Dr. Hans Morschitzky

Klinischer und Gesundheitspsychologe

Psychotherapeut

Verhaltenstherapie und Systemische Familientherapie

A-4040 Linz, Hauptstraße 77     

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F50  Essstörungen nach ICD-10-Diagnostik 

F50.0  Anorexia nervosa

F50.1  Atypische Anorexie

F50.2  Bulimia nervosa

F50.3  atypische Bulimia nervosa

F50.4  Essattacken bei anderen psychischen Störungen (übermäßiges Essen nach belastenden Ereignissen)

F50.5  Erbrechen bei anderen psychischen Störungen

F50.8  sonstige Essstörungen (psychogener Appetitverlust)

F50.9  nicht näher bezeichnete Essstörung (binge eating disorder: „Fressattacken“ ohne Erbrechen)

 

F50.0  Anorexia nervosa

Die Anorexia ist durch einen absichtlich selbst herbeigeführten oder aufrechterhaltenen Gewichtsverlust charakterisiert. Am häufigsten ist die Störung bei heranwachsenden Mädchen und jungen Frauen; heranwachsende Jungen und junge Männer, Kinder vor der Pubertät und Frauen bis zur Menopause können ebenfalls betroffen sein. Die Krankheit ist mit einer spezifischen Psychopathologie verbunden, wobei die Angst vor einem dicken Körper und einer schlaffen Körperform als eine tiefverwurzelte überwertige Idee besteht und die Betroffenen eine sehr niedrige Gewichtsschwelle für sich selbst festlegen. Es liegt meist Unterernährung unterschiedlichen Schweregrades vor, die sekundär zu endokrinen und metabolischen Veränderungen und zu körperlichen Funktionsstörungen führt. Zu den Symptomen gehören eingeschränkte Nahrungsauswahl, übertriebene körperliche Aktivitäten, selbstinduziertes Erbrechen und Abführen und der Gebrauch von Appetitzüglern und Diuretika. Eine Anorexie kommt – je nach Studie – bei 0,2 bis 0,8 % der 14- bis 20-jährigen Frauen vor.

Diagnosekriterien:

1.  Tatsächliches Körpergewicht mindestens 15 % unter dem erwarteten (entweder durch Gewichtsverlust oder nie erreichtes Gewicht) oder ein Body Maß Index (BMI) von 17,5 oder weniger. Bei Patienten in der Vorpubertät kann die erwartete Gewichtszunahme während der Wachstumsperiode ausbleiben. (Der BMI ergibt sich aus der Formel „Körpergewicht dividiert durch die Körpergröße zum Quadrat“).

2.  Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch:
a. Vermeidung hochkalorischer Speisen; sowie eine oder mehrere der folgenden Verhaltensweisen:
b. selbstinduziertes Erbrechen;
c. selbstinduziertes Abführen;
d. übertriebene körperliche Aktivitäten;
e. Gebrauch von Appetitzüglern oder Diuretika.

3.  Körperschema-Störung in Form einer spezifischen psychischen Störung: die Angst, zu dick zu werden, besteht als eine tiefverwurzelte, überwertige Idee; die Betroffenen legen eine sehr niedrige Gewichtsschwelle für sich selbst fest.

4.  Eine endokrine Störung auf der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse. Sie manifestiert sich bei Frauen als Amenorrhoe und bei Männern als Libido- oder Potenzverlust. (Eine Ausnahme ist das Persistieren vaginaler Blutungen bei anorektischen Frauen mit einer Hormonsubstitutionsbehandlung zur Kontrazeption.) Erhöhte Wachstumshormon- und Kortisolspiegel, Änderungen des peripheren Metbolismus von Schilddrüsenhormonen und Störungen der Insulinsekretion können gleichfalls vorliegen.

