Angststörungen nach dem ICD-10
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Dr. Hans Morschitzky
Klinischer Psychologe, Psychotherapeut
Verhaltenstherapie, Systemische Familientherapie
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Angsterkrankungen - die häufigsten psychischen Störungen
Zur bestmöglichen Selbsthilfe empfehle ich Ihnen als Erstlektüre meine zwei Ratgeber, die eine Hilfestellung im Umgang mit allen Angststörungen darstellen (Bestellung durch Anklicken der Buchtitel):
Morschitzky, H. & Sator, S (2018). Die zehn Gesichter der Angst. Ein Handbuch zur Selbsthilfe. 8. Auflage. dtv-Taschenbuch. Lizenzausgabe des Patmos-Buches. 237 Seiten. Dieses Buch beschreibt die verschiedenen Erscheinungsformen, Ursachen und Folgen von krankhaften Ängsten (10 verschiedene Angststörungen) und bietet neben Selbstbeurteilungsfragebögen einen Selbsthilfe-Ratgeber in Form von 7 Schritten zum besseren Umgang damit. Das ursprüngliche Patmos-Buch ist nach 6 Auflagen nicht mehr erhältlich.
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Angststörungen nach dem internationalen Diagnoseschema ICD-10
Diagnostizieren Sie sich selbst: Welche Angststörung liegt bei Ihnen vor? Welche Angstsymptome treten bei Ihnen auf?
Bei Angststörungen sind nach dem internationalen Diagnoseschema ICD-10 insgesamt 25 Symptome möglich. Markieren Sie jene Symptome, die in Angstsituationen bei Ihnen auftreten:
Herzrasen oder störendes Herzklopfen
Schweißausbrüche
fein- oder grobschlägiges Zittern
Mundtrockenheit (nicht als Medikamentennebenwirkung)
Atembeschwerden
Beklemmungsgefühl
Schmerzen oder Missempfindungen in der Brust
Übelkeit oder sonstige Magenbeschwerden
Schwindel, Unsicherheit, Schwäche oder Benommenheit
Depersonalisation (sich weit weg, nicht ganz da fühlen, neben sich stehen) oder Derealisation (die Umwelt erscheint unwirklich)
Angst vor Kontrollverlust, verrückt zu werden, auszuflippen
Angst zu sterben (Folge attackenartiger Symptome)
Hitzewallungen oder Kälteschauer
Gefühllosigkeit oder Kribbelgefühle
Muskelverspannung, akute und chronische Schmerzen
Ruhelosigkeit und Unfähigkeit sich zu entspannen
Aufgedrehtsein, Nervosität, psychische Anspannung
Kloßgefühl im Hals oder Schluckbeschwerden
Übertriebene Reaktionen auf Überraschung/Erschrecktwerden
Konzentrationsschwierigkeiten, Leeregefühl im Kopf wegen ständiger Sorgen oder Ängste
anhaltende Reizbarkeit
Einschlafstörung wegen der ängstlichen Besorgtheit
Erröten oder Zittern
Angst zu erbrechen
Harn- oder Stuhldrang
Welche der folgenden acht Fragen erfasst die Art Ihrer Angststörung am besten?
Welche Angststörung trifft am besten auf Sie zu? Oder besteht eine durchaus mögliche Kombination?
auf Markierte Fragen Typische SymptomePanikstörung: Markierte Fragen: 1 + 2 + 8 - Mindestens 4 Symptome attackenartig aus der Gruppe 1-14 (davon eines aus der Gruppe 1-4)
Generalisierte Angststörung: Markierte Fragen: 3 + 8 - Mindestens 4 Symptome anhaltend aus der Gruppe 1-22 (davon eines aus der Gruppe 1-4)
Agoraphobie: Markierte Fragen: 4 + 8 - Mindestens einmal zwei Symptome aus der Gruppe 1-14 (davon eines aus der Gruppe 1-4)
Soziale Phobie: Markierte Fragen: 5 + 6 + 8 - Mindestens zwei Symptome aus der Gruppe 1-14 und mindestens eines aus der Gruppe 23-25
Spezifische Phobie: Markierte Fragen: 7 + 8 - Mindestens einmal einige Symptome aus der Gruppe 1-14
Im Falle einer spezifischen Phobie: Welche der fünf Grundformen besteht bei Ihnen?
Tier-Phobie (Furcht vor Insekten, Mäusen, Schnecken, Schlangen, Hunden, Pferden)
Naturgewalten-Phobie (Furcht vor Sturm, Donner, Blitz, Feuer, Wasser, Meer, Dunkelheit, Höhen)
Blut-Injektions-Verletzungs-Phobie (Furcht vor Blut, Injektionen, Infusionen)
Situative Phobie (Furcht vor geschlossenen Räumen wie Lift, Gondel, Tunnel, Auto, Flugzeug)
Andere Spezifische Phobie (Furcht zu ersticken, zu erbrechen, vor lauten Geräuschen)
Der folgende, geringfügig überarbeitete Artikel ist erschienen in der österreichischen Zeitschrift "Ärzte exklusiv"
Angststörungen. Diagnostik, Konzepte, Therapie, Selbsthilfe
Einführung
Das frühere Diagnoseschema ICD-9 kannte nur zwei Typen von Angststörungen ohne weitere Spezifizierung: die Phobien und die Angstneurose.
Die Angstneurose wurde bereits von Sigmund Freud 1895 sehr eindrucksvoll beschrieben als eine Mischung von Panikattacken und frei flottierenden Ängsten.
Die ursprüngliche, in dieser Form jedoch unhaltbare Annahme, dass es sich bei Panikattacken um eine endogene und damit primär biologisch bedingte Störung handelt, analog zum früheren Konzept der endogenen Depression, gab in den USA den Ausschlag zur eigenständigen Diagnose der Panikstörung.
Das gegenwärtig gültige und weltweit verbindliche ICD-10 geht zwar ebenfalls von zwei Kategorien krankhafter Ängste aus (phobische Störungen und sonstige Angststörungen), differenziert diese jedoch jeweils in drei Subtypen (abgesehen von den Restkategorien sonstige und nicht näher bezeichnete Angststörungen).
