Dr. Hans Morschitzky

Klinischer und Gesundheitspsychologe

Psychotherapeut

Verhaltenstherapie und Systemische Familientherapie

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Dysmorphophobie - Körperdysmorphe Störung - Entstellungsüberzeugung

 

Ein 29-jähriger Mann, der ohne Freundin allein in einer kleinen Wohnung lebt und sich als Betriebselektriker seit drei Wochen im Krankenstand befindet, wird vom Hausarzt in Therapie geschickt wegen einer Kombination von depressiver Verstimmung und Zwängen. Wenn sich nicht bald etwas ändere, werde er seine Arbeit verlieren, da sein Chef seine Eigenartigkeit nicht mehr lange ertragen werde. Es sei ihm schon vor Jahren mehrfach zu einer Psychotherapie geraten worden, doch habe er früher nichts davon gehalten. Jetzt gehe es ihm jedoch so schlecht, dass er für jede Hilfe dankbar sei. Den Beginn seiner Probleme müsse man bereits in der Pubertät suchen. Alles habe mit einer Pubertätsakne angefangen. Er habe sich durch eine Akne hässlich entstellt gefühlt, sei mehr vor dem Spiegel gestanden als junge Mädchen und habe oft täglich bis zu zwei Stunden zugebracht alles zu unternehmen, seine „Entstellung“ wieder los zu werden oder wenigstens zu beobachten, ob sie nicht von Tag zu Tag ärger werde. Er habe den Spiegel schon gehasst, obwohl er ihn zu seiner Kontrolle unbedingt gebraucht habe. Oft habe er sogar Schweißausbrüche und Herzrasen bekommen, wenn er im Spiegel wieder eine neue Unregelmäßigkeit der Haut entdeckt habe. Durch das ständige Drücken und Kratzen habe sich später alles noch verschlimmert, denn er habe dadurch immerhin einige Narben davongetragen, die ihn noch jetzt gewaltig stören, wenngleich die anderen zu seiner Beruhigung immer wieder sagen würden, sie könnten zumindest aus einiger Entfernung kaum Narben erkennen. Er habe bei seinen Kameraden ebenfalls oft geschaut, wie ausgeprägt deren Akne sei und habe den Eindruck gewonnen, dass die Akne ihn am ärgsten entstellt habe. Irgendwann habe er die Überzeugung entwickelt, dass er seine Hautverunreinigungen ungewollt selbst verstärkt haben könnte, weil er sich möglicherweise die Hände nicht ausreichend gewaschen habe, wenn er mit den Fingern andauernd in seinem Gesicht herumgedruckt habe. Er habe dann mit der Zeit immer häufiger seine Hände gewaschen, um seine Angst zu verringern, was ihn vorerst einige Zeit erleichtert habe – bis er dann die Befürchtung entwickelt habe, seine Hände könnten durch noch so viel Wasser- und Seifenverbrauch nicht ausreichend sauber werden, um eine Infektion zu verhindern. Er nahm sich daher die Krankenschwestern zum Vorbild, die er einmal bei einem kurzen stationären Aufenthalt mit einem Desinfektionsmittel Hände waschen gesehen hatte. Seine Mutter entdeckte das heimlich angeschaffte und versteckte Lysoform und machte sich über ihn lustig, dass er bereits als junger Bursch bald ein Hypochonder werde, wenn er so weitermache.