5.  Bei Beginn der Erkrankung vor der Pubertät ist die Abfolge der pubertären Entwicklungsschritte verzögert oder gehemmt (Wachstumsstopp; fehlende Brustentwicklung und primäre Amenorrhoe beim Mädchen; bei Knaben bleiben die Genitalien kindlich). Nach Remission wird die Pubertätsentwicklung häufig normal abgeschlossen, die Menarche tritt aber verspätet ein.

Subtypen der Anorexie:

F 50.00 Restriktive Form. Anorexie ohne aktive Maßnahmen zur Gewichtsabnahme (Erbrechen, Abführen etc.).

F 50.01 Bulimische Form. Anorexie mit aktiven Maßnahmen zur Gewichtsabnahme (Erbrechen, Abführen, etc. in Verbindung mit Heißhungerattacken).

 

F50.1  Atypische Anorexie

Es handelt sich um Störungen, die einige Kriterien der Anorexia nervosa erfüllen, das gesamte klinische Bild rechtfertigt die Diagnose jedoch nicht, z.B. können die Schlüsselsymptome wie deutliche Angst vor dem zu Dicksein oder die Amenorrhoe fehlen, trotz eines erheblichen Gewichtsverlustes und gewichtsreduzierendem Verhalten. Die Diagnose ist bei einer bekannten körperlichen Krankheit mit Gewichtsverlust nicht zu stellen. Solche Patientinnen werden gewöhnlich in Allgemeinkrankenhäusern oder in der Primärversorgung angetroffen. Patientinnen, die alle Kernsymptome der Anorexie in einer leichten Ausprägung aufweisen, werden ebenfalls am besten mit dieser Diagnose beschrieben.

 

F50.2  Bulimia nervosa (Ess-Brech-Sucht)

Die Bulimia nervosa (Bulimie) ist durch wiederholte Anfälle von Heißhunger (Essattacken) und eine übertriebene Beschäftigung mit der Kontrolle des Körpergewichts charakterisiert. Bulimia nervosa heißt übersetzt „nervöser Ochsenhunger“ und weist auf ein Kennzeichen der Erkrankung hin: die Heißhungeranfälle. Den Essattacken, bei denen sehr große Mengen Nahrung mit einigen tausend Kalorien in kurzer Zeit verschlungen werden, folgen gewichtsregulierende Maßnahmen. Sie sollen dem dick machenden Effekt von Nahrung entgegenwirken: selbst induziertes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln, exzessiver Sport und zeitweise Hungerperioden. Bei den konsumierten Nahrungsmitteln handelt es sich überwiegend um hochkalorische, im sonstigen Alltag gemiedene Lebensmittel (Süßes, Fettes, Kohlehydrate), aber auch um normale Nahrungsmittel, die die Patientin sich aus Gründen der Restriktion nicht in normalem Maße oder regelmäßigem Umfang erlauben würde zu essen. Neben massiven Fressanfällen werden oft auch kleinere Nahrungsmengen (z.B. ein Keks, ein Stück Kuchen, ein Eis, eine Semmel) quasi „außer der Reihe“ konsumiert, was dem Restriktionswunsch der Patientin bzw. den oftmals sehr rigiden Vorstellungen normaler Nahrungsaufnahme widerspricht und daher von den gleichen kompensatorischen Maßnahmen gefolgt sein kann. Das Merkmal des Kontrollverlusts gilt als wichtiges definitorisches Kriterium, bei chronischen Patienten ist jedoch eher von einer verringerten Kontrolle über das Essen auszugehen. Patientinnen kaufen z.B. oft gezielt für einen nachfolgend auftretenden Fressanfall ein oder unterbrechen Fressanfälle kurzfristig durch andere Tätigkeiten, um sie anschließend wieder aufzunehmen.

