Image der Verhaltenstherapie als
brutale Behandlungsmethode gefördert und bei zahlreichen Patienten großen
Schaden angerichtet, die in unnötig starke Ängste hineingesteigert wurden durch
das falsche Versprechen, dass bei richtiger Anwendung der früher sogenannten
Reizkonfrontationsmethode die krankhafte Angst auf jeden Fall beseitigt werde.
Wichtige Kritikpunkte: Die behauptete dauerhafte Veränderung der Furchtstruktur durch Exposition kann weder die Fortdauer der angstbesetzten Gedächtnisinhalte noch die häufigen Rückfälle erklären.
Der bloße Abfall des Angstlevels nach der Exposition sagt zudem nichts über den
anhaltenden Erfolg einer Expositionstherapie aus!
Das Konzept des Inhibitionslernens – Weiterentwicklung der lerntheoretischen
Fundamente der Verhaltenstherapie von Michelle Craske
Das alternative Konzept des Inhibitionslernens von Michelle Craske ist empirisch viel besser abgesichert.
Es handelt sich dabei um eine lernpsychologisch fundierte Optimierung des Extinktionsverhaltens.
Entgegen früherer Annahmen wird bei einer Exposition die konditionierte Angstreaktion (CR) nicht gelöscht, vielmehr wird die ursprüngliche Assoziation zwischen dem reaktionsauslösenden konditionierten Stimulus (CS) und dem unkonditionierten Stimulus (US) durch eine neu erlernte, nicht angstbesetzte Assoziation (CS-noUS) gehemmt.
Erfolgreiche Exposition besteht nach Craske in der
Stärkung der inhibitorischen Assoziationen durch Förderung des
Extinktionsverhaltens sowie in der Konsolidierung und Zugänglichkeit des
Extinktionsgedächtnisses.
Anstelle der Abschwächung der ursprünglichen Angst und des dazugehörigen Angstgedächtnisses durch Habituation geht es beim Inhibitionslernen darum, dass neue Gedächtniseindrücke erfolgreicher Lernvorgänge gespeichert werden, die das ursprüngliche Angstgedächtnis relativieren, aber nicht löschen.
Die Angstreaktion wird nicht verlernt, sondern nur nicht mehr gezeigt, sie wird durch entgegengesetzte inhibitorische Assoziationen ergänzt.
Das
Inhibitionslernen wird auch durch die neueren neurobiologischen Erkenntnisse
gestützt.
Die Angstreaktion wird nicht gelöscht, wie auch nach erfolgreicher Exposition
durch Untersuchungen des Gehirns bei neuerlicher Darbietung des Angstreizes
gezeigt werden kann, es wird nur die Angstreaktion in Bezug auf den
ursprünglichen Angstreiz gehemmt.
Die Angstreaktion kann wiederkehren aufgrund von drei Prozessen:
1.
Spontanerholung:
die Extinktion wirkt nur vorübergehend, einige Zeit nach der Expositionstherapie
kann das bedingte Verhalten wiederauftreten.
2.
Erneuerung:
die Angstreaktion kann wiederkehren in einem neuen Kontext, d.h. bei einem
Wechsel des Lernumfeldes, weil das Extinktionslernen kontextabhängig ist.
3.
Wiederinkraftsetzung:
die wiederholte Darbietung eines unbedingten Reizes kann den scheinbar
verlernten bedingten Reiz seine Wirkung zurückgeben, d.h. es erfolgt ein
Wiederaufflammen der Angst nach ungekoppelter US-Darbietung („Desinhibition“).
Extinktion bezeichnet keine Löschung, kein Vergessen und auch kein Verlernen, sondern ein zusätzliches Lernen, bei dem die Wirkung des konditionierten Stimulus bzw. die bedingte Reaktion vorübergehend und kontextabhängig nicht mehr gezeigt und außer Kraft gesetzt wird.
Der Lernprozess besteht darin, dass eine zuvor
konditionierte Reaktion (CR) bei der Darbietung des zuvor konditionierten
Stimulus (CS) nicht mehr gezeigt wird.