Die Phobien umfassen die Agoraphobie, die Sozialen Phobien und die Spezifischen Phobien.
Die Gruppe der sonstigen Angststörungen besteht aus der Panikstörung, der Generalisierten Angststörung und der eher als Forschungskategorie gedachten, in der Praxis selten diagnostizierten Störung „Angst und depressive Störung, gemischt“.
Das amerikanische psychiatrische Diagnoseschema DSM-IV aus dem Jahr 2003 führte 11 definierte Angststörungen an, indem es auch die Zwangsstörung und die akute sowie die Posttraumatische Belastungsstörung hinzuzählt, aber auch auslöserspezifische Angststörungen anführt (organisch bedingte und substanzbedingte Angststörung).
Das neuere DSM-5 aus dem Jahr 2013 hat dagegen die Zwangsstörung und die Traumastörungen zu jeweils eigenen Störungsgruppen zusammengefasst, ähnlich wie das ICD-10 und auch das zukünftige ICD-11.
Im ICD-11 und DSM-5 gibt es für den Erwachsenenbereich zudem noch die Störung mit Trennungsangst als weitere Angststörung, die aufgrund von Studien auch erstmals im Erwachsenenalter auftreten kann, im Gegensatz zu früheren Ansichten.
Angststörungen nach dem ICD-10
F40 Phobische Störung
F40.0 Agoraphobie
F40.00 ohne Panikstörung
F40.01 mit Panikstörung
F40.1 Soziale Phobie
F40.2 Spezifische Phobien
F41 Sonstige Angststörungen
F41.0 Panikstörung
F41.1 Generalisierte Angststörung
F41.3 Angst und depresssive Störung, gemischt
Die folgende Darstellung der fünf reinen Angststörungen beruht auf den sehr präzisen Forschungskriterien des ICD-10.
Alle Angststörungen bestehen neben den unterscheidenden Merkmalen aus einigen der von 1.-14. taxativ aufgezählten Angstsymptomen, bei der Generalisierten Angststörung sind darüber hinaus noch 8 weitere Symptome möglich (15.-22.), bei der Sozialen Phobie ist noch mindestens ein weiteres von drei zusätzlich definierten Symptomen (23.-25.) erforderlich.
Die 25 Angstsymptome nach dem ICD-10
Vegetative Symptome:
1. Palpitationen, Herzklopfen oder erhöhte Herzfrequenz
2. Schweißausbrüche
3. fein- oder grobschlägiger Tremor
4. Mundtrockenheit (nicht infolge Medikation oder Exsikkose)
Symptome, die Thorax und Abdomen betreffen:
5. Atembeschwerden
6. Beklemmungsgefühl
7. Thoraxschmerzen oder -missempfindungen
8. Nausea oder abdominelle Missempfindungen (z.B. Unruhegefühl im Magen)
Psychische Symptome:
9. Gefühl von Schwindel, Unsicherheit, Schwäche oder Benommenheit
10. Gefühl, die Objekte sind unwirklich (Derealisation) oder man selbst ist weit entfernt oder „nicht wirklich hier“ (Depersonalisation)
11. Angst vor Kontrollverlust, verrückt zu werden oder „auszuflippen“
12. Angst zu sterben
Allgemeine Symptome:
13. Hitzewallungen oder Kälteschauer
14. Gefühllosigkeit oder Kribbelgefühle
Die 8 zusätzlich möglichen Symptome bei der generalisierten Angststörung
Symptome der Anspannung:
15. Muskelverspannung, akute und chronische Schmerzen
16. Ruhelosigkeit und Unfähigkeit zum Entspannen
17. Gefühle von Aufgedrehtsein, Nervosität und psychischer Anspannung
18. Kloßgefühl im Hals oder Schluckbeschwerden
Andere unspezifische Symptome:
19. Übertriebene Reaktionen auf kleine Überraschungen oder Erschrecktwerden
20. Konzentrationsschwierigkeiten, Leeregefühle im Kopf wegen Sorgen oder Angst
21. Anhaltende Reizbarkeit
22. Einschlafstörung wegen der Besorgnis
Agoraphobie
Die Agoraphobie als multiple Situationsphobie besteht aus einer deutlichen und anhaltenden Furcht vor oder Vermeidung von mindestens zwei von vier Situationen: Menschenmengen, öffentliche Plätze, allein Reisen, Reisen mit weiter Entfernung von Zuhause.
In den gefürchteten Situationen müssen wenigstens einmal mindestens zwei der 14 typischen Angstsymptome zumindest einmal gleichzeitig aufgetreten sein. Eine Agoraphobie kann mit oder ohne Panikstörung in Erscheinung treten.
Agoraphobiker leiden unter der Angst, beim Auftreten von Angstsymptomen in bestimmten Situationen keinen Fluchtweg oder Helfer zur Verfügung zu haben, sodass sie das Gefühl bekommen, „in der Falle zu sitzen“ und ihren körperlichen und geistigen Symptomen hilflos ausgeliefert zu sein.
Sie schränken aus Angst vor einer Panikattacke oder ähnlichen, milderen Symptomen, wie etwa Schwindel, Ohnmachtsangst, Atemnot, Harn- oder Stuhldrang, ihren Aktionsradius zunehmend ein und gefährden damit ihre schulische, berufliche und soziale Funktionsfähigkeit.
Die Betroffenen entwickeln im Laufe der Zeit oft eine Abhängigkeit von Beruhigungsmitteln und/oder von Menschen ihres besonderen Vertrauens. Oft vermitteln bereits alle möglichen Placebos oder das Mitführen von Medikamenten oder des Handys die nötige Sicherheit.
Soziale Phobie
Die Soziale Phobie besteht entweder (1) aus einer deutlichen Furcht, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten, oder (2) aus einer deutlichen Vermeidung dieser Situationen. Oft sind beide Kriterien erfüllt.
Wegen der ständigen Vermeidungsreaktionen werden die sozialen Ängste immer größer und das Selbstwertgefühl immer geringer. Derartige Ängste treten in sozialen Situationen auf, wie Essen oder Sprechen in der Öffentlichkeit, Begegnung von Bekannten in der Öffentlichkeit, Hinzukommen oder Teilnahme an kleinen Gruppen, wie z.B. bei Partys, Konferenzen oder in Klassenräumen.
