Dr. Hans Morschitzky

Klinischer und Gesundheitspsychologe

Psychotherapeut

Verhaltenstherapie und Systemische Familientherapie

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Neurobiologie der Angststörungen

 

Alle psychischen Prozesse gehen mit ununterbrochenen Aktivitätsmustern des Gehirns einher. Die körperlichen Grundlagen der Angstentstehung können nach fünf verschiedenen Aspekten dargestellt werden:

1.  vererbte Reaktionsbereitschaft (angeborene Schreck- und Angstreaktionen),

2.  neuroanatomische Ursachen (Gehirnstrukturen),

3.  biochemische Ursachen (Neurotransmitterwirkungen),

4.  metabolische Ursachen (Stoffwechselveränderungen),

5.  neuroendokrinologische Ursachen (hormonell bedingte Veränderungen im vegetativen Nervensystem).

 

1. Angst als vererbte Reaktionsbereitschaft

Es gibt zahlreiche angeborene Schreck- und Angstreaktionen auf entsprechende auslösende Schlüsselreize, die im Tierreich gut untersucht sind. Solche primären Ängste sind in Ansätzen auch beim Menschen nachweisbar, z.B. als Abwehr- oder Fluchtreflexe (Zurückschrecken vor einem Abgrund, Schreckreaktion bei unbekanntem Lärm).

Angeboren sind z.B. folgende Angstreaktionen:

Nach der Theorie der Preparedness (biologische Vorbereitetheit von Verhaltensweisen) von Seligman werden nicht alle Verbindungen von Reiz und Reaktion im Sinne der klassischen Konditionierung nach dem Zufallsprinzip gleich schnell gelernt, sondern es besteht eine biologisch-evolutionär bedingte Vorgeformtheit sowie eine artspezifisch unterschiedliche Erlernbarkeit bestimmter Konditionierungen. Dies bedeutet, dass bestimmte Ängste eher angeboren sind als andere.

Die Dunkelangst ist besonders häufig. Im Rahmen der Evolution bedeutet Dunkelheit Gefahr vonseiten eines nicht erkennbaren Feindes. Im Zeitalter des elektrischen Lichts ist die Dunkelangst dennoch geblieben. Die Angst vor Dunkelheit, vor bestimmten Tieren (z.B. Schlangen), vor Blitz und Donner, vor Höhen u.a. ist nur im Rahmen ihrer evolutionären Bedeutung verstehbar. Viel gefährlichere Lebensbedingungen (z.B. Stromanschlüsse, Autofahren, Giftstoffe, Waffen), die im Rahmen der Evolution noch recht neue Erfahrungen für den menschlichen Organismus darstellen, fürchten wir dagegen nicht im eigentlich oft nötigen Ausmaß.

Biologisch-evolutionär vorgeformte Phobien unterscheiden sich von konditionierten Furchtreaktionen im Labor durch folgende Punkte:

 

Angststörungen sind nicht angeboren, eine allgemein höhere Angstbereitschaft (Prädisposition, Vulnerabilität) und eine physiologische Labilität können jedoch vererbt sein. Panikattacken sind ebenfalls nicht angeboren (selbst wenn ein Elternteil Panikattacken hatte), sondern nur die personspezifischen Voraussetzungen für Panikattacken:

 

  2. Neuroanatomische Ursachen für Angststörungen

Gegenwärtig gibt es verschiedene neurobiologische Theorien zur Erklärung von Angststörungen, die sich einerseits auf die neuroanatomischen Gehirnstrukturen und andererseits auf die Reizweiterleitung von einem Nerven zum anderen mittels Überträgerstoffen (Transmittersubstanzen) beziehen.

Die Neurobiologie der Angst wird gut beschrieben in dem von Kasper und Möller herausgegebenen Fachbuch „Angst- und Panik-Erkrankungen“, in dem Fachbuch „Furcht und Phobien“ von Hamm  sowie in dem Buch „Das Netz der Gefühle“ von LeDoux.  Zum besseren Verständnis der Vorgänge im Gehirn wird im folgenden neuroanatomisches Grundlagenwissen vermittelt.

 

Struktur und Funktion des Nervensystems

Das Nervensystem gilt als das „Organ“ des Erlebens und Verhaltens. Topographisch (nach der Lage) wird das Nervensystem in zwei große Bereiche unterteilt:

  1. Zentralnervensystem. Es besteht aus dem Gehirn und dem Rückenmark. Das Rückenmark dient vor allem als Durchgangsstation und enthält die Nervenfasern vom und zum Gehirn mit den dazugehörigen Nervenzellen. Die meisten Nervenfasern werden auf dem Weg vom Gehirn zu den jeweiligen Körperregionen in bestimmten Nervenzellen 2-3 mal umgeschaltet.

  2. Peripheres Nervensystem. Es umfasst alle Nervenzellen und -fasern außerhalb von Gehirn und Rückenmark.

 

Funktionell wird das Nervensystem in zwei Bereiche unterteilt: 

  1. Cerebrospinales oder somatisches Nervensystem. Es regelt die Beziehung zur Umwelt, ermöglicht Empfindung und Bewegung und ist willentlich beeinflussbar. Die Sinnesorgane (sensorisches System) nehmen Informationen aus der Umwelt auf und leiten sie zum Gehirn und Rückenmark weiter (afferente, zentripedale oder sensible Leitung). Die Reaktion darauf erfolgt in Form der Willkürmotorik (motorisches System), die durch die quergestreifte Muskulatur gesteuert wird (efferente, zentrifugale oder motorische Leitung).

  2. Vegetatives oder autonomes Nervensystem. Es steuert alle inneren Vorgänge und Abläufe des Körpers, regelt zahlreiche lebenswichtige Körperfunktionen und arbeitet dabei unwillkürlich durch die glatte Muskulatur. Das Zentralnervensystem wirkt über vegetative Efferenzen auf Eingeweideteile (innere Effektoren, Drüsen) ein. Eingeweideteile (innere Rezeptoren) geben ihre Informationen über viszerale Afferenzen an das Zentralnervensystem weiter. Das vegetative Nervensystem außerhalb des Gehirns besteht aus zwei Untersystemen:

 

Das menschliche Gehirn enthält in seinem Aufbau die ganze Evolutionsgeschichte von den einfachsten Tierarten bis zum Menschen. Es besteht im wesentlichen aus folgenden Teilen: Hirnstamm - Kleinhirn - Mittelhirn - Zwischenhirn - Großhirn (Endhirn).