Als
Extinktionslernen
bezeichnet man den Aufbau einer kontextabhängigen inhibitorischen
CS-US-Assoziation (Inhibitionslernen). Darin besteht der Erfolg einer
Expositionstherapie, und nicht im Abfall der Angst während der Konfrontation.
Die Folgen für die Expositionstherapie: Der Schwerpunkt der Exposition liegt auf einem Lernprozess, auf einem Neu-Lernen, und nicht auf einer Angstreduktion.
Im Mittelpunkt steht das Inhibitionslernen und nicht mehr die Habituation an die Angst. Es geht nicht um die (unmögliche) Löschung von Angstreaktionen, sondern um die Vermittlung wirksamer Assoziationen in Angstsituationen.
Es geht um die Optimierung der Extinktion, wodurch
optimales Inhibitionslernen möglich ist.
Michelle Craske hat auf sehr innovative Weise den lerntheoretischen Ansatz erweitert (vgl. Craske, 2015; Pittig, et al, 2015; Mohr & Schneider, 2015; Hoyer & Heinig; 2015).
Sie hat zahlreiche Varianten des
inhibitorischen Lernens durch eine Expositionstherapie beschrieben:
1.
Widerlegen angstbezogener Erwartungen – Motto:
„Überprüfe deine Erwartungen! Die Angst muss nicht weg, es reicht die
Widerlegung deiner Befürchtungen.“
Die spezifischen, vor der Exposition ganz konkret formulierten Erwartungen und Befürchtungen des Patienten (z.B. „Ich könnte ohnmächtig werden“) werden durch konkrete Erfahrungen maximal widerlegt.
Der Patient soll durch die Exposition
ohne Vermeidung erkennen, dass das von ihm gefürchtete Ereignis nicht eintritt.
Je stärker die tatsächlichen Erfahrungen den angstrelevanten Erwartungen widersprechen, desto größer ist der inhibitorische Lerneffekt.
Bei einer derartigen Exposition geht es primär um das Erlernen neuer
Verhaltensweisen und um die Vermittlung neuer Erfahrungen nach dem Motto „Was
möchtest du tun und erleben können?“ und weniger – wie bei
habituationsorientierter Expositionstherapie – um eine Angstreduktion nach dem
Motto „Bleibe so lange in der Angstsituation, bis deine Angst abgenommen hat.“
Zwecks Widerlegung der Befürchtungen des Patienten soll genau das provoziert werden, was der Patient fürchtet (z.B. sterben, ohnmächtig werden, verrückt werden, peinlich auffallen).
Die Exposition wird somit so lange fortgesetzt, bis die entsprechende Erwartungsangst des Patienten widerlegt ist und nicht solange, bis seine Angst an sich reduziert ist.
Diese Strategie erfordert das bewusste Wahrnehmen des angstbesetzten Reizes
sowie das Nicht-Eintreten der aversiven Konsequenzen.
Extinktionslernen bedeutet ein neues Lernen, nämlich das Lernen eines nichtkontingenten Zusammenhangs zwischen diesen beiden Reizen.
Ablenkung wäre ein schädliches Sicherheitsverhalten.
Ebenso schädlich könnte eine vorherige kognitive Umstrukturierung sein (z.B. „Herzrasen bzw. Schwindel ist nicht gefährlich“), weil dadurch der Widerspruch zwischen gefürchteter Erwartung und tatsächlichem Ereignis vermindert wird.
Kognitive Strategien sollen nach diesem Konzept erst nach der Exposition
eingesetzt werden, um die Gedächtniskonsolidierung zu erleichtern.
Im Gegensatz zum Habituationsmodell, bei dem die Exposition so lange fortgesetzt und so oft wiederholt wird, bis die Angst abnimmt, wird beim inhibitorischen Lernmodell die Exposition so lange durchgeführt und so häufig wiederholt, bis die individuellen angstbezogenen Erwartungen überprüft und widerlegt sind, d.h. es sollen die spezifischen Erwartungsängste und nicht unbedingt die Angst an sich abnehmen.
Es geht um Neulernen
und nicht um Angstabbau oder Angstreduktion (was daher auch nicht versprochen
wird).