Mindestens zwei der 14 typischen Angstsymptome müssen mindestens einmal aufgetreten sein, zusätzlich auch noch mindestens eines der folgenden drei Symptome: Erröten oder Zittern, Angst zu erbrechen, Miktions- oder Defäkationsdrang bzw. Angst davor.
Es werden besonders jene körperlichen Symptome gefürchtet, die die Angst vor sozialer Auffälligkeit erhöhen, wie etwa Schwitzen, Zittern, Rotwerden, Brechreiz, Harn- oder Stuhldrang. Die Soziale Phobie stellt oft die „Einstiegsstörung“ in schwerere psychische Störungen dar, vor allem Depressionen und Alkoholprobleme.
Spezifische Phobie
Die Spezifische Phobie besteht entweder (1) aus einer deutlichen Furcht vor einem bestimmten Objekt oder einer bestimmten Situation (außer Agoraphobie oder sozialer Phobie) oder (2) aus einer deutlichen Vermeidung solcher Objekte oder Situationen (außer Agoraphobie oder Sozialer Phobie).
Eine nicht näher spezifizierte Zahl der 14 typischen Angstsymptome muss mindestens einmal aufgetreten sein. Häufige phobische Objekte und Situationen sind Tiere, Vögel, Insekten, Höhen, Donner, Fliegen, kleine geschlossene Räume, Anblick von Blut oder Verletzungen, Injektionen, Zahnarzt- und Krankenhausbesuche.
Wenn gewünscht, können die spezifischen Phobien wie folgt unterteilt werden: Tier-Typ (z.B. Insekten, Hunde), Naturgewalten-Typ (z.B. Sturm, Wasser), Blut-Injektion-Verletzungstyp, situativer Typ (z.B. Fahrstuhl, Tunnel), andere Typen.
Panikstörung
Die Panikstörung besteht aus wiederholten Panikattacken, die nicht auf eine spezifische Situation oder ein spezifisches Objekt bezogen sind und oft spontan auftreten, d.h. die Attacken sind nicht vorhersagbar.
Die Panikattacken sind nicht verbunden mit besonderer Anstrengung, gefährlichen oder lebensbedrohlichen Situationen.
Eine Panikattacke ist eine einzelne Episode von intensiver Angst oder Unbehagen, die abrupt beginnt, innerhalb von Minuten ein Maximum erreicht und mindestens einige Minuten dauert.
Sie besteht aus mindestens vier der 14 typischen Angstsymptome, wobei eines davon aus der Gruppe der vier vegetativen Symptome stammen muss.
Im Laufe der Zeit entwickeln sich belastende Erwartungsängste im Sinne einer Angst vor der Angst, oft auch ein Alkohol- bzw. Medikamentenmissbrauch oder eine depressive Symptomatik.
Generalisierte Angststörung
Die Generalisierte Angststörung besteht aus mindestens sechs Monate andauernden Zuständen von Anspannung, Besorgnis und Befürchtungen in Bezug auf alltägliche Ereignisse und Probleme.
Es müssen mindestens 4 von 22 Angstsymptomen vorhanden sein, wobei eines davon aus der Gruppe der vegetativen Symptome stammen muss.
Im Laufe der Zeit entsteht oft ein Missbrauch von Beruhigungs- oder Schmerzmitteln oder eine depressive Symptomatik.
Differenzialdiagnostische Aspekte
Bei der Panikstörung treten die Angstsymptome spontan und unvorhersehbar auf und nicht nur situationsspezifisch wie bei der Agoraphobie und der Sozialen Phobie.
Bei der Panikstörung und der Agoraphobie geht es um die subjektive Bedrohung von Leib, Leben oder geistiger Gesundheit, bei der Sozialen Phobie dagegen um die Bedrohung des Sozialprestiges und die unangenehme Auffälligkeit durch psychovegetative Symptome.
Panikattacken, die nur in sozialen Situationen auftreten, drücken das Ausmaß der Sozialen Phobie aus und begründen noch keine Agoraphobie und auch noch keine Panikstörung, die situationsunabhängig auftretende Panikattacken erfordert.
Bei der Panikstörung, die aus paroxysmal auftretenden Angstattacken besteht, sind die Angstzustände im Gegensatz zur Generalisierten Angststörung akut, stärker ausgeprägt und nicht vorhersehbar, dafür aber nicht dauernd vorhanden.
Wenn körperliche Symptome nicht nur während und rund um Panikattacken, sondern ständig als Ausdruck von möglicher Krankheit gefürchtet werden, besteht eine hypochondrische Störung, die sich bei zahlreichen Panikpatienten sekundär durchaus entwickeln kann.
Wenn Panikattacken mit körperlichen Erkrankungen in Zusammenhang stehen (z.B. nach einem Herzinfarkt oder einer Lungenembolie) oder erst durch erheblichen Substanzmissbrauch entstanden sind, müssen die Betroffenen durch die entsprechende Doppeldiagnose darauf hingewiesen werden.
Bei der Agoraphobie kreisen die Befürchtungen um das körperliche und psychische Wohlbefinden, bei der Sozialen Phobie dagegen um die Angst vor Menschen und deren kritischer Beurteilung.
Sozialphobiker fürchten sich vor eher kleinen Gruppen, wo sie unangenehm auffallen könnten, während sich Agoraphobiker eher vor Menschenmassen fürchten, wo sie nicht rechtzeitig entkommen können, um subjektiv bedrohlichen körperlichen Symptomen zu entgehen.
Bei einer Generalisierten Angststörung gehen die Sorgen und Befürchtungen hinsichtlich vermeintlicher Katastrophen im Vergleich zur Sozialen Phobie weit über soziale Situationen hinaus.
Die Spezifische Phobie ist im Vergleich zur Agoraphobie auf eng umschriebene Angstsituationen begrenzt.
Wenn Angstzustände praktisch nur durch die Erinnerung an ein Trauma oder durch die Konfrontation mit traumaähnlichen Situationen ausgelöst werden, ist als primäre Diagnose eine Posttraumatische Belastungsstörung zu kodieren.