Es besteht eine krankhafte Furcht, dick zu werden, bei gleichzeitiger Gier nach Nahrungsmitteln. Die Scham über diese Erkrankung führt dazu, dass die Patientinnen erst mehrere Jahre nach dem Ausbruch in eine psychotherapeutische Behandlung kommen. Die Folgen der Bulimie sind nicht so augenfällig wie die der Anorexie, so erhält das Umfeld erst spät Kenntnis von der Erkrankung. Viele psychische Merkmale der Bulimie ähneln denen der Anorexie, so die übertriebene Sorge um Körperform und Gewicht. Wiederholtes Erbrechen kann zu Elektrolytstörungen und körperlichen Komplikationen führen. Bei 25-30 % der Bulimikerinnen besteht in der Anamnese eine frühere Episode einer Anorexia nervosa mit einem Intervall von einigen Monaten bis zu mehreren Jahren, der umgekehrte Verlauf ist viel seltener. Eine Bulimie kommt bei rund 2 % der Bevölkerung vor, das  Frauen-Männer-Verhältnis beträgt etwa 11:1. Bei Männern tritt eine Bulimie am ehesten unter Leistungssportlern auf in Zusammenhang mit restriktivem Essverhalten mit dem Ziel Halten/Erreichen bestimmter Gewichtsklassen.

Klinisch diagnostische Leitlinien:

1.  Eine andauernde Beschäftigung mit Essen, eine unwiderstehliche Gier nach Nahrungsmitteln; die Patientin erliegt Essattacken, bei denen große Mengen Nahrung in sehr kurzer Zeit konsumiert werden.

2.  Die Patientin versucht, dem dick machenden Effekt der Nahrung durch verschiedene Verhaltensweisen entgegenzusteuern: selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln, zeitweilige Hungerperioden, Gebrauch von Appetitzüglern, Schilddrüsenpräparaten oder Diuretika. Wenn die Bulimie bei Diabetikkerinnen auftritt, kann es zu einer Vernachlässigung der Insulinbehandlung kommen.

3.  Einer der wesentlichen psychopathologischen Auffälligkeiten besteht in der krankhaften Furcht davor, zu dick zu werden: die Patientin setzt sich eine scharf definierte Gewichtsgrenze, deutlich unter dem prämorbiden, vom Arzt als optimal oder „gesund“ betrachteten Gewicht. Häufig lässt sich in der Vorgeschichte mit einem Intervall von einigen Monaten bis zu mehreren Jahren eine Episode einer Anorexia nervosa nachweisen. Diese frühere Episode kann voll ausgeprägt gewesen sein oder war eine verdeckte Form mit mäßigem Gewichtsverlust oder einer vorübergehenden Amenorrhoe.

Forschungskriterien:

A.  Häufige Episoden von Fressattacken (mindestens zweimal pro Woche während einer Drei-Monats-Periode), bei denen große Mengen an Nahrung in sehr kurzer Zeit konsumiert werden.

B.  Andauernde Beschäftigung mit dem Essen, eine unwiderstehliche Gier oder Zwang zu essen.

C.  Die Patienten versuchten der Gewichtszunahme durch die Nahrung mit einer oder mehreren der folgenden Verhaltensweisen entgegenzusteuern (Gegenmaßnahmen):

1.  selbstinduziertes (d.h. selbst herbeigeführtes) Erbrechen

2.  Missbrauch von Abführmitteln

3.  zeitweilige Hungerperioden (Fasten, um schlank zu werden)

4.  Gebrauch von Appetitzüglern, Schilddrüsenpräparaten, Diuretika (= harntreibenden Mitteln).

D. Selbstwahrnehmung als "zu fett", mit einer sich aufdrängenden Furcht, zu dick zu werden (was meist zu Untergewicht führt).

 

F50.3  atypische Bulimia nervosa

Es handelt sich um Störungen, die einige Kriterien der Bulimia nervosa erfüllen, das gesamte klinische Bild rechtfertigt die Diagnose jedoch nicht. Zum Beispiel können wiederholte Essanfälle und übermäßiger Gebrauch von Abführmitteln auftreten ohne signifikante Gewichtsveränderungen, oder es fehlt die typische übertriebene Sorge um Körperform und Gewicht.