Im Unterschied zum
Verhaltensexperiment, das im Therapieraum
ähnliche Ziele verfolgt, liegt der Schwerpunkt auf der Vermittlung neuer, bisher
gemiedener Erfahrungen in bestimmten Situationen, und zwar auf allen Ebenen des
Verhaltens (physiologisch, kognitiv, behavioral, emotional) und nicht nur auf
der Überprüfung bestimmter Hypothesen.
2.
Vertiefte Extinktion – Motto: „“Kombiniere
sukzessive verschiedene Angstreize!“
Bei dieser Form der Verbesserung des inhibitorischen Lernens werden im Rahmen der Exposition zuerst mehrere Angstsituationen einzeln und danach kombiniert aufgesucht.
Es sollen möglichst auch interne und externe Reize kombiniert werden.
Beispiel: zwei Aufgaben (z.B. Kaffee bzw. Alkohol trinken, einen Supermarkt
aufsuchen) werden zuerst allein und dann zusammen in einer Extinktionsphase
bewältigt (z.B. Kaffee bzw. Alkohol trinken in einem Einkaufszentraum).
Es soll auch eine bereits früher erfolgreich bewältigte Situation zusammen mit einem neuen gefürchteten Reiz aufgesucht werden.
Auf diese Weise wird die
Wahrscheinlichkeit des Wiederauftretens von Angst im Sinne eines Rückfalls
(Spontanerholung) vermindert.
3.
Verstärkte (massierte) Extinktion (Extinktion mit
gelegentlicher Verstärkung) – Motto: „Lass dich von deiner Angst immer wieder
überwältigen, indem du abwechselnd leichtere und schwierigere Situationen
aufsuchst!“
Es handelt sich dabei um die gezielte Herbeiführung unangenehmer Ereignisse und
Empfindungen während einer Expositionsübung, obwohl eine ähnliche Situation
(Supermarkt) früher schon erfolgreich bewältigt wurde.
Die bewusst erhöhte physiologische Erregung durch bestimmte Umstände (z.B. die Provokation einer Panikattacke in einem Supermarkt oder das bewusstes Fehlverhalten bei einem Sozialphobiker) führt zu einer neuen Lernerfahrung und vermindert das spätere Rückfallsrisiko, weil die Erwartungsangst vermindert wird.
Auf diese Weise werden unangenehme Ereignisse, die sonst zur Wiederkehr der
Angst führen könnten, vorweggenommen und bewältigt.
4.
Variierte Extinktion (Stimulusvariation) – Motto:
„Suche möglichst viele verschiedene Situationen auf, sorge für Abwechslung!“
Der Patient soll mehrere möglichst unterschiedliche Angstreize, das heißt möglichst viele unterschiedliche Situationen aufsuchen, statt sich ständig nur ähnlichen Angstreizen aussetzen.
Auf diese Weise wird die Generalisierung neuer Erfahrungen erleichtert und der
Zugriff auf das Extinktionsgedächtnis in zukünftigen Situationen gefördert.
Durch das Aufsuchen möglichst unterschiedlicher gefürchteter Situationen wird
das spätere Rückfallsrisiko vermindert.
Im Gegensatz zur gestuften Expositionstherapie auf der Basis einer Angsthierarchie erfolgt die Exposition mit Angstreizen zufällig, unabhängig vom Angstausmaß und einer Angstreduktion.
Auch die Zeitdauer der Exposition ist unterschiedlich. Die Variabilität des
Angstlevels (wiederholter Anstieg und Abfall der Angst) führt zu besseren
Expositionsergebnissen und geringeren Rückfallsraten.
5.
Kontextvariabilität (multiple Kontexte) – Motto:
„Variiere den Kontext!“
Alle interozeptiven, imaginativen und in-vivo-Expositionen sollten in mehreren
verschiedenen Kontexten und Umgebungen erfolgen, damit das inhibitorische Lernen
nicht kontextabhängig bleibt, wodurch die Rückfallsgefahr steigen würde.
Unterschiedliche Orte, Tageszeiten, Wochentage, mit und ohne Begleitung, sowie
bei unterschiedlicher Stimmung und Befindlichkeit verbessern das inhibitorische
Lernen.
Die Erfahrung der Bewältigbarkeit stets neuer Angstsituationen stärkt das Selbstvertrauen und die Zuversicht bezüglich neuer, unbekannter Situationen.