Bei einer Querschnittdiagose, wie diese in der hausärztlichen Ordination in kurzer Zeit zu treffen ist, kann leicht die Längsschnittdiagnose übersehen werden. Bei Depressionen und Alkohol- bzw. Medikamentenmissbrauch wird oft die vorher schon seit langem bestehende Angststörung übersehen.
Epidemiologie
Im Rahmen einer neueren, sehr umfangreichen und repräsentativen Studie über den Gesundheitszustand in Deutschland im Jahr 2013 fand man bei 15,3 Prozent der 18- bis 79-Jährigen eine Angststörung innerhalb der letzten 12 Monate. Dabei ergab sich folgende Häufigkeitsverteilung bei den verschiedenen Angststörungen: Panikstörung: 2,0 %, Generalisierte Angststörung: 2,2 %, Soziale Phobie: 2,7 %, Agoraphobie; 4,0 %, Spezifische Phobien: 10,3 %.
Nach älteren repräsentativen Erhebungen leiden 9 % der Deutschen aktuell und 15 % im Laufe des Lebens unter einer Angststörung. Frauen weisen doppelt so häufig eine Angststörung auf als Männer.
Nach einer umfangreichen amerikanischen Studie entwickelt ein Viertel (24,9 %) der Bevölkerung im Laufe des Lebens eine Angststörung, davon 6 % eine Agoraphobie, 3 % eine Panikstörung, 5 % eine Generalisierte Angststörung, 13 % eine Soziale Phobie, 11 % eine Spezifische Phobie. Die Soziale Phobie stellt demnach nach Depressionen und Alkoholproblemen die dritthäufigste psychische Störung dar.
Nach einer Befragung von über 20000 Patienten in den Ordinationen von 558 deutschen Allgemeinärzten litten mehr als ein Viertel der Patienten (27 %) in den vergangenen vier Wochen unter Angstbeschwerden, ängstlicher Anspannung und Besorgnis. 5,6 % der Hausarzt-Patienten leiden unter einer generalisierten Angststörung, die bei zwei Drittel der Patienten von ihrem Arzt nicht erkannt wird.
Biologische Erklärungsmodelle
Monokausale, einseitig biologische Erklärungsmodelle von Angststörungen greifen ebenso zu kurz wie einseitig psychologische Erklärungskonzepte.
Es stellt sich die Frage, ob die biologischen Vorgänge bei Panikattacken tatsächlich deren Ursache oder nur das organische Korrelat der psychischen Befindlichkeit darstellen. Bei der Panikstörung wird eine genetische Komponente diskutiert.
Auch bei Menschen mit einer Generalisierten Angststörung besteht oft eine rasche psychovegetative Ansprechbarkeit.
Panikattacken entstehen wahrscheinlich durch eine Aktivierung des Nucleus centralis der Amydgala, von der aus andere Zentren, wie etwa der Locus coeruleus, der Nucleus parabrachialis, das periaquäduktale Grau, der Hypothalamus u.a., aktiviert werden. Viszerosensorische Stimuli werden im Amygdala-Hippocampus-Bereich als bedrohlich oder harmlos eingeschätzt. Bei Panikpatienten ist dieser Bereich überempfindlich eingestellt, sodass sich aus den auftretenden körperlichen Symptomen eine Panikattacke entwickeln kann.
Verschiedene Sozialphobiker hätten keine derart ausgeprägte Sozialphobie, wenn ihr Körper in bestimmten Situationen nicht immer mit Schwitzen, Zittern oder Rotwerden reagieren würde.
Agoraphobiker bekommen oft ein Gefühl beklemmender Enge des Brustkorbs, sodass sie aus einem Gefühl der Atemnot geschlossene Räume verlassen und Menschenansammlungen meiden. In diesem Zusammenhang ist ihre Angst vor Schwindel und Ohnmacht zu sehen: Sie können bei Angst nicht mehr frei durchatmen. Außerdem verspannen sie sich in Angstsituationen derart am ganzen Körper, dass im Hirnstamm ein ihnen bedrohlich erscheinender Gleichgewichtsschwindel ausgelöst wird.
Bestimmte Spezifische Phobien, wie etwa die Angst vor Dunkelheit, Höhen, Schlangen, Spinnen oder Käfer, haben phylogenetische Wurzeln. Es kommt entscheidend darauf an, wie Menschen im Laufe ihres Lebens mit ihren Erbanlagen umgehen lernen.
Die beste Erklärung von Angststörungen stellen psychophysiologische Modelle dar, die biologische und psychologische Aspekte integrieren. Auf der Basis dieser Erkenntnisse ist bei einer erfolgreichen Psychotherapie von Angststörungen auch ein körperorientierten Vorgehen nötig und nicht einfach nur eine Aufarbeitung von Ursachen, eine Änderung der Lebenssituation oder eine Stärkung des Selbstwertgefühls.
Psychologische Erklärungsmodelle
Bei der Panikstörung schaukeln folgende Bewertungen der körperlichen und geistigen Symptome den Teufelskreis bis zu einer Panikattacke hoch: „Mein Herzrasen kündigt einen Herzinfarkt an“, „Meine Atemnot lässt mich gleich ersticken“, „Aus Schwindel falle ich gleich um“, „Ich stehe geistig völlig daneben, gleich werde ich verrückt“, „Ich habe solchen inneren Druck, dass ich gleich mir oder jemand anderem etwas antue“.
Bei vielen Panikpatienten wirken bereits medizinische Informationen beruhigend. Menschen mit Panikattacken haben oft eine länger dauernde Phase starker psychosozialer Belastungen in Familie, Partnerschaft und Beruf hinter sich, nicht selten in Verbindung mit einem körperlich geschwächten Zustand, bedingt etwa durch Schlaflosigkeit, Hitze, leichtes Fieber, Menstruationsbeschwerden, zu viel Alkohol, Kaffee, Cola oder Nikotin. Panikattacken treten oft in der nachlassenden Stressphase auf.
Menschen mit Agoraphobie vermeiden bestimmte Orte und Situationen aus Angst vor dem Wiederauftreten unangenehmer körperlicher Zustände wie etwa Panikattacken oder panikähnlicher Symptome und entwickeln dadurch mangels Erfolgen ein verstärktes Vermeidungsverhalten.