 

Hirnstamm

Der Hirnstamm ist der älteste Teil des Gehirns, der bereits bei den Reptilien vorhanden ist. Der untere Teil des Hirnstamms umfasst die Medulla oblongata (verlängertes Mark), die eine direkte Fortsetzung des Rückenmarks darstellt. Die Region unmittelbar darüber ist die Brücke (Pons), die vom Kleinhirn überlagert wird. Der oberste Teil des Hirnstamms besteht aus dem Mittelhirn.

Der Hirnstamm verbindet das Rückenmark mit dem Zwischenhirn und der Großhirnrinde. Alle aufsteigenden und absteigenden Bahnen, die das Rückenmark und das Gehirn verbinden, gehen durch den Hirnstamm. Im Hirnstamm befinden sich die Steuerungs- und Regulationszentren für die wichtigsten Lebensfunktionen: Herzschlag, Blutdruck, Atmung, Magen-Darm-Funktionen, Schlaf-Wach-Rhythmus, Temperatur. Bei einer Zerstörung des Hirnstamms stirbt der Mensch.

Der Hirnstamm enthält auch die Formatio reticularis, die sich über den ganzen Hirnstamm bis zum Mittel- und Zwischenhirn ausdehnt. Die Formatio reticularis steuert durch ein kompliziertes Netzwerk von Nervensträngen die Wachheit und bestimmt damit den Grad der Bewusstseinshelligkeit. Das gesamte Netzwerk, das von der Formatio reticularis im Hirnstamm aus bei plötzlicher Gefahr sofort das ganze Gehirn aktiviert, heißt aufsteigendes reticuläres Aktivierungssystem (ARAS).

Eine Erregung der Formatio reticularis bewirkt eine arousal reaction (Alarmreaktion mit gesteigerter Wachheit, Angst, Blutdruckanstieg, Schwitzen, Erhöhung der Muskelspannung usw.). Bei Bewertung von Reizen als bedrohlich erfolgt eine massive Aktivierungsreaktion des Organismus (auch Alarm- oder Bereitstellungsreaktion genannt). Wenn ein Reiz mehrmals hintereinander auftritt, erfolgt eine Habituation (Gewöhnung), die Aufmerksamkeit nimmt ab. Monotone Reize wirken einschläfernd.

Neben dem ARAS steuern ein noradrenerges und ein dopaminerges aufsteigendes System die Vigilanz (Wachsamkeit, Aufmerksamkeit). In der Brücke zum Stammhirn befindet sich der Locus coeruleus, in dem die Hälfte aller Neurone des Gehirns, die Noradrenalin synthetisieren, entspringen. Von diesem System geht eine erregend-aktivierende Wirkung auf das ganze Gehirn aus, insbesondere auf das limbische System (Amygdala, Hippocampus, Septum, Gyrus cinguli u.a.) und die Großhirnrinde.

Der Locus coeruleus gilt als Umschaltsystem in einem Alarm-Furcht-Angst-System. Im Tierversuch führt eine Stimulierung des Locus coeruleus zu Angstzuständen, während eine Lähmung eine Angstreduktion bewirkt.

 

Kleinhirn

Das Kleinhirn (Cerebellum) ist eine große, stark gegliederte Struktur und befindet sich unmittelbar hinter dem Hirnstamm, mit dem es über große Bahnen verbunden ist. Das Kleinhirn sorgt für die räumliche und zeitliche Koordination motorischer Handlungsabläufe und der Körperhaltung (Gleichgewicht), indem es die Informationen aus Gleichgewichtssystemen, Muskelspindeln, Sinnesrezeptoren, Auge und Ohr miteinander verbindet und ständig mit motorischen Programmen vergleicht.

Die Impulse der willkürlichen Motorik gehen von der motorischen Hirnrinde aus, das Kleinhirn koordiniert dabei die komplexen motorischen Handlungsabläufe. Das Kleinhirn ist auch der Ort des motorischen Gedächtnisses (z.B. Fähigkeit des Fahrradfahrens).

 

Mittelhirn

Das Mittelhirn (Mesencephalon) ist die vorderste Fortsetzung des Hirnstammes und besteht aus einem oberen Teil (Tectum, d.h. Dach, oder Vierhügelplatte), der vor allem der Blick- und Kopforientierung dient, und einem unteren Teil (Tegmentum, d.h. Haube), der wichtige Zentren für die Bewegungs- und Handlungskontrolle enthält: die Substantia nigra (schwarze Substanz) und den Nucleus ruber (roter Kern). Beide motorischen Kerne dienen der Koordination der Bewegung und arbeiten mit dem Kleinhirn zusammen.

Ein Ausfall des schwarzen Kerns bewirkt Muskelstarre, Schüttelbewegungen der Hände, einen Ausfall der Mitbewegungen sowie psychische Störungen (Antriebsmangel oder Triebhandlungen). Die Nervenzellen der Substantia nigra bilden den Neurotransmitter Dopamin, der eine für die Motorik wichtige Substanz darstellt (die Parkinson-Krankheit beruht auf einer Degeneration dopaminerger Neurone im Bereich der Substantia nigra). Der Zustand der Formatio reticularis der Haube beeinflusst die Stimmungslage (vegetativ-affektives Verhalten). Eine Überfunktion bewirkt affektive Spannungszustände, eine Unterfunktion Erschöpfung und Depression.

 

Zwischenhirn

Das Zwischenhirn (Diencephalon) findet sich erst bei den frühen Säugetieren. Es liegt zwischen Stammhirn und Großhirn und enthält u.a. wichtige Schaltstellen:

 

Großhirn

Das Großhirn (Endhirn, Telencephalon) ist der jüngste und größte Teil des Gehirns. Es besteht aus den beiden Großhirnhälften (Hemisphären) mit der grauen Rinde (Kortex), die durch den Balken (Corpus callosum) miteinander verbunden sind, den Stammganglien (Basalganglien) und dem limbischen System, das sich phylogenetisch aus dem Riechhirn (Rhinencephalon) entwickelt hat.