 

F50.4  Essattacken bei anderen psychischen Störungen

Übermäßiges Essen als Reaktion auf belastende Ereignisse, wie etwa Trauerfälle, Unfälle und Geburt

 

F50.5  Erbrechen bei anderen psychischen Störungen

Wiederholtes Erbrechen bei dissoziativen Störungen (F44) und Hypochondrie (F45.2) und Erbrechen, das nicht unter anderen Zustandsbildern außerhalb des Kapitels V klassifiziert werden kann. Diese Subkategorie kann zusätzlich zu O21 (exzessives Erbrechen in der Schwangerschaft) verwendet werden, wenn hauptsächlich emotionale Faktoren wiederholte Übelkeit und Erbrechen verursachen.

 

F50.8  sonstige Essstörungen

Psychogener Appetitverlust und Pica (Verzehr nicht essbarer Substanzen wie Erde) bei Erwachsenen.

 

F50.9  nicht nähe bezeichnete Essstörung (binge eating disorder: Essattacken ohne Erbrechen)

Eine sehr heterogene Restkategorie: Dazu zählen anorektische und bulimische Essstörungen, die nicht die vollen Diagnosekriterien erfüllen, sowie die Binge-Eating-Störung. Bei der Binge-Eating-Störung bestehen regelmäßige Heißhungeranfälle, ohne dass die weiteren Kriterien der Anorexie oder Bulimie auftreten. Die Fressattacken sind weniger begrenzt auf als bei der Bulimie (z.B. über Tage nicht episodenhaft), bestehen mindestens an zwei Tage pro Woche, werden von keinen kompensatorischen Maßnahmen (Erbrechen, Abführmittel) gefolgt und weisen typische Merkmale auf.

Im ICD-10 wird die Binge-Eating-Störung weder als eigenständige Störung aufgeführt noch sonst irgendwo erwähnt. Es besteht jedoch die Möglichkeit der Codierung unter F50.9. Es gibt derzeit noch keine offizielle deutsche Übersetzung. To „binge“ kommt aus dem Amerikanischen und heißt „ein Fressgelage abhalten“.

Binge Eating ist eine relativ neue Störung, die in den USA 1994 offiziell in die Klassifikation des DSM-IV aufgenommen wurde, und zwar als vorläufige Subgruppe unter „nicht näher bezeichnete Essstörungen“.

 

A. Wiederholte Episoden von „Fressattacken“, gekennzeichnet durch beide der folgenden Merkmalen

1.  Essen einer Nahrungsmenge in einem abgrenzbaren Zeitraum (z.B. 2 Stunden), die deutlich größer ist als die Menge, die die meisten Menschen in einem ähnlichen Zeitraum unter ähnlichen Umständen essen würden.

2.  Gefühl des Kontrollverlusts über das Essen während der Episode (z.B. ein Gefühl, dass man mit dem Essen nicht aufhören kann bzw. nicht kontrollieren kann, was und wieviel man isst).

B. Die Episoden von „Fressanfällen“ treten gemeinsam mit mindestens drei der folgenden Symptome auf:

1.  Wesentlich schnelleres Essen als normal,

2.  Essen bis zu einem unangenehmen Völlegefühl,

3.  Essen großer Nahrungsmengen, obwohl man nicht hungrig ist,

4.  Alleine essen aus Verlegenheit über die Menge, die man isst,

5.  Ekelgefühle gegenüber sich selbst, Deprimiertheit oder große Schuldgefühle nach einem Essanfall.

C. Es besteht ein deutlicher Leidensdruck hinsichtlich der „Fressanfälle“.

D. Die „Fressanfälle“ treten im Durchschnitt an mindestens 2 Tagen pro Woche über 6 Monate auf.

E. Die „Fressanfälle“ sind nicht mit der regelmäßigen Anwendung von gegensteuernden Maßnahmen (z.B. abführende Maßnahmen, Fasten oder exzessiver Sport) verbunden und treten auch nicht ausschließlich im Verlauf einer Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa auf.