Menschen mit Generalisierter Angststörung können ihre ständigen Sorgen und Befürchtungen nicht kontrollieren und lassen sich ständig beunruhigen durch ein nicht ausschließbares Restrisiko.
Menschen mit Sozialer Phobie beobachten aus mangelndem Selbstwertgefühl, innerer Unsicherheit und überhöhten Ansprüchen an sich selbst ständig die eigene Person in sozialen Situationen und werden dadurch noch unsicherer.
Psychopharmakotherapie
Die Psychopharmakotherapie bei Angststörungen beruht im Wesentlichen auf der Verabreichung von selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI Selective Serotonin Reuptake Inhibitor)), in den ersten zwei Wochen oft kombiniert mit einem Tranquilizer wie etwa Alprazolam (Xanor®), um einerseits eine rasche Symptomdämpfung zu erreichen und andererseits mögliche Nebenwirkungen der SSRI, wie etwa erhöhte innere Anspannung und Übelkeit, zu vermindern. Diese Medikamente können die Aktivität der Hirnstammzentren abschwächen, die ihre Inputs von der Amygdala erhalten und in der Folge die autonomen und endokrinen Reaktionen während einer Panikattacke auslösen.
Derzeit sind sechs verschiedene SSRI im Handel (in Klammer die jeweiligen Markenpräparate, die mittlerweile häufig durch Generika ersetzt werden): Fluoxetin (Fluctine®), Fluvoxamin (Floxyfral®), Paroxetin (Seroxat®), Sertralin (Gladem®, Tresleen®), Citalopram (Seropram®), Escitalopram (Cipralex®). Bekanntlich sollen auf Wunsch der Krankenkassen die billigeren Generika verschrieben werden.
Ein mehrtägiges Einschleichen (und auch ein späteres Ausschleichen) mit einer halben Tablette ist gerade angesichts der körperlichen Sensitivität vieler Angstpatienten unbedingt zu empfehlen, um die Compliance zu sichern. In der Regel reicht eine Tablette pro Tag, bei verschiedenen Patienten kann die sukzessive Steigung auf zwei Tabletten pro Tag sinnvoll sein. Die Einnahme sollte mindestens ein halbes Jahr lang oder länger erfolgen.
Psychotherapie
Bei Angststörungen können durchaus verschiedene Psychotherapieverfahren zum Erfolg führen.
Je nach Methode und individuellem Bedarf stehen andere Aspekte im Mittelpunkt der Behandlung, wie etwa Aufarbeitung und Änderung psychosozialer Belastungen in der Vergangenheit oder Gegenwart, Unterbrechung negativer Interaktionsmuster, Änderung der Denkmuster, Klärung der Gefühle, Stärkung des Selbstwertgefühls.
Angstpatienten können den Therapieerfolg daran messen, wie gut und wie schnell sie wieder all das tun und erleben können, was ihre Ängste bislang verhindert haben. Ziel ist nicht einfach, keine krankheitswertigen Ängste mehr zu haben, sondern das Leben wieder besser genießen zu lernen.
Die differenziertesten und empirisch am besten abgesicherten Behandlungskonzepte stammen von der Verhaltenstherapie, die in vielen Fällen aus einer Kombination von Kognitiver Therapie (Analyse und Änderung der Denkmuster, Klärung der grundlegenden Gefühle bei innerer Ambivalenz) und Konfrontationstherapie (gestufte oder massierte Konfrontation mit Angst auslösenden Situationen) besteht.
Der Autor dieses Artikels arbeitet mit einer Kombination von Verhaltenstherapie und Systemischer Therapie, so weit als möglich kurzzeittherapeutisch mit dem Ziel, das Selbsthilfepotenzial der Angstpatienten zu fördern.
Menschen mit Panikattacken müssen nicht nur mit bestimmten psychosozialen Stressfaktoren besser umgehen lernen, sondern vor allem auch mit ihrem Körper und mit ihrer Angst vor einer neuerlichen Panikattacke, die sie im Laufe der Zeit in eine Daueranspannung versetzt.
Menschen mit Generalisierter Angststörung mit ihren ständigen unkontrollierbaren Sorgen und Befürchtungen müssen lernen, mit einem Restrisiko besser zu leben und nicht für alles verantwortlich zu sein.
Menschen mit Sozialer Phobie müssen in sozialen Situationen den Teufelskreis der ständigen Selbstbeobachtung unterbrechen und mehr Selbstbewusstsein und Fehlertoleranz entwickeln, ohne Anspruch auf Perfektionismus als Schutz vor gefürchteter Kritik.
Krankhafte Angst kann sehr viele Gesichter haben. Oft wechselt die Angst ihr Aussehen:
Angst aus heiterem Himmel – Angst vor der Angst: Panikstörung
Angst, in Angstsituationen ohne Fluchtweg oder Helfer zu sein – Angst, in der Falle zu sitzen: Agoraphobie (Platzangst)
Angst vor bestimmten Objekten oder Situationen – eine einzelne Phobie beeinträchtigt das Leben: Spezifische Phobie
Angst vor anderen Menschen – Angst vor sozialer Kritik: Soziale Phobie
Angst vor allem und jedem – unkontrollierbare Sorgen und Befürchtungen: Generalisierte Angststörung
Angst durch einen bleibenden Schock – Angst vor ungewollter Erinnerung an ein Trauma: Posttraumatische Belastungsstörung
Angstbewältigung durch Zwänge – Zwangsrituale zur Vermeidung von Angst und Unsicherheit: Zwangsstörung
Angst, die Gesundheit zu verlieren – Angst vor eingebildeten Krankheiten: Hypochondrische Störung
Angst als Folge einer körperlichen Erkrankung – Angststörung mit einem medizinischen Krankheitsfaktor: Organische Angststörung
Angst als Folge von Alkohol- oder Drogeneinwirkung – Substanzen als Angstauslöser: Substanzinduzierte Angststörung
Die Diagnose einer Angststörung kann nach Abklärung folgender Fragen gestellt werden:
Liegen die allgemeinen Kriterien einer Angststörung vor, die eine normale von einer krankhaften Angst unterscheiden?
Können körperliche Ursachen ausgeschlossen werden? (Dies erfordert eine umfassende organische Untersuchung).