In diesem Sinn ist Habituation als Möglichkeit des Angstabbaus gar nicht
erwünscht, weil es weiteres Lernen verhindert.
6.
Verzicht auf Sicherheitsverhalten und
Sicherheitssignale – Motto: „Verlass dich auf dich selbst!“
Ein anhaltend erfolgreiches Extinktionslernen erfordert den vollständigen
Verzicht auf alle Tricks und Hilfsmittel, die zwar kurzfristig hilfreich,
langfristig aber schädlich sind. Inhibitorisches Lernen kann nur dann erfolgen,
wenn vorherige ängstliche Erwartungen durch die gemachten Expositionserfahrungen
widerlegt werden.
Alle Formen der Expositionstherapie beruhen auf einem sofortigen oder
sukzessiven Verzicht auf Sicherheitssignale und Sicherheitsverhaltensweisen, um
den Therapieeffekt zu steigern durch die Selbstzuschreibung von
Erfolgserlebnissen.
Ein nicht sofortiger, sondern nur sukzessiver Verzicht auf Sicherheitssignale
und Sicherheitsverhaltensweisen wird vor allem dann empfohlen, wenn sonst ein
Therapieabbruch droht, weil der Patient von Anfang an noch nicht dazu bereit
ist. Bei entsprechender Bereitschaft sollte gleich von Beginn an darauf
verzichtet werden.
7.
Erinnerungsreize (Abrufhinweise) – Motto: „Hole die
Erinnerung zurück, erinnere dich, was dir beim letzten Mal geholfen hat, nutze
Gedächtnisstützen!“
Phobiker haben Schwierigkeiten, in Ihrem Gedächtnis erfolgreiche Expositionserfahrungen abzuspeichern, um sie bei Bedarf abrufen zu können.
Dieses Problem ist nicht dadurch lösbar, dass die Betroffenen immer wieder aufs
Neue die belastende Erfahrung einer Exposition machen müssen, um bestätigt zu
bekommen, dass bestimmte Reize (Situationen, Objekte) nicht gefährlich sind.
Hinweisreize aus vorherigen, erfolgreichen
Expositionssitzungen sollen das Extinktionsgedächtnis des Patienten zugänglich
machen und den Abruf der angstfreien Assoziationen ermöglichen.
Inhibitorisches Lernen wird unterstützt durch die Erinnerung an erfolgreiche
Expositionen. Bestimmte Gedächtnisstützen, wie etwa ein Foto, ein Film, eine
Karte an der Wand mit einem bestimmten Spruch, eine Tagebuch-Eintragung oder ein
nach der Exposition auf dem Memo des Handys aufgenommener Text, ein Armband, das
auch bei der Exposition getragen wurde, können das Erfolgserlebnis rasch
abrufbar machen; diese sollen aber nicht als Sicherheitssignale missbraucht
werden.
Der Abruf erfolgreicher Expositionen aus dem Gedächtnis soll auch dazu genutzt
werden, relevante Ängste neuerlich mental zu durchleben und die Erfolgserwartung
bezüglich bevorstehender Situationen zu stärken.
Erinnerungsreize sollten erst nach längerer Expositionstherapie eingesetzt
werden, weil sie sonst die Erwartungsangst reduzieren und dadurch der Lerneffekt
des Widerlegens der Befürchtungen vermindert wird.
8.
Erneute Konsolidierung (Rekonsolidierung) – Motto:
„Aktiviere dein Furchtgedächtnis, um anschließend eine erfolgreiche
Lernerfahrung abzuspeichern!“
Aktivierte Gedächtnisinhalte sind besonders empfänglich für korrigierende Lernerfahrungen.
Der Abruf bereits gespeicherter Gedächtnisinhalte zu einem
späteren Zeitpunkt führt über neue neurochemische Prozesse zu einer erneuten
Speicherung im Langzeitgedächtnis.
Der Patient kann vor der Exposition in vivo die Furchtstruktur aktivieren, indem er sich intensiv an ungünstige Lernerfahrungen erinnert, angstbesetzte Bilder anschaut, ängstliche Vorstellungen entwickelt oder eine mentale Expositionsübung vor einer Exposition in vivo macht.