 

Häufig leiden die Betroffenen an Übergewicht (BMI = 25-30 kg/qm) oder Adipositas (BMI > 30 kg/qm). Wenn Binge Eating die Reaktion auf belastende Ereignisse ist und zu Übergewicht geführt hat, ist auch eine Diagnose unter F50.4 (Essattacken bei sonstigen psychischen Störungen) möglich.

 

Die Binge-Eating-Störung betrifft etwa 2 % der Bevölkerung und ist damit die häufigste Essstörung. Unter den Übergewichtigen leiden ca. 5 % an der Binge-Eating-Störung. Anders als bei der Magersucht oder der Bulimie sind von der Binge-Eating-Störung auch viele Männer betroffen, und zwar etwa 35 % der Patienten.

 

Die Menschen, die unter derartigen Essattacken leiden, schämen sich oft dafür. Wenn der Heißhungeranfall gestillt ist, treten depressive Gefühle auf. Oft wird dann versucht, weitere Essattacken zu unterdrücken, um wieder Selbstkontrolle über das eigene Essverhalten zu erlangen. Wenn dies scheitert, ziehen die Betroffenen sich häufig zurück und leben ihre Essattacken im Verborgenen aus. Dabei sind viele so geschickt, dass selbst nahe Freunde oder Familienangehörige nichts von der Essstörung erfahren. Die unkontrollierbaren Essanfälle können auch dazu führen, dass Betroffene nicht mehr zur Arbeit oder zur Schule gehen und ein soziales Abseits droht.

 

Häufigste komorbide Störungen bei Anorexia und Bulimia nervosa

1.  Affektive Störungen: Depression und Dysthymie (bei 50-75 %); bei einem Drittel beginnt die depressive Störung vor der Essstörung, bei einem Drittel nach der Essstörung und bei einem Drittel etwa gleichzeitig.

2.  Angststörungen: Sozialphobie bei beiden Essstörungen, häufiger bei Bulimie (bei 30 %), der Bulimie vorausgehend, Zwangsstörungen und zwanghafte Persönlichkeitsstörungen öfter bei Anorexie (bis zu 25 %).

3.  Substanzmissbrauch und -abhängigkeit: häufiger bei Bulimie (bei 30-37 %), der Bulimie nachfolgend.

4.  Persönlichkeitsstörungen: Cluster B: Borderline-, histrionische und narzisstische Persönlichkeitsstörungen; Cluster C: vermeidend-selbstunsichere, dependente oder zwanghafte Persönlichkeitsstörungen Bei den restriktiven anorektischen Patientinnen dominieren die zwanghaften und vermeidenden Persönlichkeitsstörungen des Cluster C. Persönlichkeitsstörungen des Cluster B kommen deutlich häufiger vor bei der bulimischen Form der Anorexie und bei der Bulimie. Cluster C-Persönlichkeitsstörungen verteilen sich auf beide anorektische Gruppen und vor allem Bulimikerinnen.

 

Psychosoziale Faktoren der Bulimie

Hinter einer Bulimie stehen gewöhnlich folgende Ursachen und Probleme:

  1. mangelndes Selbstwertgefühl (alle Studien ergeben ein beeinträchtigtes Selbstwertkonzept, was allerdings nicht krankheitsspezifisch ist, da dies auch bei anderen psychischen Patienten so der Fall ist),  

  2. gesellschaftliches Schlankheitsideal als Ersatz für mangelnde weibliche Identität (das vorherrschende Schlankheitsideal entspricht einem Gewicht, das bei den meisten Frauen unter ihrem biologisch vorgegebenen Gewichtsbereich bzw. Normalgewicht liegt; die Diskrepanz zwischen biologischem und gesellschaftlichem Sollgewicht begünstigt den Teufelskreis der Bulimie),