Können andere psychische Störungen (z.B. eine Depression) als alleinige Ursache der Angst ausgeschlossen werden?
Die Art der Angststörung wird durch folgende Fragen herausgefunden:
Besteht eine objekt- und situationsunabhängige Angst (Panikstörung, Generalisierte Angststörung) oder besteht eine objekt- und situationsabhängige Angst (Phobie: Agoraphobie, Soziale Phobie, Spezifische Phobie)?
Tritt die Angst mehr attackenartig auf (wie bei der Panikstörung) oder eher kontinuierlich (wie bei der Generalisierten Angststörung)?
Kann die Angst als Furcht vor bestimmten Objekten und Situationen differenziert werden (wie bei Spezifischen Phobien)?
Angststörungen nach dem ICD-10
Nach dem ICD-10, dem international gültigen Diagnoseschema der Weltgesundheitsorganisation (WHO), gibt es im Wesentlichen fünf verschiedene Angststörungen:
Panikstörung
Generalisierte Angststörung
Agoraphobie
Soziale Phobie
Spezifische Phobie
Panikstörung – Angst vor den eigenen
körperlichen Reaktionen (Angst vor der Angst)
Bei Panikattacken handelt es sich um plötzlich und unerwartet, scheinbar ohne Ursachen in objektiv ungefährlichen Situationen auftretende, massive körperliche Symptome mit subjektiv oft lebensbedrohlichem Charakter (Herzrasen, Herzstolpern, Atemnot oder Beklemmungsgefühl, Erstickungsgefühle, Schwindel, Ohnmachtsangst, Zittern oder Beben, Hitzewallungen oder Kälteschauer, Schwitzen, Taubheit oder Kribbelgefühle, Schmerzen oder Unwohlsein in der Brust, Übelkeit, Magen-Darm-Beschwerden, Gefühl der Unwirklichkeit und der Persönlichkeitsauflösung, Todesangst, Angst vor Kontrollverlust oder Verrückt-Werden). Später treten oft „nur“ mehr panikähnliche Zustände auf.
Trotz kurzer Dauer (meistens nicht länger als 10-30 Minuten) greifen die Betroffenen wegen der Heftigkeit der psychovegetativen Symptome häufig zu Beruhigungsmittel (Xanor/Tavor, Lexotanil u.a.), die nach 2-3 Monaten regelmäßiger Einnahme abhängig machen können. Bei einer rasch beginnenden Verhaltenstherapie bleiben Tranquilizer dagegen das, was ihr eigentlicher Sinn ist: eine rasche und kurzfristige Hilfestellung.
Die Angst vor den Paniksymptomen führt oft zu chronischen Erwartungsängsten („Angst vor der Angst“), obwohl die Patienten aufgrund von meist zahlreichen körperlichen Durchuntersuchungen wissen, dass sie organisch gesund sind und keine schwere körperliche Erkrankung (Herzinfarkt, Gehirnschlag, Gehirntumor, Kreislaufzusammenbruch mit Ohnmacht) zu befürchten brauchen. Dennoch wirken erst neuerliche Untersuchungen oder Gespräche mit Ärzten, Psychotherapeuten und Angehörigen beruhigend.
Zwischen den Attacken liegen (in Abgrenzung zur generalisierten Angststörung) weitgehend angstfreie Zeiträume (abgesehen von den Erwartungsängsten, die im Laufe der Zeit zu einem chronischen Anspannungszustand führen, ähnlich einer generalisierten Angststörung).
Eine nicht bewältigbare Panikstörung führt oft zu Agoraphobie, Alkohol- und Medikamentenmissbrauch und depressiven Erschöpfungszuständen. Aus Angst vor dem Auftreten der Symptome erfolgt eine massive Einengung des Lebensraums und eine starke Beeinträchtigung der Lebensqualität.
Früher sehr selbständige Menschen werden durch die Angst vor Panikattacken von Angehörigen und Bekannten plötzlich so abhängig wie kleine Kinder (man kann dann z.B. aus Angst vor einer Panikattacke nicht mehr alleine zu Hause bleiben).
Während Phobien durch äußere Auslöser (Reize) entstehen, werden Panikattacken durch innere Auslösereize bewirkt:
Die eigenen Körperempfindungen selbst, z.B. die Beobachtung, nicht richtig durchatmen zu können, Beschleunigung der Herztätigkeit, Hitzewallungen, Erstickungsgefühle, Flimmern vor den Augen, Taubheits- und Kribbelgefühle. Diese Erfahrungen, die in bestimmten Situationen durchaus normal sein können, werden dann ständig als Erwartungsängste erinnert und gefürchtet.
Bestimmte
Gedanken und bildhafte Vorstellungen
(oft auch nur subliminar, d.h. unterhalb der
Wahrnehmungsschwelle und daher nicht bewusst registriert). Wissenschaftlich
nachweisbar reagiert der Körper auch auf nicht bewusst wahrgenommene
bedrohliche Bilder mit psychovegetativen Symptomen.
Zu Therapiebeginn werden die Körper-Seele-Zusammenhänge möglichst anschaulich zu vermitteln versucht, einerseits um eine Psychotherapie-Motivation bei organisch fixierten Patienten überhaupt erst zu erzeugen bzw. zu festigen, andererseits um die oft falschen Erklärungskonzepte der Patienten zu korrigieren, die die Angstsymptome noch zusätzlich verstärken (z.B. Angst vor Verrückt-Werden, vor Geisteskrankheit).
Bestimmte Übungen (z.B. Hyperventilationsübungen, Provokation von Herzrasen und Schwindel, Körperwahrnehmungsübungen bei geschlossenen Augen) dienen dazu, die gefürchteten Symptome absichtlich auszulösen, zu beobachten und zu überwinden. In allen Angstsituationen tritt letztlich die Angst vor den eigenen unkontrollierten Körperreaktionen auf, die zu ertragen gelernt wird.
Im Rahmen einer stärker körperorientierte Therapie werden konkrete Hilfestellungen zur besseren Bewältigung der körperlichen Symptome angeboten (Übungen zur besseren Körperwahrnehmung, Techniken zur Unterbrechung der ängstlichen Selbstbeobachtung, Atemtechniken bei Hyperventilation, Seh- und Bewegungsübungen bei Schwindel, Mentales Training).