Bei der anschließenden Exposition in vivo besteht dann eine besondere Aufnahmefähigkeit für korrigierende Erfahrungen.
Eigenständige Expositionen sollten daher im Abstand von wenigen Stunden bis Tagen nach einer therapeutenbegleiteten Exposition erfolgen.
Auffrischungsexpositionen in gewissen Abständen sind sehr wichtig für den
anhaltenden Therapieerfolg.
9.
Verbalisierung der momentanen Empfindungen
(Affekt-Labeling) – Motto: „Fasse dein Befinden in Worte!“
Der Patient soll sein emotionales Erleben während der Exposition beschreiben.
Sprachliche Prozesse aktivieren den ventrolateralen präfrontalen Kortex, der die Aktivität der Amygdala (Mandelkern) hemmt – und damit das limbische System.
Verbalisierung der jeweiligen Befindlichkeit während der Exposition führen nachweislich zu einem besseren Inhibitionslernen.
Die Verbalisierung von Emotionen, ohne diese ändern zu wollen, ist in
Angstsituationen hilfreicher als das traditionelle Konzept der kognitiven
Umstrukturierung.
Ängstliche (ebenso auch depressive) Personen haben laut Studien Defizite in der
Emotionsregulation, das passt gut zu ihren Defiziten im Extinktionslernen.
10.
Aufmerksamkeitsfokus auf
dem konditionierten Stimulus (CS) – Motto: „Bleib dran!“
Der Patient soll mit allen
Sinnen die momentane Befindlichkeit wahrnehmen, statt sich abzulenken, er soll
also seine aktuellen Beschwerden intensiv wahrnehmen: Herzrasen, Schwindel,
Übelkeit u.a.
11.
Positive Valenz der
Situation – Motto: „Stelle dir das Ziel möglichst attraktiv vor!“
Der
Patient soll zur Verbesserung seiner Motivation, eine angstbesetzte Situation
aufsuchen, die mit einem attraktiven Ziel einhergeht, das stärker ist als die
abschreckende Angst.
12.
Kognitive Extinktionsverstärker – Motto: „Erweitere
dein Gedächtnis mit medikamentöser Hilfe!“
Das inhibitorische Lernen soll durch die Einnahmen von Substanzen wie
D-Cycloserin (ein Tuberkulosemittel) und Cortisol gefördert werden, die als
Extinktionsverstärker gelten (Wirkung auf die NMDA-Rezeptoren in der Amygdala).
Cortisol hat bei akutem Stress eine gedächtnisfördernde, bei chronischem Stress
eine gedächtnisschwächende Wirkung.
Cortisol wirkt bei der Exposition emotional erregend, was die spätere gedächtnisfördernde Wirkung ermöglicht – im Gegensatz zu Tranquilizern, die das Extinktionslernen verhindern, weil sie die emotionale Erregung dämpfen.
Diese
Mittel erleichtern die Extinktion über die Deaktivierung des Hippocampus.
Bestimmte Substanzen wie Propranolol (Blutdruckmittel, in Österreich Präparat
Inderal) schwächen das Furchtgedächtnis.
Die „dritte Welle“ der Verhaltenstherapie
Das Konzept der Vermeidung und die Gegenstrategie der Exposition gewinnen im Rahmen der dritten Welle der Verhaltenstherapie durch die achtsamkeits- und akzeptanzbasierten Therapiekonzepte eine neue und umfassendere Bedeutung.
Die achtsamkeitsbasierten Therapien, die aus dem Buddhismus abgeleitet wurden, vertreten die zentrale These: Das Vermeiden von Erfahrung führt zu Problemen und Leidenszuständen.
Der primäre seelische und körperliche Schmerz ist eine ganz normale menschliche Erfahrung.
Erst durch Vermeidungs- und
Kontrollstrategien entwickelt sich daraus der unnötige sekundäre Schmerz, der zu
Leidenszuständen führt.
Achtsamkeits- und akzeptanzbasierte Konzepte vermitteln Menschen mit Ängsten die Sichtweise, dass der Kampf gegen Ängste sinnlos ist und ein nicht zu gewinnendes Spiel darstellt.