Entwicklungsbiologisch unterscheidet man beim Großhirn zwei Teile:

  1. den Paläokortex als den phylogenetisch älteren Teil mit dem Riechhirn, den Basalkernen und dem limbischen System,

  2. den Neokortex (Großhirnrinde, Cortex cerebri) als dem entwicklungsgeschichtlich jüngeren Teil, in dem die höheren kognitiven Funktionen ablaufen.

Die Großhirnrinde stellt die äußere Schicht des Großhirns dar. Zur Vergrößerung der Gesamtfläche besteht der Kortex aus Windungen (Gyri) und Furchen (Sulci).

Der Neokortex umfasst 80% des Gesamthirnvolumens und umhüllt die anderen Teile des Gehirns wie ein Mantel. Alle spezifisch menschlichen Leistungen beruhen auf den Funktionen des Großhirns.

Die Großhirnrinde besteht u.a. aus folgenden Regionen, die hier nach den verarbeiteten sensorischen Informationen dargestellt werden:

Die Basalganglien sind eine Gruppe von Kernen, die im Zentrum der Großhirnhemisphären, in der Tiefe des Vorderhirns, liegen. Die drei wichtigsten Strukturen der Basalganglien sind der Nucleus caudatus und das Putamen (beide werden als Corpus striatum zusammengefasst) sowie der Globus pallidus.

Die Basalganglien dienen (ähnlich wie das Kleinhirn) der Steuerung der Motorik und stellen eine Umschaltstelle von und zur motorischen Großhirnrinde dar. Die Basalganglien haben neben der Bewegungssteuerung eine große Bedeutung für die Handlungsplanung und weisen Verbindungen zur Großhirnrinde, zum Thalamus, zur Substantia nigra und zum Kleinhirn auf.

Die Entwicklung von Zwangsstörungen hängt zumindest in bestimmten Fällen mit einer Beeinträchtigung der Basalganglien zusammen. Die bekannteste Störung der Basalganglien stellt die Parkinson-Krankheit dar.

Das limbische System (limbischer Kortex) ist für das Verständnis der neurobiologischen Ursachen von Gefühlen und Angstzuständen von entscheidender Bedeutung. Bei Untersuchungen an Tieren und Menschen konnte nachgewiesen werden, dass Angst durch die Reizung bestimmter Hirnareale, vor allem des limbischen Systems, entsteht. Das limbische System wird im folgenden näher beschrieben.

 

Das limbische System als Zentrum der Affekte

Das limbische System besteht aus einer Gruppe von miteinander verbundenen Gehirnstrukturen im Randgebiet zwischen dem Hirnstamm und dem Großhirn, d.h. es liegt im mediobasalen Hirnbereich. Es hat sich aus dem Riechhirn (Rhinencephalon, olfaktorischer Lappen) entwickelt und umringt den oberen Teil des Hirnstamms (limbus = Ring). Es weist einen äußeren Ring und einen inneren Ring auf.

Das limbische System im engeren Sinn umfasst folgende Teile: Amygdala (Mandelkern), Hippocampus, Mammilarkörper des Hypothalamus, Septum, Fornix, Gyrus cinguli (cingulärer Kortex) und Bulbus olfactorius. 

Die Fornix (Gewölbe) ist ein dickes Bündel von Nervenfasern, das verschiedene Teile des limbischen Systems (z.B. Hippocampus und Septum) miteinander verbindet. Im weiteren Sinn zählen noch zahlreiche andere Bereiche zum limbischen System.

Das limbische System steht in enger Verbindung mit vielen anderen Hirnregionen (frontaler Kortex, Hypothalamus, Thalamus, Stammganglien, Locus coeruleus und Formatio reticularis im Hirnstamm), sodass eine Vernetzung der angstaktivierenden Systeme gegeben ist. Das limbische System

Aus den gemachten Erfahrungen ist durch Speicherung der Informationen Lernen möglich, was auch für die Säugetiere gilt. Die eingehenden Informationen erhalten eine gefühlsmäßige Bewertung (z.B. angenehm - unangenehm), die entsprechenden Reaktionen erfahren eine gefühlsmäßige Färbung (z.B. Lust oder Unlust).

Die Gefühlsdimensionen des limbischen Systems stellen auf vorbewusster Ebene ein Bewertungs- und Belohnungssystem dar, das als Handlungs- und Entscheidungsregulativ in bestimmten Situationen dient. Ein spezieller Bereich des limbischen Systems, der mediobasale Schläfenlappen mit dem Hippocampus und der benachbarten Amygdala (Mandelkern), bestimmt das Angsterleben.

Im limbischen System befindet sich auch das Belohnungssystem, das verschiedene Gebiete umfasst (Area tegmentalis ventralis, mittleres Vorderhirnbündel, Nucleus accumbens und limbisches System selbst).

Das Belohnungssystem ist für die Entstehung des Suchtverhaltens von entscheidender Bedeutung. In diesen Zentren befinden sich Dopamin ausschüttende Neurone, die die spezifisch belohnungsgesteuerten sowie die Vermeidungsverhaltensweisen modulieren. Die Aktivität dieser dopaminergen Neurone wird von opioidergen, GABA-ergen und anderen Neuronen beeinflusst.

Nach neuesten Auffassungen gibt es kein klar umrissenes „emotionales Gehirn“, sondern mehrere Schaltungssysteme in zumeist starken Verbindungen zum Mandelkern, die die verschiedenen Emotionen, die möglicherweise in verschiedenen Teilen des Gehirns lokalisiert sind, miteinander verknüpfen und koordinieren. Die zukünftige Forschung wird vermutlich eine emotionale Kartierung des Gehirns vornehmen. 

 

Interaktionen der Hirnregionen bei Angstzuständen

Alle Gehirnteile arbeiten eng zusammen, sie sind miteinander vernetzt. Durch den Aufbau des Gehirns kann die jeweils untergeordnete Einheit von den darüberliegenden gelenkt, aber nicht ausgeschaltet werden.