Im Rahmen einer stärker kognitiv orientierte Therapie werden die den Symptomen zugrundeliegenden angsterzeugenden Gedanken zu erfassen und zu ändern versucht (Angst vor Herzinfarkt, Tod, Behinderung, Ohnmacht, Kontrollverlust, Leistungsversagen bei hohem Anspruchsniveau, Verlust von Angehörigen, Verlust der Arbeit).
Agoraphobien sind Ängste vor öffentlichen Orten und Menschenansammlungen und können als „multiple Situationsphobien“ bezeichnet werden.
Gemieden oder nur mit Unbehagen ertragen werden daher folgende Situationen: Aufenthalt in öffentlichen Räumen, besonders wenn diese überfüllt sind (Geschäfte, Kirchen, Kinos, Behörden, Krankenhäuser, Gaststätten, Friseursalon), Benutzung öffentlicher Verkehrsmitteln (Busse, Straßenbahnen, U-Bahnen, Züge, Flugzeuge, Schiffe), Liftfahren, Schlange stehen, Aufenthalt im Freien bzw. Reisen, insbesondere allein in unbekannten Gegenden.
Das ausgeprägte Vermeidungsverhalten führt oft zu einem totalen Rückzug in die eigene Wohnung. Doch auch hier kann das Gefühl der Sicherheit verloren gehen durch die Angst vor dem Alleinsein, wo die beschützende Wirkung vertrauter Personen fehlt.
Bestimmte Sicherheitssignale reduzieren die Angst, allein deren Abwesenheit kann bereits Angst auslösen. Sicherheit gibt die Anwesenheit anderer Personen (Partner, Kinder) oder von Haustieren (Hund), die Mitnahme von Medikamenten, etwas zum Festhalten, die räumliche Nähe eines Krankenhauses oder einer Arztpraxis.
Wichtigste Auslöser für agoraphobische Ängste sind die Entfernung von "sicheren" Orten und das Fehlen eines Fluchtwegs (subjektives Gefühl der Einengung der Bewegungsfreiheit: „in der Falle sitzen“).
Durch einen Agoraphobie-spezifischen Behandlungsplan werden die gefürchteten Situationen und körperlichen Symptome durch direkte Konfrontation damit effektiv zu bewältigen gelernt.
Heilsam ist nicht das ständige Bereden, sondern das Durchleben und Bewältigten-Lernen der Ängste. Agoraphobiker fürchten verschiedene Umstände und Situationen nicht als solche, sondern weil diese arge körperliche Zustände auszulösen vermögen, die nicht kontrollierbar erscheinen.
Wenn die Patienten einen besseren Umgang mit den Symptomen der Panikstörung und/oder der Agoraphobie erlernt haben, erfolgt bei Bedarf eine partner- oder familienbezogene Therapie bzw. eine Unterstützung bei beruflichen Problemen.
Oft stehen entweder „hinter“ den Symptomen Partnerprobleme bzw. Verlustängste oder die chronifizierten Angstsymptome führen zu Beziehungsproblemen. Häufig können diese nach der Symptombeseitigung selbst gelöst werden.
Eine Generalisierte Angststörung ist eine generalisierte und anhaltende Angst, die aber nicht auf bestimmte Situationen in der Umgebung beschränkt oder darin nur besonders betont ist, d.h. sie ist frei flottierend.
"Generalisiert" drückt aus, dass diese Form der Angststörung durch übertriebene, eigentlich unrealistische, andauernde Besorgnisse, Ängste und Befürchtungen in Bezug auf vielfältige Aspekte des Lebens charakterisiert ist.
Die primären Symptome von Angst bestehen an den meisten Tagen, mindestens mehrere Wochen lang. In der Regel sind folgende Einzelsymptome festzustellen:
Befürchtungen: Sorge über zukünftiges Unglück, Nervosität, Konzentrationsstörung.
Motorische Spannung: körperliche Unruhe, Spannungskopfschmerz, Zittern, Unfähigkeit, sich zu entspannen.
Vegetative Übererregbarkeit:
Benommenheit, Schwitzen,
Herzrasen, Atembeschleunigung, Oberbauchbeschwerden, Schwindelgefühle,
Mundtrockenheit).
Die Betroffenen leiden unter dem Gefühl der Unkontrollierbarkeit ihrer Befürchtungen. Früher wurde diese Störung "Angstneurose" genannt. Dieser Begriff stammt von Sigmund Freud, der diese Störung erstmals 1894 sehr genau beschrieb. Er zählte damals auch die Panikattacken dazu. Die Störung tritt oft in Kombination mit Panikstörungen auf oder führt zu depressiven Zuständen.
Eine wirksame Psychotherapie muss sich mit den jeweiligen Angstinhalten und den damit verbundenen Gefühlen und Ohnmachtserlebnissen befassen, zu einer realistischen Einschätzung von Gefahren verhelfen und zu konkreten Verhaltensweisen ermutigen, durch die die Befürchtungen einerseits herausgefordert, andererseits jedoch bewältigt werden.
Soziale Phobien bestehen in der Furcht vor der kritischen Betrachtung durch andere Menschen in verhältnismäßig kleinen Gruppen (nicht dagegen in Menschenmengen) und führen schließlich dazu, dass soziale Situationen vermieden werden.
Es bestehen unangemessen starke Ängste vor sozialen Situationen, z.B. sich in Gegenwart anderer zu äußern, Personen des anderen Geschlechts anzusprechen, vor anderen zu reden oder zu essen oder in anderer Weise im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit anderer zu stehen.
Die sozialen Ängste können sich z.B. äußern in Erröten, Schwitzen, Händezittern, Herzrasen, Vermeiden von Blickkontakt, Versagen bzw. Veränderung der Stimme, Übelkeit oder Harndrang.
Erste Anzeichen dieser Störung sind oft eine ausgeprägte Schüchternheit oder Zurückhaltung, später resultieren daraus auch oft verschiedene berufliche oder private Probleme. Soziale Phobien hängen oft mit einem niedrigen Selbstwertgefühl zusammen. Häufig wird Alkohol als Bewältigungsstrategie eingesetzt. Ein Selbstsicherheitstraining ist angezeigt.