Sein geringes Selbstbewusstsein in der Pubertät sei durch ein fundamentales Gefühl der Hässlichkeit und der Entstellung geprägt worden. Wegen des hohen Zeitaufwands zur Kontrolle seines Körpers habe er sich von sozialen Aktivitäten immer mehr zurückgezogen und sei etwas vereinsamt. Er habe nicht wie andere Burschen in seinem Alter den Kontakt zu Mädchen gesucht, denn er sei sicher gewesen, dass er nicht liebenswert sei. Er habe sich auch unter Burschen oft nicht wohl gefühlt. Am ärgsten sei es beim Baden im Hallenbad gewesen, aber auch im Waschraum während der Berufsausbildung im Internat. Im Gegensatz zu anderen habe er am liebsten immer ein großes Badetuch um den Oberkörper gehabt und sei unter der Dusche niemals völlig nackt gestanden, sondern immer nur mit Badehose. Seinen Oberkörper habe er durch eine vermeintliche Trichterbrust entstellt erlebt und seinen Penis habe er im Vergleich zu gleichaltrigen Burschen für zu klein empfunden. Diese Angst habe seine Distanz gegenüber Mädchen verstärkt, denn er habe sich nicht vorstellen können, mit einem zu kleinen Penis einmal einen Geschlechtsverkehr mit einem Mädchen haben zu können. Es habe ihn daher eher belastet, als ein gleichaltriges Mädchen an ihm Gefallen zu haben schien. Um die junge Dame rasch auf Distanz zu bringen, habe er ihr die Lügengeschichte von einer Freundin aus einem anderen Ort erzählt. Er habe sich vor allem wegen seines Körpers geschämt und diesen am besten irgendwie zu verstecken versucht. Er habe mit niemand über seine Probleme sprechen können. Er habe sich daher nach der Schulzeit neben seinem Körper fast ausschließlich für seinen Beruf interessiert und habe durch den Umstand, dass er sich im Gegensatz zu anderen Elektrikern in seiner Firma gut mit Computern ausgekannt habe, immer interessantere Arbeiten bekommen. Doch in der letzten Zeit habe er Selbstmordgedanken gehabt, weil er nicht mehr so weiterleben wolle. Es sei ihm alles egal geworden sei, sodass er in der Arbeit einmal einen gröberen Fehler gemacht habe. Er sei ermahnt worden, so etwas dürfe nie wieder vorkommen, weil der Firma dadurch ein größerer Schaden entstanden sei.

Er sehe keine positive Zukunft. Die Akne seiner Jugend sei zwar längst weg, doch nun habe er mit seinen 29 Jahren den Eindruck, dass seine Haare weniger werden und er deshalb früher als andere eine Glatze bekommen werde. Dies würde er auf keinen Fall überleben. Er ersuche daher jetzt um Hilfe.

Die Dysmorphophobie (F45.21) wird im ICD-10 als anhaltende Beschäftigung mit einer angenommenen Entstellung oder Missbildung definiert und als Variante einer hypochondrischen Störung angesehen.

Im amerkanischen psychiatrischen Diagnoseschema DSM-IV wird dieselbe Symptomatik zur Vermeidung des Anklangs an eine Phobie unter der Bezeichnung „körperdysmorphe Störung“ als eigenständige, nicht wahnhafte somatoforme Störung mit folgenden Merkmalen definiert:

Während eine Hypochondrie als Krankheitsangst oder -überzeugung zu definieren ist, besteht die körperdysmorphe Störung in der Angst vor körperlicher Entstellung. Eine körperdysmorphe Störung ist nach dem DSM-IV charakterisiert durch die übermäßige Beschäftigung mit einem eingebildeten oder überbewerteten Mangel oder einer Entstellung des körperlichen Aussehens. Es besteht eine schwer korrigierbare Angst, dass der Körper oder bestimmte Teile missgebildet oder zu klein bzw. zu groß seien oder ein schlechter Schweiß- oder Mundgeruch bzw. ein unangenehmer Geruch der Geschlechts- und Ausscheidungsorgane gegeben sei. Sichtbare „Schönheitsfehler“ werden durch verschiedene Mittel (Schminke, bestimmte Kleidung usw.) zu überdecken versucht. Es dominiert das subjektive Gefühl hässlich zu sein und einen ästhetischen Mangel im äußeren Erscheinungsbild aufzuweisen, der den anderen Menschen Anlass zu Spott, Ablehnung und Verachtung geben könnte, sodass erhebliche soziale Ängste entstehen. Wenn eine leichte körperliche Anomalie besteht, sind die Sorgen stark übertrieben. Die Fixierung auf die vermeintliche Beeinträchtigung ist Ausdruck eines subjektiv großen Leidensdrucks. Körperliche Mängel werden meist beklagt hinsichtlich

Die angebliche „Entstellung“ wird oft durch langes Stehen vor dem Spiegel oder anderen reflektierenden Oberflächen (z.B. Schaufenstern, Autos) überprüft. Als Reaktion auf die beunruhigenden Beobachtungsergebnisse kann der Blick in den Spiegel auch völlig vermieden werden. Häufig besteht ein Schwanken zwischen intensivem Prüfverhalten und phobischem Vermeidungsverhalten. In sozialen Situationen werden oft Vergleiche zwischen sich und anderen gezogen mit dem Effekt, dass man dabei hinsichtlich des körperlichen Erscheinungsbildes schlecht abschneidet, weshalb man über längere Zeit nicht mehr die Wohnung verlässt. Die Betroffenen reden nur ungern über ihr Problem.