Wir können durch vernünftiges Nachdenken (Großhirnleistung) unsere Gefühle (im limbischen Zentrum lokalisiert) in ihrer Art und Intensität verändern, jedoch nicht ausschalten. Umgekehrt ist unser Denken und Wahrnehmen stets auch von unseren Gefühlen und Stimmungen beeinflusst.

Bei Angstzuständen hat dies folgende Konsequenzen:

Gedanken und Gefühle hängen in ihrer Art und Stärke vom Grad der Wachheit ab (vom Stammhirn gesteuert). Bei zunehmender Müdigkeit oder medikamentös bewirkter Gefühlsdämpfung werden wir selbst bedrohlichen Situationen gegenüber gleichgültig. Entspannungsübungen reduzieren nicht nur die körperliche Anspannung, sondern auch die geistige Aufmerksamkeit, was im Sinne einer Einschlafhilfe geradezu angestrebt wird.

Mentale Techniken (autogenes Training, Hypnose, Selbsthypnose, Meditation) bewirken eine Wahrnehmungseinengung, eine Einschränkung der Aufmerksamkeit auf einen kleinen Bereich und damit ein Abschalten gegenüber den vielen im Moment irrelevanten inneren und äußeren Reizen.

Andererseits können unsere Gedanken und Gefühle auch unser Stammhirn aktivieren. Wir sind nicht zum Einschlafen müde genug, sondern hellwach, wenn beängstigende Gedanken sich abends im Bett aufdrängen.

Ohne unsere bewusste Aufmerksamkeit verarbeiten unsere Sinnesorgane alle Reize außerhalb und innerhalb unseres Körpers. Sobald etwas Ungewöhnliches passiert, wird über das ARAS unsere Aufmerksamkeit aktiviert und infolgedessen unser Denken, Fühlen und körperliches Reagieren in Gang gesetzt. Es kommt zu einer Alarm- oder Bereitstellungsreaktion. Der Körper wird in Bruchteilen einer Sekunde auf Reaktionsbereitschaft geschaltet, vermittelt über das motorische und autonome Nervensystem.

Sobald die äußere oder innere Gefahr identifiziert, beseitigt oder erträglich erscheint, lässt die Aktivierung der Aufmerksamkeit wieder nach. Es kommt zur Habituation (Gewöhnung) an die betreffenden Reize. Das ARAS wird gedämpft, wenn die Bedrohung abgewendet oder die angstmachende Situation als nicht mehr akut bedrohlich eingeschätzt wird. Die Wirkungsweise von Tranquilizern beruht u.a. genau auf dem Umstand, dass das Wachheitssystem in der Formatio reticularis vermindert wird.

Zwischen Angst und Gedächtnis besteht eine enge Beziehung. Bei der posttraumatischen Belastungsstörung zeigt sich das traumatische Wiedererinnern als Wiedererleben der extremen Bedrohungssituation. Angst ist häufig mit bildhaften Erinnerungen verknüpft, wodurch die Unmittelbarkeit emotionaler Reaktionen gewährleistet ist.

Ängstliche Personen und Angstpatienten verbinden kritische Situationen vorwiegend mit negativen Erfahrungen. Sie können bedrohliche Gedächtnisinhalte leichter abrufen als andere Menschen. Auch für diese Funktion, nämlich das „Abtasten“ der Gedächtnisspeicher zur Bewertung aktueller Informationen, kommt dem mediobasalen Schläfenlappen eine besondere Bedeutung zu.

 

Der Mandelkern im limbischen System als Angstzentrum

Die Forschungen der letzten Jahre brachten neue Erkenntnisse über die emotionalen Reaktionsweisen des Gehirns. Die Bedeutung des Mandelkerns (Amygdala) für das Erleben von Angst kann in dem sehr informativen Bestseller „Emotionale Intelligenz“ von Goleman sowie in dem allgemeinverständlichen Buch „Das Netz der Gefühle. Wie Emotionen entstehen“ von LeDoux, einem der führenden amerikanischen Neurowissenschafter, auf vielen Seiten nachgelesen werden.

An neurobiologischen Grundlagen der Angst Interessierten sind auch das Fachbuch „Furcht und Phobien“ von Hamm sowie das populär geschriebene Buch „Biologie der Angst. Wie aus Stress Gefühle werden“ von Hüther zu empfehlen.

Die Amygdalakerne sind von zentraler Bedeutung bei der Entstehung von Furcht und Angst. Der Mandelkern ist ein mandelförmiges Gebilde oberhalb des Hirnstamms, in der Nähe der Unterseite des limbischen Ringes. Da jede Hirnhälfte einen Mandelkern aufweist, gibt es zwei Mandelkerne. Die Mandelkerne des Menschen sind im Vergleich zu den höchstentwickelten Tieren, den Primaten, deutlich vergrößert.

Reize, die mit Gefahr verbunden sind, führen dazu, dass die Amygdala auf den Nucleus paraventricularis des Hypothalamus einwirkt, den Corticotropin-Releasing-Faktor (CRF) auszuschütten, um über das adrenokortikotrope Hormon (ACTH) der Hypophyse in der Nebennierenrinde die Ausschüttung der Steroidhormone (insbesondere Kortisol) zu bewirken.

Die Steroidhormone wirken über die Blutbahn auf das Gehirn zurück, wo sie sich an bestimmte Rezeptoren im Hippocampus, der Amygdala, dem präfrontalen Kortex und anderen Bereichen binden. Über diesen Feedbackmechanismus hemmt der Hippocampus die weitere Ausschüttung von CRF.

Das Verhältnis zwischen fördernden Wirkungen der Amygdala und von hemmenden Wirkungen des Hippocampus auf den Nucleus paraventricularis bestimmt das Ausmaß der weiteren Ausschüttung von CRF, ACTH und Steroidhormonen.

Nach früheren Auffassungen gehen alle sensorischen Informationen von den Sinnesorganen zum Thalamus und dann zu den sensorischen Verarbeitungsbereichen in der Großhirnrinde, wo die Signale zu den wahrgenommenen Reizen (Objekten) zusammengefügt und vom Neokortex auf ihre Bedeutung hin analysiert werden, anschließend gehen in Reaktion auf diese Bewertung Signale zur Amygdala zwecks Aktivierung der emotionalen Zentren des limbischen Systems. Demnach wäre die Reaktionsweise des Mandelkerns völlig von den Signalen der Großhirnrinde abhängig. 