Man unterscheidet zwei Arten von Sozialen Phobien:
Spezifische Soziale Phobien
Generalisierte Soziale Phobien
1.
Spezifische Soziale Phobien
Spezifische soziale Ängste (von den Fachleuten "Sozialphobie vom Leistungstyp" genannt) beziehen sich auf Essen oder Schreiben in der Öffentlichkeit sowie auf bestimmte Leistungssituationen (Prüfung, Reden, sportliche Betätigung usw.). Die Angst bewirkt eine Hemmung von an sich vorhandenen Fertigkeiten und geht mit belastenden körperlichen Symptomen einher.
Die Störung ist begrenzt auf spezifische Leistungssituationen vor den Augen anderer Menschen, während in allen anderen Bereichen eine gute soziale Funktionsfähigkeit gegeben ist. Eine Konfrontationstherapie ist oft hilfreich.
Als Auslöser dient häufig ein einschneidendes Erlebnis (z.B. Ausgelachtwerden beim Stottern während eines Referats, Verspottung bei einer ungeschickten Turnübung, Händezittern beim Schreiben an der Tafel). Dabei trat - von den anderen oft unbemerkt - die erste Panikattacke oder eine panikähnliche Reaktion auf.
2. Generalisierte Soziale
Phobie
Generalisierte soziale Ängste beziehen sich auf vielfältigste soziale Situationen und beruhen häufig auf einer allgemeinen Selbstunsicherheit, sodass ein Selbstsicherheitstraining angezeigt ist.
Die Betroffenen fürchten sowohl öffentliche Leistungssituationen (vor anderen reden, essen schreiben usw.) als auch alle möglichen soziale Situationen (z.B. Kontaktaufnahme mit Fremden oder Personen des anderen Geschlechts).
Im Laufe der Zeit kommt es zu schweren Beeinträchtigungen in allen Lebensbereichen, sodass soziale, schulische und berufliche Probleme auftreten.
Die Störung ist oft mit einer depressiven Symptomatik oder mit Alkoholmissbrauch verbunden.
Spezifische Phobien – Eine einzige Angst macht das Leben schwer
Spezifische Phobien sind unangemessen starke Ängste und Angstreaktionen in Bezug auf spezifische Situationen: Dunkelheit, geschlossene Räume, Aufzug, Höhe, Fliegen, bestimmte Tiere, Prüfungssituationen, Anblick von Blut, Spritzen, bestimmte Krankheiten (z.B. Krebs), medizinische Institutionen u.a.
In der klinischen Praxis am häufigsten sind Prüfungsphobien, Flugphobien, Liftphobien, Tierphobien.
Verhaltenstherapie
bei Angst- und Panikstörungen
Angst- und Panikstörungen sind bei Frauen die häufigste, bei Männern (nach dem Alkoholmissbrauch) die zweithäufigste psychische Störung. Im Laufe des Lebens entwickeln 28% der Durchschnittsbevölkerung in den USA eine Angststörung: 3,5% eine Panikstörung, 6% eine Agoraphobie, 5% eine Generalisierte Angststörung, 11% eine Spezifische Phobie, 13% eine Soziale Phobie, 8% eine Posttraumatische Belastungsstörung, 2,5% eine Zwangsstörung.
Nach Studien der Weltgesundheitsorganisation werden viele Angststörungen nicht rechtzeitig erkannt oder als Depressionen fehlbehandelt, nicht selten weil die Betroffenen nach längerer (chronischer) Dauer der Ängste depressiv, erschöpft, inaktiv, resignativ und sozial zurückgezogen wirken (bestimmte Antidepressiva können jedoch hilfreich sein).
Die gezielte Behandlung von Angst- und Panikstörungen ist eines der anschaulichsten Beispiele dafür, was Verhaltenstherapie ist. Es wird von den konkret vorgebrachten Problemen und Beschwerden der Klienten ausgegangen und auf der Basis einer gemeinsamen Problem- und Zieldefinition ein transparenter Therapieplan erstellt, der folgende Charakteristika umfasst:
Berücksichtigung der wissenschaftlichen Erkenntnisse der Psychologie und der Medizin (Verhaltenstherapie ist empirisch-wissenschaftlich ausgerichtet).
Vermittlung störungsbezogenen Wissens (der informierte Klient als Partner).
Umfassende Analyse und gezielte Änderung des Verhaltens, Denkens und Fühlens, um die problem- und symptomerhaltenden Muster zu unterbrechen.
Analyse und Änderung von symptomerhaltenden Beziehungsmustern (in diesem Sinne ist die Verhaltenstherapie durchaus systemisch-interaktionistisch ausgerichtet).
Aktive Problemlösung durch Vermittlung neuer Sichtweisen und gezielte Handlungsanleitung („lösungsorientiertes Denken“; Reden über Probleme, Einsicht in deren Ursachen und emotionales Erleben allein sind oft zu wenig).
Orientierung auf positive Ziele statt Fixierung auf die Probleme, Nutzung vorhandener Fähigkeiten und Ressourcen.
Befähigung zu möglichst rascher Selbstbehandlung (Förderung von Autonomie und Selbstkontrolle der Klienten).
Sicherung von Fortschritten durch konkrete, überprüfbare Erfolgskriterien und stufenweise Erreichung von Teilzielen (stärkt die Hoffnung auf Veränderung).
Ökonomisches Vorgehen (so kurz als möglich, so lang als notwendig).
Neben meinen Büchern empfehle ich Ihnen zur Bewältigung von Angst- und Panikstörungen vor allem folgende Ratgeber:
Baker, R. Wenn plötzlich die Angst kommt: Panikattacken verstehen und überwinden.
Hansch, D. Angst selbst bewältigen: Das Praxisbuch.
Schmidt-Traub, S. Angst bewältigen. Selbsthilfe bei Panik und Agoraphobie.
Wiesemann, C. Wenn der Körper plötzlich Alarm schlägt. Das Selbsthilfebuch bei Angst- und Panik-Attacken.
Wolf, D. Ängste verstehen und überwinden. Wie Sie sich von Angst, Panik und Phobien befreien.