Von den verschiedenen Richtungen innerhalb der
dritten Welle der Verhaltenstherapie erweitert vor allem die
Akzeptanz- und
Commitmenttherapie (ACT) das
lerntheoretische Konzept der negativen Verstärkung durch Flucht und Vermeidung
in Richtung einer allgemeinen „Erlebnisvermeidung“ (experiental avoidance).
Exposition ist demnach eine Behandlungsmethode, die die Tendenz zur
Erlebnisvermeidung gegenüber der Außenwelt, das heißt gegenüber von Situationen,
und gegenüber der Innenwelt, das heißt gegenüber Gedanken, Gefühlen und
Körpersensationen, unterbricht und damit neue und hilfreiche Erfahrungen mit
sich selbst und der Umwelt ermöglicht.
Es werden folgende Botschaften vermittelt:
·
„Deine Angst muss nicht abnehmen oder verschwinden, damit du erfolgreich handeln
kannst. Es geht vielmehr darum, dass du jene Ziele im Leben anstrebst, die aus
deinen zentralen Werten resultieren.“
·
„Ändere deine Einstellung zu Ängsten. Gib den Kampf gegen die Angst auf und
konzentriere dich auf das, was du erreichen willst, um ein erfüllteres Leben
führen zu können.“
Exposition stellt in diesem Sinn eine sehr universell einsetzbare Strategie dar,
da letztlich alle psychischen Störungen in irgendeiner Weise zumindest auch
Störungen der Wahrnehmung, der Verarbeitung und der Kontrolle von Emotionen
sind. ACT weist (neben anderen therapeutischen Konzepten wie der
achtsamkeitsbasierten Stressbewältigung) auf die zentrale Bedeutung der
Erlebnisvermeidung für die Entwicklung psychischer Störungen hin.
Das Kernproblem bei psychischen Störungen ganz allgemein – und nicht nur von Angststörungen – ist das Vermeiden von Erfahrungen, und zwar von Erfahrungen der Unlust aufgrund des Bedürfnisses nach Lust.
Anstelle von Unangenehmen möchten wir ständig Glücksgefühle und Wohlbefinden haben.
Angststörungen sind im Kern Ausdruck von Erlebnisvermeidung, Anzeichen
für die mangelnde Bereitschaft, sich intensiv mit unangenehmen äußeren und
inneren Bedrohungsgefühlen auseinanderzusetzen.
Alle Strategien der Ablenkung sind ausgefeilte Techniken der Vermeidung unangenehmer Gedanken, störender Emotionen und gefürchteter körperlicher Missempfindungen.
Vom Fernsehen bis zum Internet ergeben sich in der Neuzeit neue Möglichkeiten
der Vermeidung des Hier und Jetzt sowie von unangenehmen Empfindungen.
Literatur
Abramowitz, J.S., Deacon, B.J. & Whiteside, S.P.H. (2012). Exposure Therapy for
Anxiety. Principles and Practice. New York: The Guilford Press.
Craske, M. (2014). Exposure Strategies – State of the Art. 86 Minuten Vortrag am
Karoliska Institutet in Stockholm am 29.10.2014. youtube.com
Craske, M. (2015).
Optimizing exposure therapy for anxiety disorders: An inhibitory learning and
inhibitory regulation approach. Verhaltenstherapie, 25, 134–143.
Craske, M.G., Kircanski, K., Zelikowsky, M., et al. (2008). Optimizing
inhibitory learning during exposure Therapy. Behaviour Research and Therapy, 46,
5–27.
Craske, M.G., Liao, B. Brown, L., & Vervliet, B. (2012). Role of inhibition in
exposure therapy. Journal of Experimental Psychopathology, 3, 322–345.
Craske, M.G., Treanor,
M., Conway, C.C., et al. (2014). Maximizing exposure therapy: an inhibitory
learning approach. Behav. Res. Ther., 58, 10–23.
Eifert, G.-H. &
Forsyth, J.P. (2008). Akzeptanz- und Commitment-Therapie
für
Angststörungen. Ein praktischer Leitfaden zur Anwendung von Achtsamkeit,
Akzeptanz und wertgeleiteten Verhaltensänderungsstrategien. Tübingen: dgvt
Verlag.