Die Forschungen der letzten 10 Jahre haben zu der Erkenntnis geführt, dass nicht alle sensorischen Informationen vom Thalamus zum Neokortex weitergeleitet werden, sondern nur der Großteil, während ein kleiner, oft überlebenswichtiger Teil der sensorischen Informationen einen kürzeren Weg bis zur Reaktion des Organismus geht.

Der Neuropsychologe LeDoux machte in der zweiten Hälfte der 80er Jahre bei Versuchen zur Furchtkonditionierung von Ratten die revolutionäre Entdeckung, dass ein kleiner Teil der sensorischen Signale vom Auge oder Ohr nach der Aufnahme im Thalamus über eine einzige Synapse direkt zum Mandelkern geht, von wo aus der Körper alarmiert wird, ohne dass der Neokortex eingeschaltet wird.

Durch die direkte Verbindung zwischen Thalamus und Amygdala kann die Furchtreaktion sehr schnell aktiviert werden. Die Aktivierung der Amygdala über den Kortex dauert dagegen wesentlich länger.

Der Mandelkern kann schon auf Gefahrenreize reagieren, bevor eine bewusste Verarbeitung über die Großhirnrinde erfolgt ist und der Neokortex überhaupt weiß, was los ist. Die Alarmierung über den direkten Weg des Mandelkerns erfolgt zwar sehr schnell, ist jedoch ungenau und fehleranfällig. Der Mandelkern kann bereits zu einem Zeitpunkt emotionale Reaktionen auslösen, wo die Signale zwischen Mandelkern und Neokortex noch hin und her gehen. Der langsamer, aber vollständiger informierte Neokortex modifiziert anschließend die Reaktionen, wenn eine Überreaktion erfolgt sein sollte.

Die direkte Kurzschaltung vom Thalamus zum Mandelkern mit seiner raschen Ankurbelung von Emotionen ermöglicht in lebensbedrohlichen Situationen, wo es um Millisekunden geht, eine Sofortreaktion zur Sicherung des Lebens, war im Rahmen der Evolution von entscheidender Bedeutung und stellt in der Tierwelt eine zentrale Überlebenshilfe angesichts der vielen Feinde dar.

Derartige an sich sinnvolle Schreckreaktionen erleben wir auch während eines angenehmen Spaziergangs durch den Wald, wenn sich plötzlich auf dem Boden unter den abgefallenen Herbstblättern etwas zu bewegen beginnt bzw. wenn wir im ersten Moment einen Stock mit einer Schlange verwechseln, obwohl wir wissen, dass es bei uns keine giftigen Schlangen gibt.

Die Amygdala erhält Informationen von zahlreichen Ebenen der kognitiven Verarbeitung, die zu entsprechenden emotionalen Bewertungen und Reaktionen führen:

Die Amygdala weist gleichzeitig Projektionen zu vielen Bereichen des Gehirns auf: 

Hippocampus. Die Amygdala hat enge Verbindungen mit Langzeitgedächtniszentren wie dem Hippocampus und bestimmten Kortexbereichen, die bei der Speicherung von Informationen im Langzeitgedächtnis mit dem Hippocampus kooperieren. Dadurch können Langzeit-Erinnerungen aktiviert werden, die für die unmittelbar gegebenen Reize von emotionaler Bedeutung sind.

Sensorischer Kortex. Die Amygdala projiziert zu den Bereichen des sensorischen Kortex und kann dadurch die reizverarbeitende Rinde beeinflussen.

Präfrontaler Kortex. Über Verbindungen zum präfrontalen Kortex können die Abwehrzentren der Amygdala in Gefahrensituationen den Informationsgehalt des Arbeitsgedächtnisses sowie die Aufmerksamkeit und die Wahrnehmung beeinflussen.

Neben der direkten Beeinflussung aktiviert die Amygdala den Kortex auch in indirekter Weise über Verbindungen zu den Erregungssystemen im Gehirn, die die Wachsamkeit und Aufmerksamkeit und damit das Erregungsniveau des Kortex steuern.

Vier Erregungssysteme im Hirnstamm aktivieren bei neuen bzw. bedeutsamen Reizen den ganzen Bereich des Vorderhirns, indem die entsprechenden Axon-Endknöpfe jeweils einen  Neurotransmitter (Acetylcholin, Noradrenalin, Dopamin oder Serotonin) ausschütten. 

Ein fünftes Erregungssystem mit dem Neurotransmitter Acetylcholin befindet sich im Vorderhirn in der Nähe der Amygdala. Dieses Erregungszentrum besteht aus dem Basalkern und ist besonders wichtig. Bei Gefahr aktiviert die Amygdala den Basalkern, der im ganzen Kortex Acetylcholin ausschüttet.

Bei Tierversuchen führte die elektrische Reizung der Amygdala zu verstärkten  Angstreaktionen (Erhöhung von Puls- und Atemfrequenz, Blutdruckerhöhung, Erhöhung des Kortikosteronspiegels im Blut, erhöhte Schreckhaftigkeit, Unterbrechung der eben durchgeführten Verhaltensmuster).

Die Zerstörung der Amygdalakerne bewirkte angst- und furchtlose Tiere. Die angstreduzierende Wirkung einer beeinträchtigten Amygdala konnte beim Menschen durch gehirnchirurgische Eingriffe nachgewiesen werden.

In früherer Zeit wurden frontale Lobotomien durchgeführt, um sonst nicht behandelbare Angstzustände oder Temporallappenepilepsien in den Griff zu bekommen. Dabei wurden die anatomischen Verbindungen zwischen dem frontalen Kortex und dem limbischen System durchtrennt.

Auf diese Weise wurden zwar Ängste beseitigt, aber auch jedes differenzierte Gefühlserleben, sodass eine Affektverflachung festzustellen war. Angstdämpfende Substanzen, die die Amygdala beeinflussen, wirken spezifischer als Substanzen, die auf Gehirnregionen wirken, die nur Teilsymptome der Angst auslösen.