Soweit möglich, werden die vermeintlichen Entstellungsfehler zu kaschieren versucht, indem eine bestimmte Kleidung oder ein entsprechendes Make-up verwendet wird. Die Betroffenen verbringen oft mehrere Stunden am Tag mit Gedanken hinsichtlich ihrer vermeintlichen „Entstellung“ und sind im Laufe der Zeit so eingeengt, dass schwerwiegende Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen auftreten.

Wegen ihrer Entstellungsgefühle vermeiden sie bestimmte berufliche oder soziale Situationen. Im Extremfall erfolgt ein völliger sozialer Rückzug mit Isolierung. Die Betroffenen glauben oft, dass auch die anderen Menschen ständig ihre „hässlichen“ Körperteile beobachten würden, was ihre sozialen Ängste verstärkt.

Häufig wird die Problemlösung nicht durch eine Psychotherapie, sondern durch medizinische, zahnärztliche oder chirurgische Behandlungen erwartet. Die plastische Chirurgie (Schönheitschirurgie) erscheint oft als die geeignetste Maßnahme, sofern sie von der finanziellen Seite her möglich ist. Die Betroffenen geben oft viel Geld für kosmetische Korrekturen aus – bis hin zur Verschuldung. Vermeintlich misslungene Schönheitsoperationen werden durch neue Operationen zu beseitigen versucht. Viele Patienten von Schönheitschirurgen weisen keine natur- oder unfallbedingte Entstellung, sondern eine gestörte Körperwahrnehmung auf. Rund 2% der Patienten (eher Frauen) in der plastisch-kosmetischen Chirurgie weisen eine körperdysmorphe Störung auf.

Die Symptomatik entwickelt sich häufig bereits in der Pubertät (oder im frühen Erwachsenenalter) und passt gut zu der oft bereits vorher gegebenen sozialen Unsicherheit. Die Betroffenen beharren jedoch darauf, dass sie nur deswegen soziale Situationen fürchten oder vermeiden, weil sie durch ihre „Entstellung“ überall auffallen würden. Jedenfalls bewirkt die Symptomatik einen zunehmenden sozialen Rückzug, falls früher eine größere soziale Offenheit gegeben war.

Die körperdysmorphe Störung stellt in der klinischen Praxis eine oft nicht erkannte oder unterschätzte Krankheit dar und wird oft vorschnell als Ausdruck einer Depression gewertet. Eine depressive Verstimmung ist nicht selten die Folge und nicht die Ursache einer Dysmorphophobie. Es kann jedoch eine Komorbidität mit einer Depression gegeben sein, allerdings episodisch, wie dies bei einer Depression der Fall ist. Die Belastung durch die vermeintliche Entstellung kann so stark sein, dass Selbstmordgedanken oder sogar Selbstmordversuche festzustellen sind.

Die Störung kommt bei beiden Geschlechtern vor und ist mit einer Lebenszeitprävalenz von 4% bei Frauen und 1% bei Männern häufiger als früher angenommen.

Eine körperdysmorphe Störung hat nichts zu tun mit einer Anorexia Nervosa (hier wird der Körper insgesamt fehleingeschätzt, speziell in Bezug auf das Erleben von Gewicht, Essen, Gesamtfigur und Sexualität), Transsexualität (die Betroffenen glauben, dass sie sich bei einem anderen Geschlecht wohl fühlen würden) oder Schizophrenie. Die Symptomatik muss auch gegenüber einer Depression, einer Zwangsstörung und einer sozialen Phobie abgegrenzt werden. Es kann jedoch eine Komorbidität vorliegen. Die Angst vor körperlicher Entstellung tritt auch epidemisch im Rahmen kulturspezifischer Phänomene auf, z.B. Koro (Angst vor dem Schrumpfen des Penis) in Südostasien.

Die Erforschung der körperdysmorphen Störung wird seit Anfang der 90er-Jahre besonders von der amerikanischen Psychiaterin Phillips vorangetrieben. Interessierten ist ihr 1996 erschienenes Buch „The broken mirror. Understanding and treating body dysmorphic disorder“ sehr zu empfehlen.

Zur häufigeren Diagnostik einer körperdysmorphen Störung werden die typischen Charakteristika der Betroffenen nochmals zusammenfassend dargestellt:

Im neuen amerikanischen psychiatrischen Diagnoseschema aus dem Jahr 2013 sowie auch im neuen internationalen Diagnoseschema ICD-11 aus dem Jahr 2019 gilt die Körperdysmorphe Störung als eine Variante der Zwangsstörungen, ähnlich wie auch die Hypochondrie.