Forsyth, J.P. & Eifert, G.H. (2010). Mit Ängsten und Sorgen erfolgreich umgehen.
Ein Ratgeber für den achtsamen Weg in ein erfülltes Leben mit Hilfe von ACT.
Göttingen: Hogrefe. Oxford University Press.
Hand, I. (2000). Reizkonfrontation. In: M. Linden & M. Hautzinger (Hrsg.).
Verhaltenstherapie. Techniken und Methoden (S. 164-174). Berlin: Springer.
Heidenreich, T. &
Michalak, J. (Hrsg.). (2013). Die „dritte Welle“ der Verhaltenstherapie.
Grundlagen und Praxis. Weinheim: Beltz Verlag.
Hoffmann, N. & Hofmann, B. (2012). Exposition bei Ängsten und Zwängen. 3.,
überarb. Aufl. Weinheim: Beltz Verlag.
Hoyer, J. & Heinig, I. (2015).Wie sind Angststörungen verhaltenstherapeutisch zu
behandeln? Neue Entwicklungen. Psychotherapie im Dialog, 2, S. 16–21.
Klan, T. &Hiller, W. (2015). Die Wirksamkeit einzelner Therapieelemente in
Routinetherapien bei Panikstörung und Agoraphobie. Verhaltenstherapie, 24, S.
157–167.
Michael, T. & Tuschen-Caffier, B. (2008).
Konfrontationsverfahren. In: Margraf, J. & Schneider, S. (Hrsg.), Lehrbuch der
Verhaltenstherapie. Band 1: Grundlagen, Diagnostik, Verfahren, Rahmenbedingungen
(S. 515–530). (3., vollst. bearb. u. erw. Auf.), Heidelberg: Springer:
Mohr, C. & Schneider, S. (2015). Zur Rolle der Exposition bei der Therapie von
Angststörungen. Verhaltenstherapie, 25, 32–39.
Morschitzky, H. (2009).
Angststörungen. Diagnostik, Konzepte, Therapie,
Selbsthilfe. 4. Auflage. Wien: Springer Verlag.
Morschitzky, H, (2015). Endlich leben ohne Panik. Die besten Hilfen bei
Panikattacken. Munderfing: Fischer & Gann. – Zusätzlich eine App für IOS und
Android.
Morschitzky, H. &
Sator, S. (2011).
Die zehn Gesichter der Angst. Ein Selbsthilfe-Programm
in 7 Schritten. 6. Auflage. Düsseldorf: Patmos Verlag.
Neudeck, P. (2015). Expositionsverfahren. Techniken der Verhaltenstherapie.
Weinheim: Beltz Verlag.
Neudeck, P. & Wittchen, H.-U. (Hrsg.). (2005). Konfrontationstherapie bei
psychischen Störungen. Göttingen: Hogrefe Verlag.
Neudeck, P. & Wittchen, H-U. (Eds.). (2012). Exposure Therapy. Rethinking the
Model – Refining the Method. New York: Springer.
Orsillo, S. & Roemer, L. (2012). Der achtsame Weg durch die Angst. Wie wir
andauernde Sorgen und Grübeleien hinter uns lassen und zu einem erfüllten Leben
finden. Freiburg im Breisgau: Arbor Verlag.
Pittig, A., Stevens, S., Vervliet, B., Treanor, M., Conway, C.C., Zbozinek, T. &
Craske, M. (2015). Optimierung expositionsbasierter Therapie. Ein Ansatz des
inhibitorischen Lernens. Psychotherapeut.
Rachman, S., Radomsky, A.S., & Shafran, R. (2008). Safety behaviour: A
reconsideration. Behaviour Research and Therapy, 2008.
Richard, D.C. Lauterbach, D. (Eds.). (2007). Comprehensive handbook of exposure
therapies. New York: Academic.
Sismore, T.A. (2012). The clinician’s guide to exposure therapies for anxiety
spectrum disorders. Integrating techniques from CBT, DBT, and ACT. Oakland, CA:
New Harbinger Publications.
Tirch, D. (2014). Selbstmitgefühl als Weg durch
Angst und Panik. Ein praktischer Ratgeber auf der Basis der Compassion Focused
Therapy. Freiburg im Breisgau: Arbor Verlag.