Der Ausfall des Hippocampus bewirkt ein totales Leben im Hier und Jetzt ohne Gedächtnis. Ein in der Fachliteratur oft zitierter Patient konnte sich an keine Ereignisse erinnern, die länger als einige Sekunden zurücklagen, war nicht in der Lage, neue Inhalte zu erlernen und konnte seine Identität nicht weiterentwickeln.

Die Entfernung des Mandelkerns führt zu einer Affektblindheit, d.h. zu einer Unfähigkeit, die emotionale Bedeutung von Ereignissen zu erfassen.

Mandelkern und Hippocampus, die tief im medialen Teil des Temporallappens liegen, waren die wichtigsten Teile des primitiven Riechhirns, aus dem sich im Rahmen der Evolution der Kortex und der Neokortex entwickelt haben. Im Hippocampus, einer langgestreckten Gehirnstruktur unterhalb der beiden Schläfenlappens, erfolgt die Speicherung von Informationen, im Mandelkern deren emotionale Bewertung und Färbung.

In der Speicherung von Erfahrungen arbeiten die Amygdala und der Hippocampus eng zusammen. Eine angstvolle Erfahrung (ein Autounfall bei einer Linkskurve, ein Raubüberfall in einem Park, eine Vergewaltigung in einem Urlaubsort) wird derart gespeichert, dass im Hippocampus die realen Gegebenheiten, die nüchternen Fakten, festgehalten werden, während im Mandelkern die emotionalen Begleitreaktionen aufbewahrt werden. Das Furchtgedächtnis des Gehirns arbeitet nach den Prinzipien der klassischen Konditionierung.

Die enge Verknüpfung des Hippocampus mit den übrigen Strukturen des limbischen Systems weist auf die emotionale Färbung aller Lern- und Gedächtnisprozesse hin. Wir merken uns, was uns wichtig ist. Dies gilt für positive und negative Erfahrungen (z.B. angsterregende Situationen, deprimierende Misserfolge).

Übermäßige Angst kann aufgrund der ausgelösten psychovegetativen Reaktionen Lernprozesse hemmen. Extremer Stress (massive Ausschüttung von Nebennierensteroiden), wie dieser z.B. bei einer posttraumatischen Belastungsstörung vorkommt, kann sogar zu Störungen im Langzeitgedächtnisspeicher und damit zu Gedächtnisausfällen führen, weil die Zellen und Dendriten des Hippocampus zu verkümmern beginnen.

LeDoux  unterscheidet zwei Gedächtnisarten:

  1. Das deklarative bzw. explizite Gedächtnis, das im Hippocampus zentriert ist, wird vom Bewusstsein gesteuert.

  2. Das emotionale bzw. implizite Gedächtnis, dessen Schlüsselinstanz die Amygdala darstellt, wird von Signalen aus der Umwelt gesteuert und läuft ohne Bewusstheit ab. Ein Umweltsignal wird unbewusst als Angstreiz erkannt, was zur Angstreaktion und Adrenalinausschüttung führt. Das implizite Gedächtnis, das auch subkortikal entstandene Furchtkonditionierungen enthält, ist der Grund dafür, dass wir uns vor bestimmten Reizen fürchten, ohne dass wir ein auslösendes Ereignis kennen.

Das Arbeitsgedächtnis, d.h. das bewusste Gegenwartserleben, verbindet die blassen und affektlosen Erinnerungen des expliziten (Langzeit-)Gedächtnisses an ein traumatisches Ereignis mit den emotionalen Erinnerungen des impliziten Gedächtnisses. Es kommt zu einer einheitlichen Erfahrung: die emotional-lebendige Erinnerung führt zu einer Panikreaktion, als ob das traumatische Ereignis eben stattfinden würde.

Das Septum-Hippocampus-System ist ebenfalls an der Entstehung von Angst zentral beteiligt, weshalb eine entsprechende medikamentöse Dämpfung angstlindernd wirkt. Die Zerstörung dieser Struktur bewirkt eine Angstlosigkeit. Dieses System wird durch die vom Locus coeruleus ausgehenden Noradrenalinneurone sowie durch serotonerge Neurone aktiviert. Anxiolytika reduzieren die Aktivität der noradrenergen und serotonergen Projektionen zum Septum-Hippocampus-System.

Der mediobasale Schläfenlappen und die zugeordneten limbischen Hirnstrukturen sind jene Hirngebiete, die mit der Integration von Wahrnehmungen und Gedächtnisvorgängen sowie mit der emotionalen und vegetativ-endokrinen Steuerung zu tun haben. Durch Ableitungen über Tiefenelektroden, die in den Kopf eingeführt werden, wurde nachgewiesen, dass eine abnorme Aktivität in bestimmten Schläfenlappengebieten oft zu akuter Angst führt.

Nach Strian steht bei einer abnormen Aktivität des mediobasalen Schläfenlappens Angst im Vordergrund, gefolgt von komplexen Wahrnehmungsmustern (z.B. bildhaft-traumhaften Erlebnissen), stereotypisierten Verhaltensweisen (z.B. mimische und gestische Bewegungen), vegetativen Missempfindungen (z.B. Herzklopfen und Schwitzen), Änderungen des Bewusstseins (z.B. Fremdheits- und Vertrautheitsgefühl, Dämmerzustände) und starken Emotionen (z.B. große Angst, ekstatische Freude).

Diese Phänomene können bei hirnorganischen Störungen (komplexen partiellen epileptischen Anfällen), bei direkter Reizung dieser Hirnstrukturen oder bei Ängsten auftreten.

Die Bedeutung des limbischen Systems für die Angstentstehung konnte durch neuere Untersuchungsmethoden wie die Positronenemissionstomographie (PET) bestätigt werden (z.B. verstärkte Durchblutung im Temporallappenbereich bei gesunden Personen in Erwartung eines schmerzvollen Elektroschocks).

„Präkognitive Emotionen“ , d.h. dem Denken vorauseilende Emotionen, beruhen auf bruchstückhaften sensorischen Informationen, die noch nicht vollständig analysiert und als bestimmte Objekte erkannt worden sind. Sobald der Mandelkern ein relevantes sensorisches Muster erahnt, reagiert er sofort mit einer Aktivierung des Körpers, ohne eine Bestätigung abzuwarten.