  3. Autonomie-Probleme (mangelnde Selbstständigkeit),

  4. bestimmte familiäre Interaktionsmuster: zu hoher oder zu geringer Zusammenhalt (Kohäsion), enge emotionale Verstrickung, Überbehütung, Konfliktvermeidung, Rigidität, geringer affektiver Ausdruck, hohe elterliche Erwartungen,

  5. Unsicherheit im weiblichen Körper und in der weiblichen Rolle,

  6. sexuelle Probleme,

  7. Beziehungsprobleme,

  8. sexueller Missbrauch (kommt bei anorektischen und bulimischen Patientinnen im Vorfeld der Essstörung gehäuft vor, es handelt sich dabei jedoch – im Gegensatz zur landläufigen Meinung – um einen unspezifischen Faktor insofern, als sexueller Missbrauch auch bei anderen psychiatrischen Patientinnen gehäuft vorkommt; in einer Längsschnittstudie konnten sexueller Missbrauch und körperliche Vernachlässigung als Risikofaktoren für spätere Essstörungen bestätigt werden),

  9. mangelnde Selbst- und Körperwahrnehmung (affektive und viszerale Reize können nicht adäquat wahrgenommen werden, was die Entwicklung einer bulimischen Essstörung begünstigt),

  10. Probleme im Umgang mit Emotionen ganz allgemein,

  11. unbewältigte, nicht ausgedrückte emotionale Probleme wie Ärger oder Wut über bestimmte Personen,  

  12. in Situationen des Allein-Seins Langeweile und Unfähigkeit zur Tagesstrukturierung,

  13. belastende Lebensereignisse (z.B. nicht verkraftete Trennungen, familiäre Situation nach sexuellem Missbrauch; doch auch dies stellt einen unspezifischen Faktor dar, da dies auch bei anderen psychischen Störungen vorkommt),

  14. Perfektionismus (vor allem bei bulimischen Anorektikerinnen),

  15. Leistungsdruck im sportlichen Bereich (Erreichen und Halten bestimmter Gewichtsklassen; dies erklärt, warum vermehrt auch Männer unter einer Bulimie leiden).

 

In den Familien von Essgestörten findet man gehäuft psychische Erkrankungen, Essstörungen und elterliches Übergewicht (z.B. eine Mutter, die sich ständig mit Figur, Essen und Diät beschäftigt, oder ein Vater, dem die Figur bei allen weiblichen Familienmitgliedern sehr wichtig ist, weil er anderenfalls ständig negative Bemerkungen von sich gibt). Laut Zwillingsstudien besteht eine familiäre Häufung von Bulimie und Anorexie. Frauen mit Bulimie versuchen über wenig Essen oder vorübergehendes Hungern eine bessere Figur und damit mehr Selbstbewusstsein zu erreichen, provozieren jedoch durch den längeren Nahrungsentzug ungewollt und anfangs auch unwissend erst recht Heißhungeranfälle. Sie können ihre inneren Zustände nicht richtig wahrnehmen und interpretieren jede Anspannung als Hungergefühl, während ihr Körper sich tatsächlich nach etwas anderem sehnt. Bulimikerinnen neigen bei Anspannungen jeder Art zum Essen, weil dadurch eine kurzfristige Entspannung gelingt; die nachfolgende Anspannung wird durch Erbrechen zu beseitigen versucht, was eine plötzliche kurzfristige Entspannung bewirkt, dann aber zu Schuldgefühlen führt, wieder etwas getan zu haben, was man eigentlich nicht tun wollte. Dies begünstigt bei änderungswilligen Bulimikerinnen eine depressive Symptomatik.

Biologische Zusammenhänge zwischen Essstörungen und Depression ergeben sich aus Bedeutung des Neurotransmitters Serotonin für beide Störungen (erniedrigte Konzentrationen der Serotonin-Hauptmetaboliten im Liquor bulimischer Patientinnen sowie umgekehrte Zusammenhänge zwischen der Häufigkeit der Heißhungeranfälle und der Konzentration der Metaboliten im Vergleich zu einer Kontrollgruppe). Das serotonerge System hat eine zentrale Bedeutung für das affektive Gleichgewicht und die Regulation des Essverhaltens.