Diese Reaktionsbereitschaft bleibt auch dann erhalten, wenn man Furchtlosigkeit und rational richtiges Denken anstrebt und eintrainiert, weil es sich einfach um ein biologisch vorgegebenes Programm handelt.

Die Überreaktion der Amygdala kann durch kortikale Mechanismen kontrolliert werden. Der präfrontale Kortex (Präfrontallappen) kann nach genauen Analysen und Bewertungen der jeweiligen Situationen das eingeleitete emotionsaktivierende Programm des Mandelkerns stoppen, wenn die Reizsituation als ungefährlich bewertet wird. Er kann auch dazu verhelfen, trotz vorhandener Angst oder Wut bestimmte Situationen effektiver zu bewältigen.

Eine elegantere Dämpfung der Mandelkernreaktionen besteht jedoch in weniger ängstigenden Sichtweisen, weil angsterzeugende Denkmuster unkontrollierte Emotionen erst recht provozieren. Abgesehen von emotionalen Krisen, wo durch die Kurzschaltung zwischen Thalamus und Mandelkern eine sofortige und massive Körperreaktion ausgelöst wird, bleibt im Normalfall noch ausreichend Zeit, dass der präfrontale Kortex eine Bewertung der eingehenden sensorischen Informationen vornehmen und damit auch die emotionalen Reaktionen steuern kann.

Wenn das Fühlen durch das Denken gesteuert wird, kommt es zu einem kontrollierteren emotionalen Erleben. Freude nach getaner Arbeit, Zufriedenheit nach einem Sieg, Traurigkeit nach einem Verlust oder Ärger über die Äußerungen eines anderen Menschen sind nur nach Bewertungsvorgängen im Neokortex möglich.

Ein einziges Neuron stellt die Verbindung zwischen Mandelkern und Präfrontalkortex her. Es mündet in den Bereich des orbitofrontalen Kortex, der als die entscheidende Stelle zur Bewertung und Kontrolle der emotionalen Reaktionen gilt.

Der orbitofrontale Kortex reguliert über ein dichtes Netz von Nervenbahnen zum limbischen System die emotionalen Reaktionen. Aus Studien ist bekannt, dass die Emotionskontrolle durch den linken Präfrontallappen erfolgt, während der rechte präfrontale Kortex als Sitz negativer Gefühle (z.B. Furcht und Aggression) gilt.

Der linke Präfrontallappen hemmt vermutlich den rechten Präfrontallappen. Wenn der linke Präfrontallappen ausfällt (z.B. Beschädigung durch einen Schlaganfall), kommt es zu unkontrollierten Sorgen und Ängsten sowie zu emotionalen Ausfälligkeiten. Emotionale Entgleisungen hängen demnach mit zwei Faktoren zusammen: einerseits mit einer raschen Auslösung über den Mandelkern, andererseits mit dem Ausfall der Kontrollfunktionen des linken Präfrontallappens.

Nach den Erkenntnissen von LeDoux können emotionale Reaktionen und emotionale Erinnerungen ohne bewusste kognitive Beteiligung entstehen, d.h. ohne den Umweg vom Thalamus zum Neokortex.

Der Mandelkern kann sowohl Erinnerungen aufbewahren als auch Reaktionsmuster auslösen, ohne dass wir davon wissen. In bezug auf Angstzustände bedeutet dieser Umstand, dass wir auf etwas angstvoll reagieren können, ohne dass wir wissen, warum dies so ist. Viele Angstreaktionen wurden durch klassische Konditionierung unterhalb der Wahrnehmungsschwelle erworben.

Bei Menschen mit Angststörungen (insbesondere mit posttraumatischer Belastungsstörung) wird aufgrund von Lernerfahrungen, die durch klassische Konditionierung erklärt werden können, durch bestimmte Sinnesreize (Bilder, Töne, Geräusche, Gerüche, Körperempfindungen usw.) eine massive körperliche Aktivierung ausgelöst, die in der aktuellen Situation unnötig ist.

Einschneidende emotionale Erlebnisse werden bereits von frühester Kindheit an im Mandelkern gespeichert, längst bevor eine verbale Kodierung möglich ist. Auf diese Weise ist leicht erklärbar, wie frühe Lebenserfahrungen eine prägende Bedeutung gewinnen können, ohne dass die Betroffenen darum wissen und ihre emotionalen Erinnerungen in Worte fassen können. 

Durch Projektionen von Bildern mit Hilfe eines Tachistoskops, das die Einstellung der Projektionsdauer und damit eine subliminare Wahrnehmung ermöglicht, können Ängste oder andere Reaktionen angesichts von nicht bewusst wahrgenommenen Bildern erzeugt werden, die auch später wieder auftreten (z.B. Abneigungen oder Vorlieben bei Wahlmöglichkeiten), ohne dass die Betroffenen darum wissen. Unterschwellige Projektionen von Schlangen mit Hilfe des Tachistoskops bewirkten bei Schlangenphobikern einen messbaren Schweißausbruch, der auf Angst schließen lässt, obwohl diese erklärten, nichts zu sehen. Der Schweißausbruch trat auch bei sichtbar projizierten Schlangenbildern auf, obwohl die Betroffenen erklärten, keine Angst zu haben.

Erlebnisse mit starker Mandelkernerregung stellen besonders unauslöschliche Erinnerungen dar. Dies gilt sowohl für emotional positive Erlebnisse (z.B. intensive Liebesgefühle, große Erfolgserlebnisse) als auch für emotional sehr belastende Erfahrungen (z.B. traumatische Ereignisse wie Unfall, Misshandlung oder Vergewaltigung). Diese Erfahrung kann sogar durch weniger wirklichkeitsnahe psychologische Experimente bestätigt werden.

Eine emotional belastende und unangenehme Geschichte wurde zwei Gruppen von Teilnehmern vorgelesen, von denen eine den Beta-Blocker Propranolol (Inderal®, Dociton®) erhielt, der die Rezeptoren jener Zellen blockiert, auf die die Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin reagieren, die als Auslöser der Kampf-Flucht-Reaktion bekannt sind. Bei einem Gedächtnistest eine Woche später zeigte sich, dass die Gruppe mit dem Beta-Blocker wohl die harmlosen Details, nicht jedoch die beunruhigenden Teile der Geschichte angemessen erinnerte. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass die Blockade der Stresshormone die emotionale Erinnerung verhinderte.