 

Behandlung von Menschen mit Bulimie

 Diagnostische Abklärung

1.  ICD-10-Diagnostik. Typische oder untypische Essstörung? Welche Art? Komorbidität?

2.  Erhebung des psychopathologischen Befundes. Genaue Erfassung der Symptome und Beschwerden. Welche körperlichen, psychischen und kognitiven Folgesymptome der Essstörung liegen vor?

3.  Anamnese-Erhebung. Lebens- und Familiengeschichte erfassen.

4.  Subjektives Krankheitsmodell („Kausalattribuierungen“): Wie erklärt sich die Patientin selbst ihre Symptome und Probleme?

5.  Problemanalyse. Entwicklung des funktionalen Bedingungsmodells. Welche individuellen, familiären und sozialen Ursachen und Auslöser sind gegeben? Welche Funktionalität/Bedeutung hat die Essstörung? Welche Probleme soll sie lösen? Was wäre ohne Essstörung? Was trägt vorhersagbar zur Symptomverschlechterung bei?

6.  Ressourcenanalyse. Welche Fähigkeiten sind vorhanden? Was läuft trotz allem gut? Gibt es symptomfreie Zeiten? Wodurch war dies möglich?

7.  Selbsthilfeversuche und bisherige Therapien. Was haben Eigenbemühungen und ev. Therapien gebracht?

8.  Motivationsabklärung und Motivierung. Viele Essgestörte stehen einer Behandlung sehr ambivalent gegenüber. Viele Patientinnen haben weit überhöhte Ziele oder sind aufgrund der bisherigen Erfahrungen bereits sehr resignativ.

9.  Ziele und Behandlungsschwerpunkte abklären. Mit der Behandlung kann erst dann begonnen werden, wenn ein Behandlungsauftrag in Form von Therapiezielen besteht.

 

 

Behandlung

 1. Informationsvermittlung (Psychoedukation):

· Zusammenhänge zwischen Hungern und Symptomen der Essstörung (Informationsblätter)

· Bedeutung eines bestimmten Körpergewichts (individuell vorgegebenes Set-point-Gewicht)

· Folgeschäden im Zusammenhang mit der Essstörung (Informationsblätter)

· Wirksamkeit von Erbrechen und Abführmitteln zur Gewichtsreduktion (Informationsblätter)

· Soziokulturelle Einflüsse: das Schlankheitsideal (Sensibilisierung für den gesellschaftlichen Kontext)

2. Problemanalyse: Identifikation auslösender und aufrechterhaltender Bedingungen für gestörtes Essverhalten.

3. Umgang mit Essen und Gewicht:

· Normalisierung des Essverhaltens

· Abbau der verbotenen Nahrungsmitteln („schwarze Liste“ vermindern)

· Umgang mit Heißhungeranfällen und Erbrechen

· Musterunterbrechung

4. Identifikation und Bearbeitung zu Grunde liegender Problembereiche. Besserer Umgang mit individuellen, familiären, sozialen und beruflichen bzw. schulischen Ursachen und Auslösern.

5. Verbesserung bestimmter Fertigkeiten. Genuss-, Entspannungs-, Körperwahrungs-, Selbstsicherheitstraining, um mit typischen Alltagssituationen von der individuellen Seite her besser umgehen zu lernen.

6. Denkmuster analysieren und ändern.

7. Bearbeitung der Körperschemastörung. Bewusste Auseinandersetzung mit dem Körper und Vermittlung neuer körperbezogener Erfahrungen.

8. Partner- und familienbezogene Therapie. Einbeziehung der Angehörigen.

9. Stabilisierung, Rückfallsanalyse und Rückfallsprophylaxe.