Der Mandelkern ist wichtig zur Erinnerung an Situationen und Ereignisse, vor denen man sich zurecht fürchten soll. Ohne diese Fähigkeit zur Furcht und ohne die Aktivierung der unauslöschlich gespeicherten, real oder subjektiv oft existenzgefährdenden Erfahrungen wäre das menschliche Leben oft dem Tode geweiht. Die Amygdala enthält gleichzeitig auch die typischen Angsterfahrungen fest, deretwegen sich viele Menschen in psychotherapeutische Behandlung begeben, weil sie ständig davon geplagt sind.

Aus den angeführten Erkenntnissen ergibt sich für die Psychotherapiepraxis die Schlussfolgerung, dass angstvolle Erlebnisse, die ständig unangenehm erinnert werden, am besten überwunden werden können, wenn sie im therapeutischen Kontext zuerst gezielt aktiviert und dann durch neue, positivere Emotionen korrigiert werden.

Traumatische Erinnerungen (z.B. Unfall, Panikattacken) können viel besser durch neue emotionale Erfahrungen in ähnlichen Situationen im Rahmen einer Konfrontationstherapie überwunden werden als durch abstrakt-intellektuelles Analysieren und Nachdenken über die Hintergründe. Wenn die Angstinhalte jedoch immer wieder neu vergegenwärtigt werden und keine Generalisierung der positiven Erfahrungen in bestimmten Situationen erfolgt, sind auch kognitive Interventionen erforderlich.

Als durchaus gleichwertig können Lernerfahrungen im Therapieraum gelten, wenn sie imstande sind, die relevanten emotionalen Erinnerungen auszulösen und zu korrigieren. Dies erfolgt durch bestimmte erlebnisaktivierende Übungen, wie sie von verschiedenen Psychotherapiemethoden (Verhaltenstherapie, Gestalttherapie, Hypnotherapie, Psychodrama, katathym-imaginative Psychotherapie u.a.) eingesetzt werden.

Die psychoanalytische Therapie versucht traumatische Erfahrungen durch emotionales Wiedererleben im Rahmen der „Übertragung“ zu provozieren und zu bearbeiten.

Furchtkonditionierungen können durch Einsicht (Kontrolle durch den medialen präfrontalen Kortex) und durch konfrontative Übungen (Gewöhnung an die phobischen Reize) in ihrem verhaltensbezogenen Ausdruck gehindert werden, sind dadurch aber nicht gelöscht. Die konditionierte Furchtreaktion kann zwar durch bestimmte geistige Einstellungen und positive Lebenserfahrungen unterbunden werden, die impliziten Erinnerungen bleiben jedoch trotz einer erfolgreichen Psychotherapie weiterhin im Mandelkern gespeichert.

Extreme psychosoziale Belastungen oder ein Trauma (z.B. Unfall, Überfall, Tod eines nahen Angehörigen, schwere körperliche Erkrankung) können die aus dem Verhalten eliminierte Furchtreaktion rasch wieder aktualisieren und ein ausgeprägtes phobisches Vermeidungsverhalten begünstigen, das schon als überwunden galt.

Die Hoffnung, dass eine Konfrontationstherapie oder eine andere Form von Psychotherapie einen Menschen mit Panikstörung oder posttraumatischer Belastungsstörung lebenslänglich immun gegen die einmal aufgetretenen Ängste macht, ist trügerisch. Hilfreich ist dagegen die Sichtweise, dass man zwar nicht die impliziten Erinnerungen, die vielen Angststörungen zugrunde liegen, loswird, wohl aber die phobischen Vermeidungsreaktionen.

Über die in der Amygdala gespeicherten angstvollen Erinnerungen kann man jedoch eine mentale Kontrolle derart gewinnen, dass man zumindest in guten Phasen des Lebens damit umgehen kann. Dies weist auch darauf hin, dass man im Rahmen einer Angstbewältigungstherapie nicht nur die Ängste bekämpfen, sondern auch viele positive Erfahrungen vermitteln sollte, die das Vertrauen der Patienten in sich selbst, in die Zukunft und in die soziale Umwelt stärken. Bessere Ressourcen vermitteln wieder die Kraft, mit einer Angststörung besser umgehen zu können.

Menschen mit Angststörungen, die ihre emotionalen Reaktionen in Angstsituationen als persönliches Versagen bewerten, streben oft das Ziel eines angstfreien Lebens an.

Das Verständnis für die Funktionsweise des Mandelkerns kann zu der Einsicht verhelfen, dass die erste, biologisch gesteuerte Angstreaktion mit starker körperlicher Aktivierung (beschleunigter Herzschlag, Veränderung der Atmung, muskuläre Anspannung, flaues Gefühl im Magen usw.) in bedrohlich erscheinenden Situationen kognitiv und willentlich nicht verhindert werden kann, wohl aber durch eine veränderte Reaktion darauf leichter überwunden werden kann.

Die Ausführungen von Goleman und LeDoux über die Funktionsweise des Mandelkerns zeigen auf, warum das Ziel der Angstfreiheit aus biologischen Gründen überhaupt nicht möglich und sinnvoll ist.

Der Mandelkern als Speicher der emotionalen Erinnerungen prüft und vergleicht die aktuellen Erfahrungen mit früheren Erlebnissen. Bei Ähnlichkeiten irgendwelcher Art wird sofort die rasche und direkte Kurzschaltung vom Thalamus zum Mandelkern ohne Umweg über den Kortex aktiviert. Erst anschließend erkennt der Verstand, dass eine derart massive Reaktion unnötig war.

Wir zahlen mit vielen unnötigen Angstreaktionen zwar einen großen Preis für den Mechanismus der Amygdala, doch sichert er unser Überleben in gefährlichen Situationen, wo das Denken nicht rasch genug ist.

Zugegebenermaßen bleibt es für Menschen, die das irreale Ziel der totalen Kontrolle über alle körperlichen Reaktionen weiterhin aufrechterhalten, ein Ärgernis, von subkortikalen Mechanismen gesteuert zu werden.